Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegeunfall – innerer Zusammenhang – Handlungstendenz – selbstgeschaffene Gefahr – fahrlässige Verkehrsgefährdung – strafgerichtliche Verurteilung

 

Leitsatz (amtlich)

Der Unfallversicherungsschutz auf dem Weg zur Arbeitsstätte wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Versicherte aufgrund seiner Fahrweise wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung bestraft wird, auch wenn der Unfall auf dieser Verhaltensweise beruht (Abgrenzung zu BSG vom 11.10.1994 – 9 RV 8/94 = BSGE 75, 180 = SozR 3-3200 § 81 Nr 12).

Stand: 12. Februar 2001

 

Normenkette

RVO § 550 Abs. 1, § 539 Abs. 1 Nr. 14 Buchst. c; StGB § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b, Abs. 3 Nr. 2; RVO § 548 Abs. 3

 

Beteiligte

Verwaltungs-Berufsgenossenschaft

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 25.08.1999; Aktenzeichen L 3 U 252/97)

SG Koblenz (Entscheidung vom 23.07.1997; Aktenzeichen S 2 U 61/97)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. August 1999, das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 23. Juli 1997 sowie der Bescheid der Beklagten vom 8. Oktober 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 1997 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger wegen der Folgen des am 16. Juni 1993 erlittenen Arbeitsunfalls zu entschädigen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits in allen drei Rechtszügen zu erstatten.

 

Gründe

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Verkehrsunfall des Klägers vom 16. Juni 1993 als Arbeitsunfall zu entschädigen ist.

Der Kläger erlitt am 16. Juni 1993 auf dem Weg von seiner Wohnung zur Meisterschule bei der Handwerkskammer Koblenz, wo er einen vom Arbeitsamt als Fortbildungsmaßnahme geförderten Vorbereitungslehrgang zur Meisterprüfung besuchte, einen Verkehrsunfall. Er überholte mit seinem Motorrad in einer langgezogenen, unübersichtlichen Rechtskurve mehrere Fahrzeuge und stieß dabei mit einem entgegenkommenden Pkw zusammen, wobei er sich erheblich verletzte. Wegen dieses Vorfalls wurde der Kläger durch das rechtskräftige Urteil des Amtsgerichts Montabaur (AG) vom 9. Dezember 1993 wegen fahrlässiger Gefährdung des Straßenverkehrs zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 35,00 DM gemäß § 315c Abs 1 Nr 2 Buchst b, Abs 3 Nr 2 des Strafgesetzbuchs (StGB) verurteilt.

Nach Beiziehung der Strafakten lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 8. Oktober 1996 die Anerkennung des Ereignisses vom 16. Juni 1993 als Arbeitsunfall ab, weil sich der Kläger durch sein verkehrswidriges Verhalten von der versicherten Tätigkeit gelöst habe. Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers waren erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. Januar 1997, Urteile des Sozialgerichts Koblenz ≪SG≫ vom 23. Juli 1997 und des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz ≪LSG≫ vom 25. August 1999).

Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der erforderliche innere Zusammenhang zwischen dem zurückgelegten Weg und der versicherten Tätigkeit iS des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c der Reichsversicherungsordnung (RVO) könne nicht festgestellt werden, da der Kläger das Unfallereignis durch eine strafbare Handlung herbeigeführt habe; dieses Verhalten des Klägers sei als alleinige Ursache des Unfallereignisses anzusehen. Der Kläger habe fahrlässig sowohl grob verkehrswidrig als auch rücksichtslos gehandelt, da er sich aus Gleichgültigkeit auf seine Pflichten als Fahrer nicht besonnen habe oder aus eigensüchtigen Beweggründen Hemmungen nicht habe aufkommen lassen und unbekümmert um die Folgen „drauflos gefahren” sei. Eine strafrechtliche Verurteilung nach § 315c Abs 1 Nr 2 Buchst b, Abs 3 Nr 2 StGB schließe einen inneren Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Zurücklegen des Weges aus, weil nicht mehr die vom Unfallversicherungsschutz umfaßten allgemeinen Verkehrsgefahren als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen seien, sondern allein das – wenn auch fahrlässige – grob verkehrswidrige Verhalten des Versicherten im Verkehr. In diesem Fall sei auch ein fahrlässiges Verhalten ausreichend, weil sich der Kläger eigensüchtig über elementare Regeln und Vorschriften des Straßenverkehrs hinweggesetzt habe. Selbst wenn es ihm dabei darum gegangen sein sollte, die Arbeitsstelle möglichst schnell zu erreichen, wofür nichts vorgetragen oder erkennbar sei, läge darin kein den Versicherungsschutz begründendes Interesse, das höher zu bewerten wäre als die Sicherheit des Straßenverkehrs. Der Senat habe keine eigenen Ermittlungen und Beweiswürdigungen vornehmen müssen, weil sich die rechtsstaatlichen Grundsätze des Strafverfahrens, insbesondere der Grundsatz „in dubio pro reo”, zugunsten des Klägers ausgewirkt hätten. Seine Behauptung, er habe nicht rücksichtslos gehandelt, werde im Strafverfahren abschließend geprüft und entschieden.

Mit seiner – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen § 548 Abs 1 Satz 1 und Abs 3 iVm § 550 Abs 1 RVO. Seine Handlungstendenz sei allein darauf gerichtet gewesen, den Schulungsort rechtzeitig zum Beginn des Unterrichts zu erreichen. Bei seinem Unfall sei er dem vom Wegeunfallversicherungsschutz umfaßten straßenverkehrstypischen Risiko erlegen. Zwar sei dieses Risiko durch sein Verhalten beim Überholen möglicherweise erhöht gewesen, jedoch habe es sich dabei nicht um ein neues verkehrsfremdes Risiko gehandelt. Bei einer „selbstgeschaffenen Gefahr” sei der Kausalzusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall jedoch nur dann ausgeschlossen, wenn die erhöhte Gefahr aus betriebsfremden Motiven herbeigeführt werde; bei Verfolgung betriebsbezogener Zwecke sei der Zusammenhang selbst dann vorhanden, wenn der Unfall in hohem Maße selbstverschuldet sei.

Aus seiner Verurteilung wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung lasse sich nichts anderes ableiten. Zwar habe das Bundessozialgericht (BSG) in seiner – in der Literatur heftig kritisierten – Entscheidung vom 11. Oktober 1994 – 9 RV 8/94 – die Ansicht vertreten, durch die rechtskräftige Verurteilung nach § 315c Abs 1 Nr 2 Buchst b Abs 3 Nr 1 StGB sei erwiesen, daß sich der Versicherte im Straßenverkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos verhalten habe, somit Eigensucht als privates Motiv für den Überholvorgang und damit als alleinige Ursache für den Unfall bewiesen sei. Dem könne indes nicht gefolgt werden, da Rücksichtslosigkeit nicht mit eigensüchtigem Verhalten gleichgesetzt werden könne. Außerdem sei er lediglich wegen fahrlässiger Straßenverkehrsgefährdung verurteilt worden; fahrlässiges Verhalten im Straßenverkehr führe nach den im Unfallversicherungsrecht geltenden Grundsätzen weder zur Lösung von der betrieblichen Tätigkeit noch zum Haftungsausschluß.

Folge der Senat dem nicht, werde eine Verletzung der Untersuchungsmaxime nach § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gerügt. Das LSG habe sich an die Tatsachenfeststellungen des AG gebunden gefühlt und daher keine eigenen Ermittlungen dazu angestellt, wie es zu dem Unfall gekommen sei und welche Motive ihn bei dem Überholvorgang geleitet hätten. Dabei habe es jedoch übersehen, daß das Strafgericht lediglich Feststellungen hinsichtlich Schuldform und Rechtsfolge getroffen habe.

Der Kläger beantragt,

  1. das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. August 1999 sowie das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 23. Juli 1997 aufzuheben,
  2. die Beklage unter Aufhebung des Bescheides vom 13. August 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 1997 zu verurteilen, seinen Unfall vom 16. Juni 1993 als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen,

    hilfsweise,

    das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. August 1999 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

II

Die Revision des Klägers ist begründet. Er hat entgegen der Auffassung der Vorinstanzen am 16. Juni 1993 einen Arbeitsunfall erlitten, den die Beklagte zu entschädigen hat.

Der Anspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, weil der von ihm geltend gemachte Arbeitsunfall vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).

Arbeitsunfall ist nach § 548 Abs 1 Satz 1 RVO ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet. Nach § 550 Abs 1 RVO gilt als Arbeitsunfall auch ein Unfall auf einem mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Allerdings hat der Gesetzgeber nicht schlechthin jeden Weg unter Versicherungsschutz gestellt, der zur Arbeitsstätte hinführt oder von ihr aus begonnen wird. Vielmehr ist es nach § 550 Abs 1 RVO darüber hinaus erforderlich, daß der Weg mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängt, also ein innerer Zusammenhang zwischen dieser und dem Weg besteht. Dieser innere Zusammenhang setzt voraus, daß der Weg, den der Versicherte zurücklegt, wesentlich dazu dient, den Ort der Tätigkeit oder nach Beendigung der Tätigkeit die eigene Wohnung oder einen anderen Endpunkt des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu erreichen. Maßgebend ist dabei die Handlungstendenz des Versicherten, so wie sie insbesondere durch die objektiven Umstände des Einzelfalls bestätigt wird; fehlt es an einem solchen inneren Zusammenhang, scheidet ein Versicherungsschutz selbst dann aus, wenn sich der Unfall auf derselben Strecke ereignet, die der Versicherte auf dem Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit gewöhnlich benutzt (BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 4 mwN und zuletzt BSG Urteil vom 17. Februar 1998 – B 2 U 1/97 R – = USK 9850). Für die tatsächlichen Grundlagen des Vorliegens versicherter Tätigkeit muß der volle Beweis erbracht werden, das Vorhandensein versicherter Tätigkeit also sicher feststehen (vgl BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr 70; BSGE 61, 127, 128 = SozR 2200 § 548 Nr 84 mwN), während für die kausale Verknüpfung zwischen ihr und dem Unfall die hinreichende Wahrscheinlichkeit genügt (vgl BSGE 58, 80, 82 = SozR 2200 § 555a Nr 1 mwN).

Als Teilnehmer an einer beruflichen Fortbildungsmaßnahme gehörte der Kläger gemäß § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst c RVO zum gegen Unfall versicherten Personenkreis; dieser Unfallversicherungsschutz erstreckte sich gemäß § 550 Abs 1 RVO auch auf Wege zum und vom Schulungsort (Meisterschule). Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen und damit für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG befand sich der Kläger zum Unfallzeitpunkt auf dem (direkten) Weg zur Meisterschule. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen bestand dabei auch ein innerer Zusammenhang zwischen dem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit.

Bei der Feststellung dieses inneren Zusammenhangs geht es um die Ermittlung der Grenze, bis zu welcher der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung reicht, und nicht um eine Frage der Kausalität im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne. Es ist wertend zu entscheiden, ob das Handeln des Versicherten zur versicherten Tätigkeit oder – wie hier – zum Weg zur Arbeitsstätte bzw zum Schulungsort gehört (BSGE 58, 76, 77 = SozR 2200 § 548 Nr 70; BSG SozR 3-2200 § 550 Nr 14). Hierzu ist eine wesentliche sachliche Verbindung der Verrichtung mit der versicherten Tätigkeit erforderlich. Diese fehlt etwa dann, wenn der Versicherte den Weg zur Arbeitsstelle für zum Erreichen dieses Zieles nicht dienliche Zwecke nutzen will, wozu etwa eine Selbsttötung durch Verursachung eines Verkehrsunfalls (vgl BSGE 58, 76, 77 = SozR aaO), die Veranstaltung eines Wettrennens oder der Zeitgewinn zur Erledigung privater Einkäufe durch Schnellfahren (vgl Schur SGb 2000, 408) gehören würden.

Das Befahren der Straße in Richtung Meisterschule mit dem Motorrad war zum Erreichen dieses Zieles dienlich; die Wahl des Verkehrsmittels steht dem Versicherten grundsätzlich frei, auch wenn dies im Einzelfall eine erhöhte Gefahr gegenüber der Benutzung eines anderen möglichen Verkehrsmittels (etwa Bahn oder Bus) eine statische Gefahrerhöhung mit sich bringt. Auch der Überholvorgang in der unübersichtlichen, langgezogenen Kurve, bei dem sich der Unfall ereignete, diente noch diesem Zweck, da mit ihm ein Teil der Wegstrecke zum Schulungsort zurückgelegt werden sollte. Daß die allgemeine Verkehrsgefahr, die für den Kläger auf der Fahrt zum Schulungsort bestand, durch diesen Überholvorgang erheblich erhöht wurde, machte diese Handlung des Klägers noch nicht zu einer privaten, betriebsfremden und damit unversicherten Tätigkeit.

Allerdings stimmte diese Fahrweise des Klägers mit der Rechtsordnung nicht überein. Dadurch wird der Versicherungsschutz indes noch nicht in Frage gestellt. Denn verbotswidriges Handeln schließt nach § 548 Abs 3 RVO die Annahme eines Arbeitsunfalls nicht aus, selbst wenn bei einem nicht rechtswidrigen Handeln der Unfall nicht eingetreten wäre (BSG SozR 2200 § 548 Nr 22). Die Rechtsprechung des BSG hat dementsprechend in zahlreichen Fällen ein verbotswidriges Handeln im Rahmen der versicherten Tätigkeit als unschädlich für den Versicherungsschutz erachtet (zB zu schnelles Motorradfahren BSGE 6, 164, 169; Abspringen von einem fahrenden Verkehrsmittel BSGE 43, 15, 18 = SozR 2200 § 550 Nr 21; Fahren ohne Führerschein mit überhöhter Geschwindigkeit BSGE 25, 161, 164 = SozR Nr 1 zu § 557 RVO aF; Fahren auf polizeilich gesperrter Straße SozR Nr 10 zu § 543 RVO aF; versuchte Landung eines Flugzeuges im Nebel SozR 2200 § 548 Nr 60).

Eine mit dem verbotswidrigen Überholen verbundene, auf betriebsfremde Zwecke gerichtete Handlungstendenz des Klägers hat das LSG indes nicht festgestellt. Es hat lediglich unter Bezugnahme auf das Urteil des AG dargelegt, eine strafrechtliche Verurteilung nach § 315c Abs 1 Nr 2 Buchst b, Abs 3 Nr 2 StGB schließe einen inneren Zusammenhang zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Zurücklegen des Weges aus, weil nicht mehr die vom Unfallversicherungsschutz umfaßten allgemeinen Verkehrsgefahren als wesentliche Bedingung für den Unfall anzusehen seien, sondern allein das – wenn auch fahrlässige – grob verkehrswidrige Verhalten. Dieser Auffassung vermag sich der Senat nicht anzuschließen.

Die bloße Strafbarkeit des Verhaltens, das zum Unfall führt, kann nach der aus § 548 Abs 3 RVO zu erkennenden Wertung des Gesetzgebers nicht zum Verneinen des inneren Zusammenhangs und damit zum Verlust des Versicherungsschutzes überhaupt führen, auch wenn das strafbare Verhalten als wesentliche Ursache des Unfalls anzusehen ist. Dies wird auch aus der Regelung in § 554 Abs 1 RVO deutlich, nach der in dem Fall, daß der Verletzte den Arbeitsunfall beim Begehen einer Handlung, die nach rechtskräftigem strafgerichtlichen Urteil ein Verbrechen oder vorsätzliches Vergehen ist, erlitten hat, die Leistungen ganz oder teilweise versagt werden können. Damit wird vorausgesetzt, daß der Unfallversicherungsschutz bei diesen – qualifiziert strafbaren – Handlungen grundsätzlich zuerst einmal bestehenbleibt, der innere Zusammenhang zwischen dem zum Unfall führenden Verhalten und der versicherten Tätigkeit also durch dieses Verhalten nicht automatisch entfällt, sondern vielmehr gegeben sein kann und erst die Entschädigung im Wege des pflichtgemäßen Ermessens des Unfallversicherungsträgers gekürzt oder ganz versagt werden kann. Diese Wertung ist bei der Untersuchung, wie weit der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Unfallversicherung im Bereich auch der Wegeunfallversicherung reicht, zu berücksichtigen. Dies gilt auch für die Regelung des § 553 Satz 1 RVO, nach welcher (erst dann) kein Entschädigungsanspruch besteht, wenn der Verletzte den Arbeitsunfall absichtlich verursacht, dh diesen Erfolg als Ziel seines Handelns erstrebt hat (s bereits BSGE 1, 150, 155). Aus der Gesamtsicht dieser Regelungen folgt, daß jedenfalls ein fahrlässiges strafbares Handeln nicht zum Wegfall des inneren Zusammenhangs im obigen Sinne und damit des Unfallversicherungsschutzes führen muß.

Erforderlich ist für das Entfallen des inneren Zusammenhangs aufgrund des Vorliegens einer strafbaren Handlung vielmehr – wie auch sonst –, daß die Handlungstendenz des Versicherten bei einem solchen Verhalten auf einen betriebsfremden Zweck gerichtet ist. Daß seine Handlungsweise als grob verkehrswidrig und rücksichtslos iS des § 315c Abs 1 Nr 2 StGB und – daraus gefolgert – „eigensüchtig” zu qualifizieren ist, kann demnach hierfür nicht ausreichen. Denn der Bezug zum Zurücklegen des Weges, dem betrieblichen Zweck, wird dadurch nicht aufgehoben. Es handelt sich vielmehr weiterhin um ein Verkehrsverhalten, das die Fortbewegung zur Arbeitsstätte bzw dem Schulungsort zum Ziel hat und sich deshalb innerhalb des im Rahmen der Wegeunfallversicherung versicherten Risikos der allgemeinen Verkehrsgefahren hält; eine qualitative Veränderung des Verhaltens in Richtung auf einen betriebsfremden – nicht der Zurücklegung des Weges dienlichen – Zweck liegt nicht vor. Die grobe Verkehrswidrigkeit und die Rücksichtslosigkeit des Verhaltens betreffen lediglich die Qualität der – grundsätzlich unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stehenden – Fortbewegung in Richtung Ziel, ohne etwas anderes als das Erreichen des Ziels zu bezwecken. Auf eine Abwägung zwischen dem betrieblichen Interesse und der Sicherheit des Straßenverkehrs kann es aus unfallversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht ankommen; derartige Erwägungen wären allenfalls für die davon zu trennende strafrechtliche Würdigung von Bedeutung. Eine durch grob verkehrswidrige und rücksichtslose Fahrweise fahrlässig begangene Gefährdung des Straßenverkehrs ist hinsichtlich der Beurteilung des Vorliegens des inneren Zusammenhangs nicht mit einer durch Fahren unter Alkoholeinwirkung verursachten Verkehrsgefährdung infolge herabgesetzter Fahrtüchtigkeit gleichzusetzen, wie es der 9. Senat des BSG jedenfalls im Hinblick auf eine vorsätzliche Verkehrsgefährdung für angezeigt hält (BSGE 75, 180, 183 = SozR 3-3200 § 81 Nr 2). Denn während der Alkoholgenuß wegen der damit untrennbar verbundenen Herabsetzung oder Aufhebung der Fahrtüchtigkeit generell nicht zum Erreichen der Arbeitsstätte im Straßenverkehr geeignet und damit nicht betriebsdienlich ist, ist das Fahren in Richtung Ziel – wie oben aufgezeigt – auch bei grob verkehrswidriger und rücksichtsloser Fahrweise dazu im allgemeinen geeignet und damit betriebsdienlich (vgl dazu Schur SGb 2000, 408 f).

Das riskante Überholen stellt auch keine „selbstgeschaffene Gefahr” dar, die zum Verlust des Unfallversicherungsschutzes führen könnte, da nur – hier nicht ersichtliche – betriebsfremde Zwecke, welche eine erhöhte Gefahr herbeigeführt haben, zur Beseitigung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Unfall und damit zum Fortfall des Versicherungsschutzes führen können (BSG SozR 2200 § 548 Nrn 60 und 93 mwN).

Der Senat weicht mit dieser Entscheidung nicht vom Urteil des 9. Senats des BSG vom 11. Oktober 1994 (BSGE 75, 180 = SozR 3-3200 § 81 Nr 12) ab, in dem Versorgungsschutz gemäß § 81 des Soldatenversorgungsgesetzes im Hinblick auf das zum Unfall und zur Bestrafung des dortigen Klägers führende Falschüberholen abgelehnt wird und auf das sich das LSG ausdrücklich bezogen hat. Zwar ist nach der ständigen Rechtsprechung des 9. Senats der Schutz auf Wegen für die Soldatenversorgung und für die gesetzliche Unfallversicherung einheitlich zu beurteilen (stellvertretend BSG SozR 3200 § 81 Nr 24 mwN); ob ein „Abweichen” iS des § 41 Abs 2 SGG durch eine auf dem Gebiet des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung getroffene Entscheidung insoweit möglich wäre, erscheint allerdings zweifelhaft. Dies kann hier indes offenbleiben, denn der innere Zusammenhang wird in dieser Entscheidung wegen einer vom dortigen Kläger begangenen Straftat des vorsätzlichen Falschüberholens mit fahrlässiger Herbeiführung der Gefahr gemäß § 315c Abs 1 Nr 2, Abs 3 Nr 1 StGB abgelehnt, während hier lediglich ein fahrlässiges Falschüberholen mit fahrlässigem Herbeiführen der Gefahr gemäß § 315c Abs 1 Nr 2 Buchst b, Abs 3 Nr 2 StGB vorlag. Mit der Frage, ob der innere Zusammenhang hier auch im Falle der Bestrafung des Versicherten wegen eines vorsätzlichen Vergehens gegeben wäre, mußte sich der erkennende Senat im vorliegenden Verfahren daher ohnehin nicht auseinandersetzen.

Nach alledem waren die Urteile des SG und des LSG aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 8. Oktober 1996 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Januar 1997 zu verurteilen, den Kläger für die Folgen des Arbeitsunfalls zu entschädigen.

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 2001, 3652

NVwZ 2001, 1456

SozR 3-2200 § 550, Nr. 21

RdW 2001, 249

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