Beteiligte

Kläger und Revisionskläger

Beklagte und Revisionsbeklagte

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 09.10.2000; Aktenzeichen 1 BvR 791/95)

 

Tatbestand

I.

Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Verletztenrente wegen einer Berufskrankheit (BK).

Der im Jahre 1921 geborene Kläger war seit dem Jahre 1937 mit Unterbrechung durch Kriegsdienst als Melker, später als Melkmeister auf einem landwirtschaftlichen Gut beschäftigt. Dabei mußte er schwere körperliche Arbeiten verrichten. Er war seit dem Jahre 1977 wegen Wirbelsäulenbeschwerden arbeitsunfähig krank, bezog ab Juli 1979 Rente wegen Berufsunfähigkeit und erhält seit März 1980 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Mit Schreiben vom 1. Februar 1989 "wiederholte" der Kläger seinen Antrag vom 5. August 1980 (über den in den Akten der Beklagten sich keine Unterlagen befinden) und begehrte die Anerkennung seiner Wirbelsäulenerkrankung als BK. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Mai 1990 i.d.F. des Widerspruchsbescheides vom 3. Juli 1990 ab.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 13. Juli 1992 die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Anerkennung einer berufsbedingten Verschlimmerung einer anlagebedingten Wirbelsäulenerkrankung ab 1. Februar 1989 Rentenleistungen nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 20 v.H. zu gewähren. Die Erkrankung des Klägers sei nach § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu entschädigen. Nach dem vom Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften am 2. April 1992 herausgegebenen Rundschreiben (VB 35/92) bestünden trotz bisher fehlender eindeutiger Festlegungen des beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) gebildeten Sachverständigenbeirats, Sektion Berufskrankheiten, keine Bedenken, bestimmte Wirbelsäulenerkrankungen, die durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten entstanden seien und die zur Unterlassung entsprechender Tätigkeiten geführt hätten, auf dem Wege über § 551 Abs. 2 RVO im Einzelfall anzuerkennen. Beim Kläger bestehe in diesem Sinne eine richtungweisende Verschlimmerung.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 19. Januar 1994 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Unter Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (BKVO) i.d.F. der Zweiten Verordnung zur Änderung der BKVO vom 18. Dezember 1992 (2. ÄndVO ≪BGBl. I 2343≫) seien zwar neuerdings auch bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten als BK aufgeführt. Nach Art 2 Abs. 2 der 2. ÄndVO sei eine solche BK aber rückwirkend nur anzuerkennen, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. März 1988 eingetreten sei. Das sei beim Kläger, der seit dem Jahre 1977 wegen der Wirbelsäulenerkrankungen arbeitsunfähig gewesen sei, nicht der Fall. Diese vom Verordnungsgeber begrenzte Einbeziehung früherer Versicherungsfälle sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dem Kläger stehe auch keine Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO zu. Daß eine solche Entschädigung nach Inkrafttreten einer ÄndVO, die die geltend gemachte Krankheit als BK aufführe und eine zeitlich begrenzte Rückwirkung vorsehe, grundsätzlich nicht mehr in Betracht komme, habe das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteil vom 30. Juni 1993 - 2 RU 16/92 - entschieden. Eine vergleichbar weite Rückwirkung liege hier zwar nicht vor. Jedoch sei der zeitliche Abstand zwischen der Empfehlung des Sachverständigenbeirats vom 4. Februar 1992, dem Zeitpunkt also, zu dem die neuen medizinischen Erkenntnisse als gesichert angesehen werden könnten, und dem Inkrafttreten der Neuregelung am 1. Januar 1993 mit zehn Monaten verhältnismäßig kurz. Deshalb dürfte die Anzahl von Versicherten, die eine Entschädigung nach § 551 Abs. 2 RVO erfolgreich vor dem Zeitpunkt des Beginns der Rückwirkung hätten erreichen könnten, sehr gering sein. Eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu denjenigen Versicherten, die eine Entschädigung in diesem Zeitraum nicht geltend gemacht hätten, dürfte deshalb auf wenige Ausnahmefälle beschränkt sein. Die Anwendung der begrenzten Rückwirkungsregelung auf den Kläger begegne deshalb unter dem Gesichtspunkt des Art 3 des Grundgesetzes (GG) keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger, die Vorschrift des § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO i.d.F. der 2. ÄndVO sowie des § 551 Abs. 2 RVO verstießen gegen Art 3 Abs. 1 GG. Die auf Versicherungsfälle nach dem 31. März 1988 begrenzte Rückwirkungsregelung sei unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes des Art 3 Abs. 1 GG verfassungswidrig. Der vom Verordnungsgeber gewählte "Stichtag" des 31. März 1988 sei willkürlich. Bereits im Jahre 1988 hätten dem Verordnungsgeber die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse vorgelegen. Deshalb sei es nur verfassungsgemäß, wenn die in der zuvor ergangenen Änderungsverordnung vorgesehenen Rückwirkungsvorschriften auch für die 2. ÄndVO Anwendung fänden; deshalb müßten als BK nach § 551 Abs. 1 RVO auch die Wirbelsäulenerkrankungen anerkannt werden, bei denen der Versicherungsfall nach dem 31. Dezember 1976 eingetreten sei. Entscheidend sei, wann sich das medizinische Wissen über die Krankheit so verdichtet habe, daß man objektiv vom Vorliegen neuer Erkenntnisse sprechen könne. Außerdem enthalte gegenüber dem Recht der ehemaligen DDR die 2. ÄndVO "aufgrund ihrer Rückwirkungsklausel ein erhebliches Einschränkungskriterium zur Anerkennung der Berufskrankheiten und damit ein weiteres Merkmal einer ungleichen Behandlung gleichgelagerter Fälle". Eine Ungleichbehandlung liege des weiteren in bezug auf die Fallgestaltungen vor, in denen der Unfallversicherungsträger von Amts wegen das Feststellungsverfahren so betrieben habe, daß noch vor Inkrafttreten der neuen BK-Liste eine rechtmäßige Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO ausgesprochen worden sei. Da die seit dem 1. April 1988 gegebene Empfehlung des Sachverständigenbeirats keine Angaben zu einer etwaigen Rückwirkung enthalte, lasse sich sachlich begründet aus der Systematik des § 551 Abs. 2 RVO eine nachträgliche Rückwirkungsbegrenzung nicht rechtfertigen.

Die geforderten neuen Erkenntnisse i.S. einer Verordnungsreife hätten bereits seit dem Jahre 1988 vorgelegen. Die Beklagte hätte deshalb aufgrund des noch nicht bindend abgelehnten Antrags vor Inkrafttreten der 2. ÄndVO den Anspruch i.S. des § 551 Abs. 2 RVO anerkennen müssen; andernfalls hieße dies, den Versicherungsträger bis zum Erlaß der nächsten ÄndVO der BKVO zur Untätigkeit zu verurteilen. Der Versicherungsträger könnte seinem gesetzlichen Auftrag i.S. des § 551 Abs. 2 nicht mehr gerecht werden, da er nicht voraussehen könne, welche "bestimmten Voraussetzungen" dieser bei Aufnahme in die Rechtsverordnung erlasse. Das SG habe deshalb auch vom Zeitpunkt her dem Anspruch auf Verletztenrente zu Recht ab 1. Februar 1993 stattgegeben.

Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des Urteils des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 19. Januar 1994 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 13. Juli 1992 zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Sie betont nochmals ihre Auffassung, daß die Stichtagsregelung in der 2. ÄndVO zur BKVO entsprechend der ständigen Rechtsprechung des BSG sachgerecht und nicht willkürlich sei.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision ist unbegründet.

Die beim Kläger festgestellten Gesundheitsstörungen im Bereich der Wirbelsäule sind keine entschädigungspflichtige BK und auch nicht wie eine BK zu entschädigen.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß dem Kläger kein Anspruch auf Gewährung einer Verletztenrente nach § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. der Anlage 1 zur BKVO zusteht. Eine berufsbedingte Erkrankung der Lendenwirbelsäule oder der Halswirbelsäule kann erst aufgrund der in der 2. ÄndVO vom 18. Dezember 1992 (BGBl. I 2343) eingefügten Nrn 2108 und 2109 der Anlage 1 zur BKVO als BK i.S. des § 551 Abs. 1 RVO anerkannt werden. In die vorausgegangene Anlage 1 zur BKVO i.d.F. der 1. ÄndVO vom 22. März 1988 (BGBl. I 400) waren diese Krankheiten noch nicht aufgenommen. Für neu in die Anlage 1 zur BKVO aufgenommene Krankheiten bestimmt Art 2 Abs. 2 Satz 1 der 2. ÄndVO ausdrücklich, daß nur dann eine BK auf Antrag anzuerkennen ist, wenn der Versicherungsfall nach dem 31. März 1988 eingetreten ist. Dies trifft nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) im vorliegenden Fall nicht zu. Alle Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO i.V.m. der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO i.d.F. der 2. ÄndVO einschließlich derjenigen, daß die Erkrankung zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen hat, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, sind erfüllt gewesen, als der Kläger seine Berufstätigkeit im Jahre 1977 wegen der Wirbelsäulenbeschwerden aufgegeben hatte. Dies war also weit vor dem 1. April 1988. Damit hat das LSG den Versicherungsfall zutreffend auf diesen Zeitpunkt datiert,

so daß der Kläger von der rückwirkenden Einbeziehung in Art 2 Abs. 2 Satz 1 der 2. ÄndVO nicht erfaßt wird.

Diese in Art 2 Abs. 2 Satz 1 der 2. ÄndVO vom 18. Dezember 1992 enthaltene begrenzte Einbeziehung früherer Versicherungsfälle in den Versicherungsschutz ist nicht nur von der Ermächtigung des § 551 Abs. 1 RVO gedeckt, sondern auch verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden; entgegen der Auffassung der Revision liegt insbesondere kein Verstoß gegen Art 3 Abs. 1 GG vor (BSGE 72, 303, 304 sowie BSG Urteil vom 25. August 1994 - 2 RU 42/93 - zur Veröffentlichung vorgesehen).

Der Senat hat hierzu bereits in seinen Urteilen vom 29. September 1964 (BSGE 21, 296, 297), 30. Oktober 1964 (BSGE 22, 63, 65) und 30. Juni 1993 (BSGE 72, 303, 304) entschieden, daß es im allgemeinen dem Gesetzgeber überlassen bleibt, inwieweit er neu eingeführte Leistungsverbesserungen auch auf abgeschlossene, in der Vergangenheit liegende Sachverhalte ausdehnt (vgl. auch BVerfG 75, 108, 157; Eilebrecht BG 1993, 187). In seinem Urteil vom 7. Juli 1992 (BVerfGE 87, 1, 43) hat das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seine bisherige Rechtsprechung bestätigt, daß es dem Gesetzgeber durch Art 3 Abs. 1 GG grundsätzlich nicht verwehrt ist, zur Regelung bestimmter Sachverhalte Stichtage einzuführen, obwohl jeder Stichtag unvermeidlich gewisse Härten mit sich bringt; die Wahl des Zeitpunkts muß sich allerdings am gegebenen Sachverhalt orientieren. Dies ist hier der Fall.

Ähnlich wie in Art 2 Abs. 2 Satz 1 der 2. ÄndVO vom 18. Dezember 1992 war die rückwirkende Geltung von neu in die BK-Liste aufgenommenen Positionen auch schon in den Übergangsbestimmungen früherer BKVOen geregelt (vgl. Art 3 Abs. 2 Satz 1 ÄndVO vom 22. März 1988 - BGBl. I 400 -; S. BSGE 21, 296, 297; 72, 303, 304). Sogar der völlige Ausschluß einer Rückwirkung wurde nicht als Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art 3 Abs. 1 GG angesehen (BSGE 22, 63, 65). In dieser Entscheidung hat der Senat allerdings auch klargestellt, daß im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip in Art 20 Abs. 1 GG eine "rückwirkende Gewährung von Leistungen in gewissen Grenzen" bei berufsbedingten Erkrankungen sogar geboten sein kann. Soweit damit der Senat es für die Rechtswirksamkeit einer Rückwirkungsvorschrift auch darauf abgestellt hat, ob der Verordnungsgeber sie im Interesse einer Gleichbehandlung der Versicherten auf ausreichend in der Vergangenheit liegende Versicherungsfälle erstreckt hat (BSGE 72, 303, 306), ist diese Voraussetzung in Art 2 Abs. 2 Satz 1 der 2. ÄndVO gewahrt. Aus der amtlichen Begründung der Bundesregierung zu Art 2 dieser Verordnung ergibt sich, daß der Verordnungsgeber diese Frage geprüft, sich aber an einer Anerkennung von Versicherungsfällen nach den Nrn 2108 und 2109 der Anlage 1 zur BKVO auch aus der Zeit vor dem 1. April 1988, dem Inkrafttreten der 1. ÄndVO, mittels Rückverlegung des Stichtages in die weitere Vergangenheit durch die Ablehnung des damaligen Verordnungsgebers gehindert sah (BR-Drucks 773/92 S. 15 zu Art 2). Daß der Verordnungsgeber zur Begründung "neuer Erkenntnisse" Studien - wie die Revision meint - aus den Jahren 1954, 1971 und 1979 anführe, ist dieser amtlichen Begründung nicht zu entnehmen. Die Gründe für die Aufnahme der neuen Nrn 2108 und 2109 in die Anlage 1 zur BKVO werden vielmehr im einzelnen in der amtlichen Begründung (S 7ff. a.a.O.) aufgeführt. Nach der Einschätzung des Verordnungsgebers haben danach die neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse erst nach dem Inkrafttreten der vorausgegangenen ÄndVO vorgelegen. Auf diesen Zeitraum von fast fünf Jahren hat er auch die Rückwirkung erstreckt. Das ist ein sachlich begründeter, ausreichender Rückwirkungszeitraum (BSG Urteil vom 25. August 1994 -a.a.O.-).

Entgegen der Auffassung der Revision enthält die Rückwirkungsklausel in Art 2 Abs. 2 Satz 1 der 2. ÄndVO gegenüber dem Recht der ehemaligen DDR keine ungleiche Behandlung gleichgelagerter Fälle. Einerseits führt die vom Kläger beanstandete Stichtagsregelung dazu, daß der vor Inkrafttreten der 2. ÄndVO zur BKVO bestehende Rechtszustand jedenfalls in bezug auf den Kläger aufrechterhalten bleibt. Andererseits hat der Gesetzgeber durch § 1150 Abs. 2 RVO i.d.F. des Rentenüberleitungsgesetzes vom 25. Juli 1991 (BGBl. I 1606) Besitzstandsregelungen getroffen. Sie beziehen sich auf Krankheiten, die im Beitrittsgebiet vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach den in diesem Gebiet geltenden Recht Berufskrankheiten der Sozialversicherung waren. Da außerdem den Versicherten der neuen Bundesländer durch die 2. ÄndVO keine weitergehenden Rechte oder Entschädigungsleistungen eingeräumt werden, als sie auch den Versicherten in den alten Bundesländern zustehen, bewirkt die Stichtagsregelung für neue Entschädigungsfälle keine Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber den Versicherten in den neuen Bundesländern. Im Kern wendet sich der Kläger hier dagegen, daß einer anderen Gruppe von Versicherten ein Vorteil belassen wird, den diese Gruppe bei Inkrafttreten der 2. ÄndVO bereits besessen hat, ohne daß der Verordnungsgeber diesen Vorteil auf die in einem anderen Gebiet des Geltungsbereichs der BKVO ansässige Gruppe von Versicherten, in deren Person der Versicherungsfall ebenfalls vor längerer Zeit eingetreten sein kann, erstreckt hat.

Das LSG hat ferner zutreffend entschieden, daß dem Kläger wegen seiner berufsbedingten Gesundheitsstörungen im Bereich der Wirbelsäule auch kein Entschädigungsanspruch gemäß § 551 Abs. 2 RVO zusteht. Die Ausschlußbestimmung des Art 2 Abs. 2 Satz 1 der 2. ÄndVO erfaßt auch den Versicherungsschutz nach § 551 Abs. 2 RVO (BSG Urteil vom 25. August 1994 -a.a.O.-). Sie verbietet es dem Träger der Unfallversicherung, in Versicherungsfällen, die vor dem Stichtag eingetreten sind, nach § 551 Abs. 2 RVO tätig zu werden. Mit dieser Entscheidung des Verordnungsgebers ist es dem Unfallversicherungsträger untersagt, anstelle des Verordnungsgebers in diesem Einzelfall festzustellen, daß die übrigen Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 RVO erfüllt sind und die Krankheit nach neuen medizinischen Erkenntnissen wie eine BK zu entschädigen ist. Auch das ist der Zweck dieser begrenzten Rückwirkungsbestimmung.

Der Verordnungsgeber hat diesen Zweck in seiner amtlichen Begründung zu Art 2 der 2. ÄndVO im Hinblick auf den Versicherungsschutz des § 551 RVO sowohl nach dessen Abs. 1 als auch des Abs. 2 erklärt (BR-Drucks 773/92 S. 15). Altfälle, so hat er ausgeführt, die nach dem Inkrafttreten der letzten ÄndVO am 1. April 1988 eingetreten seien, würden ohne Rücksicht darauf erfaßt, ob über sie bereits durch bindende Bescheide oder rechtskräftige Entscheidungen der Gerichte abschlägig befunden worden sei und auch ohne Rücksicht darauf, zu welchem Zeitpunkt insoweit "neue medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse" vorgelegen hätten. Der Senat hat auch bereits die Ermächtigung des Verordnungsgebers grundsätzlich bejaht, bei der Neuaufnahme von Krankheiten in die BK-Liste mit einer begrenzten Rückwirkungsklausel solche Versicherungsfälle, die vor dem Stichtag eingetreten sind, von dem Versicherungsschutz sowohl nach § 551 Abs. 1 als auch nach § 551 Abs. 2 RVO auszuschließen (BSGE 72, 303).

Die Ermächtigung des Verordnungsgebers, frühere Versicherungsfälle sowohl im Hinblick auf § 551 Abs. 1 RVO als auch auf § 551 Abs. 2 RVO nur begrenzt in den Versicherungsschutz einzubeziehen, folgt bereits aus dem einheitlichen BK-Recht, das der Gesetzgeber in den inhaltlich verbundenen Abs. 1 und 2 des § 551 RVO geregelt hat (BSG Urteil vom 25. August 1994 -a.a.O.-). In § 551 Abs. 1 Satz 2 RVO hat er den Grundsatz des inzwischen sozialpolitisch umstrittenen "Listensystems" verankert. "Berufskrankheiten sind (nur) die Krankheiten, welche die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates bezeichnet … " und nicht (aufgrund einer von einigen Seiten gewünschten "Generalklausel", S. BSGE 59, 295, 297 m.w.N.) alle Krankheiten, die ein Versicherter bei einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten erleidet (s auch BVerfG SozR 3-2200 § 551 Nr. 5). Der Gesetzgeber hat (allein) die Bundesregierung ermächtigt, in der Rechtsverordnung solche Krankheiten zu bezeichnen, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre Arbeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (Abs 1 Satz 3 a.a.O.).

Von dieser Regelung macht § 551 Abs. 2 RVO nur insoweit eine Ausnahme für den Einzelfall, wenn der Verordnungsgeber wegen der regelmäßig notwendigen mehrjährigen Intervalle zwischen den Anpassungen der BKVO an die neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht rechtzeitig tätig geworden ist. Ausdrücklich nur wenn der Verordnungsgeber eine Krankheit nicht in der BKVO bezeichnet oder die dort bisher bestimmten (einschränkenden) Voraussetzungen noch nicht aufgehoben hat, räumt der Gesetzgeber in § 551 Abs. 2 RVO dem Träger der Unfallversicherung das Recht und die Pflicht ein, im Einzelfall anstelle des noch nicht tätig gewordenen Verordnungsgebers in zwei voneinander zu unterscheidenden Verfahrensschritten vorzugehen. Dann soll der Unfallversicherungsträger zunächst - wie der Verordnungsgeber auch - in einem ersten Abschnitt feststellen, ob nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 3 a.a.O. für die Aufnahme der betreffenden Krankheit in die BKVO erfüllt sind, und danach, wenn die Prüfung im ersten Abschnitt positiv ausgefallen ist, in dem Entschädigungsabschnitt nach Maßgabe seiner gewöhnlichen Entschädigungsaufgaben die betreffende Krankheit wie eine BK entschädigen. Dem eigentlichen Entschädigungsanspruch des Erkrankten nach § 551 Abs. 2 RVO (zweiter Abschnitt) muß also die entsprechende Feststellung des Unfallversicherungsträgers im ersten Abschnitt vorausgehen.

Nach der Rechtsprechung des BSG zu dem Begriff neue (medizinisch-wissenschaftliche) Erkenntnisse in § 551 Abs. 2 RVO (s BSGE 44, 90, 93; 72, 303, 305; BSG BG 1967, 75, 76; S. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S. 492p) hat der Gesetzgeber in § 551 Abs. 1 und 2 RVO dem Träger der Unfallversicherung das oben beschriebene Recht und die Pflicht nach § 551 Abs. 2 RVO weiter einschränkend nur für den Fall eingeräumt, daß von dem Verordnungsgeber noch nicht die betreffenden medizinischen Erkenntnisse als unzureichend eingestuft worden sind. Hätte der Verordnungsgeber es trotz dieser Erkenntnis abgelehnt, eine bestimmte Krankheit in die BKVO aufzunehmen, dann wären diese Erkenntnisse bei einer Prüfung im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO nicht mehr neu (BSGE 52, 272, 274).

Entscheidend für den Anspruch nach § 551 Abs. 2 RVO hinsichtlich der von dem Träger der Unfallversicherung vorzunehmenden Feststellung im ersten Verwaltungsabschnitt ist, daß insoweit neue medizinische Erkenntnisse vorliegen, die der Verordnungsgeber noch nicht positiv durch die Aufnahme oder negativ durch die Ablehnung, die Krankheit in die BKVO aufzunehmen, geprüft hat. Der Senat hat dazu entschieden, in beiden Fällen zeige sich der gesetzlich vorgeschriebene Vorrang der Entscheidung des Verordnungsgebers vor derjenigen der Verwaltung (BSGE 72, 303, 305 m.w.N. aus Rechtsprechung und Schrifttum). Dem trägt auch der insoweit begrenzte Zweck des § 551 Abs. 2 RVO Rechnung. Er zielt in Übereinstimmung mit Abs. 1 dieser Vorschrift auch nicht darauf, daß mit seiner Hilfe eine bereits durch den Verordnungsgeber ausreichend weit zurückreichende Rückwirkung noch erweitert wird. Er soll nicht dazu führen, daß der Unfallversicherungsträger anstelle des Verordnungsgebers in Fällen tätig wird, in denen dieser über bestimmte neue medizinische Erkenntnisse bereits dadurch entschieden hat, daß er die betreffende Krankheit in die BKVO aufgenommen, die Gewährung einer Entschädigung aber durch eine Rückwirkung bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit begrenzt hat (BSGE 72, 303, 306 m.w.N.). Der Träger der Unfallversicherung hat vielmehr nur dann das Recht und die Pflicht, anstelle des Verordnungsgebers nach § 551 Abs. 2 RVO tätig zu werden, wenn es neue medizinische Erkenntnisse in dem o.a. Sinne gibt, über die der Verordnungsgeber noch nicht entschieden hat oder die zur Zeit einer ablehnenden Entscheidung noch nicht zur BK-Reife verdichtet waren (s dazu BSGE 72, 303, 305 m.w.N.). Darauf hat der Erkrankte aber nur solange einen Rechtsanspruch, wie der Verordnungsgeber nicht in der o.a. Weise entschieden hat. Damit greift der Verordnungsgeber nicht etwa in einen unabhängig von seinen Entscheidungen nach § 551 Abs. 1 RVO begründeten Rechtsanspruch auf Entschädigung ein; denn der betreffende Entschädigungsanspruch des Erkrankten kann erst dann entstehen, wenn gemäß § 551 Abs. 2 RVO festgestellt worden ist, daß nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen die Voraussetzungen des § 551 Abs. 1 Satz 3 RVO erfüllt sind. Der Eingriff des Verordnungsgebers erfolgt vielmehr nur in einen begrenzten Anspruch des Erkrankten gegen den Träger der Unfallversicherung auf ein Tätigwerden i.S. des § 551 Abs. 2 RVO, während und solange es der Verordnungsgeber an einer entsprechenden Entscheidung fehlen läßt. Diese Gesamtregelung des § 551 Abs. 1 und 2 RVO kann weder als Verletzung des Vorrangs eines Gesetzes noch des Prinzips der Gewaltenteilung gewertet werden (BSG Urteil vom 25. August 1994 -a.a.O.-).

Das bedeutet für den Unfallversicherungsschutz, den § 551 RVO gegen die Risiken der BK begründet: Er besteht nur gegen diejenigen Krankheiten, die der Verordnungsgeber in der Anlage 1 zur BKVO aufgenommen hat (Abs 1). Eine Erweiterung dieses Unfallversicherungsschutzes gegen andere Krankheiten auch in die Vergangenheit hinein ist rechtlich möglich, entsteht aber selbst beim Vorliegen neuer medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisse noch nicht kraft Gesetzes (Abs 2). Der erweiterte Unfallversicherungsschutz nach § 551 Abs. 2 RVO setzt vor allem eine entsprechende Feststellung des Unfallversicherungsträgers voraus. Der Rechtsanspruch des Erkrankten darauf ist auch durch das Gericht überprüfbar und die betreffende Feststellung gerichtlich ersetzbar. Aber selbst das Gericht muß den Vorrang der Entscheidung des Verordnungsgebers beachten.

Weil der Verordnungsgeber im vorliegenden Fall die betreffenden Krankheiten mit Wirkung vom 1. Januar 1993 in die Anlage 1 zur BKVO aufgenommen und in Art 2 Abs. 2 Satz 1 der 2. ÄndVO die Versicherungsfälle ausgeschlossen hat, die vor dem 1. April 1988 eingetreten sind, hat das LSG im Zeitpunkt seiner Entscheidung zutreffend den vom Kläger geltend gemachten Anspruch, seine Erkrankung sei nach neuen medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen wie eine BK zu entschädigen, zurückgewiesen. Bei einer kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage, bei der - wie hier - dem Antrag auf Aufhebung des ablehnenden Bescheids keine selbständige Bedeutung beizumessen ist, kommt es grundsätzlich darauf an, ob die Ablehnung des begehrten Verwaltungsakts zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung noch rechtmäßig ist. Dabei sind Rechtsänderungen - durch Gesetz oder Verordnung -, die während der Rechtshängigkeit einer Verpflichtungsklage eintreten, grundsätzlich vom Gericht zu beachten. Voraussetzung ist dabei, daß die neue Regelung nach ihrem zeitlichen Geltungswillen das streitige Rechtsverhältnis erfassen will (BSGE 41, 38, 39/40; 43, 1, 5; BSG SozR 3-1500 § 54 Nr. 18, jeweils m.w.N.). Das ist - wie den obigen Erörterungen zu entnehmen ist - hier der Fall.

Soweit der Revisionskläger rügt, es liege eine Ungleichbehandlung und damit ein Verstoß gegen Art 3 Abs. 1 GG vor in bezug auf die Fallgestaltungen, in denen der Versicherungsträger von Amts wegen das Feststellungsverfahren so betrieben habe, daß noch vor Inkrafttreten der neuen BK-Liste eine rechtmäßige Anerkennung nach § 551 Abs. 2 RVO habe ausgesprochen werden können, ist von der Revision nicht näher dargelegt und im übrigen auch nicht ersichtlich, daß überhaupt innerhalb der verhältnismäßig kurzen Frist zwischen der Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats vom 4. Februar 1992 und dem Inkrafttreten der 2. ÄndVO zum 1. Januar 1993 (vgl. Art 2 Abs. 1 der 2. ÄndVO) einschlägige Wirbelsäulenerkrankungen im Rahmen des § 551 Abs. 2 RVO bestandskräftig anerkannt worden wären. Außerdem wäre auch insoweit entscheidend, daß in diesem Zeitraum der Verordnungsgeber noch nicht entschieden hatte.

Nach alledem war die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518174

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