Entscheidungsstichwort (Thema)

Wehrdienstbeschädigung. Kannversorgung. Ungewißheit über Art der Krankheit

 

Leitsatz (amtlich)

Eine "Kannversorgung" kommt nicht in Betracht, wenn die Ungewißheit über den Ursachenzusammenhang zwischen einer Krankheit und Belastungen des Wehrdienstes bereits darauf beruht, daß über die Art der Krankheit trotz Ausschöpfung aller diagnostischen Mittel keine Klarheit zu gewinnen ist.

 

Normenkette

SVG § 81 Abs. 6 S. 2, § 85; BVG § 1 Abs. 3 S. 2

 

Verfahrensgang

SG Koblenz (Entscheidung vom 07.08.1992; Aktenzeichen S 4 V 83/91)

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 20.05.1994; Aktenzeichen L 4 V 58/92)

 

Tatbestand

Der 1954 geborene Kläger trat 1973 als Wehrdienstleistender in die Bundeswehr ein. 1980 wurde er Berufssoldat. Als Ausbilder und Führer von Teileinheiten hatte er häufig Außendienst zu leisten mit starken körperlichen Belastungen unter teilweise schlechten klimatischen Bedingungen. Ende Juni 1988 wurde er wegen Dienstunfähigkeit aus der Bundeswehr entlassen. Grund dafür war eine Kniegelenkerkrankung, deren Ursache vom ärztlichen Dienst der Bundeswehr nicht geklärt werden konnte. Mit Bescheid vom 31. Mai 1988 lehnte die beklagte Bundesrepublik deshalb die Zahlung eines Ausgleichs ab. Die Beschwerde blieb erfolglos (Bescheid vom 2. Oktober 1989). Das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) endete damit, daß sich die Beklagte in einem Vergleich verpflichtete, den Kläger über die Gewährung einer sog Kann-Versorgung zu bescheiden. Mit Bescheid vom 10. Januar 1991 und Widerspruchsbescheid vom 24. Juni 1991 lehnte die Beklagte wegen der weiterhin bestehenden Ungewißheit über die Art der Erkrankung auch eine Kann-Versorgung ab. Das SG verurteilte die Beklagte mit Urteil vom 7. August 1992, die "Nekrose beider Kniegelenke" als Schädigungsfolge anzuerkennen und einen Ausgleich nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 25 vH bis zum 30. Juni 1988 zu gewähren. Es stützte sich dabei auf die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1983 (AHP), die beim Vorliegen einer aseptischen Knochennekrose die Möglichkeit einer Kann-Versorgung vorsehen. Auf die Berufungen der Beklagten und des beigeladenen Landes hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 20. Mai 1994). Es ist nach Einholung weiterer medizinischer Gutachten zu dem Ergebnis gekommen, daß sich auch unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden diagnostischen Mittel nur feststellen lasse, daß der Kläger unter nekrotischen Veränderungen beider Oberschenkelknochen im Kniegelenk leide, über die Art und die Ursache der Erkrankung medizinisch aber weiter keine sicheren Aussagen zu machen seien. Wenn es schon an einer klaren medizinischen Diagnose fehle, komme eine Kann-Versorgung von vornherein nicht in Betracht. Die vom SG angenommene aseptische Knochennekrose, die nach den AHP eine Kann-Versorgung erlaube, sei aufgrund der bisherigen medizinischen Erkenntnisse eher unwahrscheinlich.

Dagegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Klägers. Er rügt eine Verletzung des § 81 Abs 6 Satz 2 Soldatenversorgungsgesetz (SVG) und wendet sich gegen die Auffassung des LSG, daß bei einer unklaren medizinischen Diagnose eine Kann-Versorgung nicht in Betracht komme. Es müsse ausreichen, daß eine Erkrankung festgestellt worden sei, deren Natur wegen der Grenzen der medizinisch-wissenschaftlichen Diagnostik nicht weiter aufzuklären sei. Andernfalls würde eine Ungleichbehandlung gegenüber den Fällen eintreten, in denen die medizinische Diagnose klar sei und allein über die Ursächlichkeit der Erkrankung in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit bestehe.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufungen der Beklagten und des Beigeladenen gegen das Urteil des Sozialgerichts vom 7. August 1992 zurückzuweisen.

Die Beklagte und der Beigeladene beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger ein Ausgleich wegen der Kniegelenkerkrankung nicht zu gewähren ist.

Es durfte allerdings seine Begründung nicht auf das Vorliegen der Voraussetzungen für eine sog Kann-Versorgung beschränken; es mußte auf die vorrangige Frage einer sog "Pflichtleistung" eingehen. Anscheinend hat es gemeint, der Anspruch auf eine Pflichtleistung sei nicht Streitgegenstand. Diese Auffassung wäre nicht zutreffend. Der Anspruch auf Versorgung ist ein einheitlicher. Über ihn ist einheitlich zu entscheiden. § 81 Abs 6 Satz 1 und 2 SVG stellen für dieselbe Leistung nur unterschiedliche Voraussetzungen auf (BSGE 74, 109 = SozR 3100 § 1 Nr 14). An diesem Ergebnis ändert sich nichts dadurch, daß sich die Beklagte im ersten Verfahren vor dem SG verpflichtet hat, ergänzend nur noch über die Voraussetzungen der Kann-Versorgung zu entscheiden. Der einheitliche Streitgegenstand auf Gewährung von Versorgung ist in dieser Weise nicht teilbar. Schon die Wehrverwaltung hatte deshalb gemäß ihrer Verpflichtungserklärung erneut über den gesamten Anspruch zu entscheiden, ebenso die Instanzgerichte. Das Fehlen von Ausführungen zur sog Pflichtleistung stellt indessen keinen absoluten Revisionsgrund iS des § 551 Nr 7 Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 202 Sozialgerichtsgesetz (SGG) dar, weil sich aus dem Urteilszusammenhang mit hinreichender Deutlichkeit ergibt, daß das LSG wegen der fehlenden Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhanges erst recht die Voraussetzung der sog Pflichtleistung verneint hat. Auf die Frage, ob ein Verstoß gegen § 551 Nr 7 ZPO ausdrücklich gerügt werden muß (vgl den Beschluß des Gemeinsamen Senats für die obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. April 1993, SozR 3-1750 § 551 Nr 4), was hier nicht geschehen ist, kommt es danach nicht an.

Nach § 85 Abs 1 SVG erhält ein Soldat während seines Wehrdienstes wegen der Folgen einer Wehrdienstbeschädigung einen Ausgleich in Höhe der Grundrente und der Schwerstbeschädigtenzulage nach § 30 Abs 1 und § 31 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). § 81 Abs 1 SVG bezeichnet als Wehrdienstbeschädigung die gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung, durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden ist. Der Kläger macht nicht geltend, daß er im Sinne dieser Vorschrift durch eine bestimmte Wehrdienstverrichtung oder durch einen Dienstunfall geschädigt worden sei. Die in § 81 Abs 2 SVG geregelten Sondertatbestände einer Wehrdienstbeschädigung treffen auf ihn ersichtlich nicht zu. Seine Kniegelenkerkrankung führt er vielmehr auf sonstige schädigende Einwirkungen des Wehrdienstes zurück, nämlich auf gegenüber dem Zivilleben deutlich erhöhte körperliche Beanspruchungen durch Geländeübungen unter ungünstigen klimatischen Bedingungen.

Die Schlußfolgerung, daß die Kniegelenkerkrankung des Klägers wahrscheinlich (§ 81 Abs 6 Satz 1 SVG) auf Einflüsse des Wehrdienstes zurückzuführen ist, scheitert - wie auch der Kläger einräumt - daran, daß über die Art der Erkrankung nichts näheres bekannt ist, insbesondere sich medizinisch keine Aussage darüber machen läßt, ob sie überhaupt durch traumatische Einwirkungen über einen längeren Zeitraum verursacht oder zumindest begünstigt werden kann. Der bloße zeitliche Zusammenhang mit dem Wehrdienst allein läßt auf einen wahrscheinlichen Ursachenzusammenhang nicht schließen; schicksalhafte Erkrankungen können jederzeit auftreten.

Ausdrücklich hat das LSG den Versorgungsanspruch auch unter dem Gesichtspunkt der sog Kannversorgung zu Recht verneint, weil über die Ursache des beim Kläger festgestellten Leidens nach Ausschöpfung aller zur Verfügung stehenden und zumutbaren diagnostischen Mittel ein solcher Grad von Ungewißheit verblieben ist, daß für einen Zusammenhang mit besonderen Belastungen durch den Wehrdienst allenfalls das zeitliche Zusammentreffen spricht, was auch im Rahmen der sog Kannversorgung nicht ausreicht. Nach § 81 Abs 6 Satz 2 SVG kann zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Wehrdienstbeschädigung ein geringerer Grad als die Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs ausreichen, wenn über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewißheit besteht. Zur Anerkennung ist die Zustimmung des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) im Einvernehmen mit dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (BMA) erforderlich (§ 85 Abs 3 BVG). Sie kann auch allgemein erteilt werden. Ist sie erteilt, so ist die Wehrverwaltung ebenso wie die Versorgungsverwaltung daran gebunden und die Anerkennung auszusprechen (vgl BSGE 73, 190, 191). Für die Fälle, in denen das BMA einer Kannversorgung nach § 81 Abs 6 Satz 2 BVG allgemein zugestimmt hat, hat auch das BMVg seine Zustimmung allgemein erteilt (Richtlinien des BMVg zu § 85 SVG idF vom 23. Mai 1975 ≪BAnz Nr 98≫ mit Änderungen vom 31. Oktober 1977 ≪BAnz 1977 Nr 214≫, dort Nr 6 Abs 2).

Das LSG hat abweichend vom SG zu Recht angenommen, daß für die beim Kläger vorliegende Kniegelenkerkrankung keine allgemeine Zustimmung zur Anerkennung als Wehrdienstleiden vorliegt. Das BMA hat lediglich in Nr 39 der AHP 1983 aseptische Knochen- und Knorpelnekrosen der in Nr 131 näher beschriebenen Art als für eine Kannversorgung allgemein in Betracht kommend aufgeführt, sich die Zustimmung jedoch im Einzelfall vorbehalten. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme vor dem LSG ist aber schon nicht feststellbar, daß der Kläger an einer "aseptischen" Nekrose leidet. Nach den AHP kommt damit eine Zustimmung bzw ein Einvernehmen auch als Einzelfallentscheidung nicht in Betracht.

Die daraus abzuleitende Versagung der Zustimmung verstößt nicht gegen das Gesetz. Zur Gewährung der Kannversorgung muß nicht nur ein zeitlicher Zusammenhang bestehen, sondern nach einer nachvollziehbaren wissenschaftlichen Lehrmeinung müssen Erkenntnisse vorliegen, die für einen generellen, in der Regel durch statistische Erhebungen untermauerten Zusammenhang zwischen besonderen körperlichen Belastungen und der festgestellten Erkrankung sprechen. Es darf nicht nur eine theoretische Möglichkeit des Zusammenhangs bestehen, sondern vielmehr eine "gute Möglichkeit", die sich in der wissenschaftlichen Medizin nur noch nicht so zur allgemeinen Lehrmeinung verdichtet hat, daß von gesicherten Erkenntnissen gesprochen werden kann (BSGE 73, 190, 193).

Im Falle des Klägers besteht keine medizinisch-wissenschaftliche Ungewißheit über die Ursachen seines Leidens, insbesondere darüber, ob es auch durch besondere körperliche Belastungen ausgelöst werden kann, die im einzelnen noch nicht festgestellt sind. Die Ungewißheit beruht darauf, daß im konkreten Fall trotz aller diagnostischen Bemühungen keine weitere Klarheit über die Art der Krankheit zu gewinnen ist, so daß es für einen wissenschaftlichen Meinungsstreit über ihre Ursachen an jeglicher Grundlage fehlt; es kommen alle denkbaren Ursachen in Betracht. Die Kannversorgung setzt eine abstrakte theoretische Unsicherheit voraus, nicht eine bloß konkrete im Einzelfall (vgl BSG KOV 1970, 106). Dies hat das LSG im Grundsatz zutreffend gesehen. Es hat allerdings gemeint, zwischen Befund und Diagnose unterscheiden und die Voraussetzungen für eine Kannversorgung davon abhängig machen zu können, daß nicht nur ein Befund, sondern eine Diagnose vorliegt. Indessen führt dies zu keiner besseren Abgrenzung, weil sich beide Begriffe schon nach dem medizinischen Gebrauch nicht klar voneinander trennen lassen. Die Diagnose ist zwar eine weitergehende Beschreibung einer Krankheit als der bloße Befund, der nur eine Normabweichung feststellt; in manchen Fällen deckt sich aber die Diagnose mit dem Befund (wie zB bei einem Organverlust), in anderen Fällen sagt sie nur wenig mehr aus, in eher seltenen Fällen beschreibt sie eine Krankheit, die sowohl nach ihrer Ursache wie ihrem Verlauf medizinisch weitgehend aufgeklärt ist. Dazwischen bietet sich ein breites Spektrum von Krankheitsbeschreibungen, die als Diagnosen bezeichnet werden, aber kaum über die Beschreibung eines äußeren Befundes hinausgehen, weil über die Ursachen nichts bekannt ist. Das gilt zB für solche Diagnosen, die das Adjektiv "essentiell" oder "idiopathisch" enthalten, wie essentieller Blutdruck oder, wie im vorliegenden Zusammenhang erörtert, idiopathische Nekrose. Es ist deshalb auch nicht entscheidend, ob die Erkrankung des Klägers, die als "nekrotischer Kniegelenksprozeß" oder als "osteonekrotische Knochenknorpelveränderungen" bezeichnet wird, im medizinischen Sinne bereits eine Diagnose oder - wie das LSG annimmt - bloß einen Befund bedeutet. In der Sache besagt diese Umschreibung, daß über das Wesen der Erkrankung außer der Feststellung eines Untergangs von Knochengewebe keine weitere Aussage gemacht werden kann, so daß alle in Betracht kommenden Ursachen rein theoretischer Art sind, dh auch die Annahme eines Zusammenhangs mit besonderen Belastungen des Wehrdienstes. Weil die Krankheit medizinisch-wissenschaftlich nicht eindeutig definiert ist, fehlt es zwangsläufig an medizinisch-wissenschaftlichen Äußerungen, die eine derartige Erkrankung, wie sie beim Kläger vorliegt, in einem statistisch auffälligen Zusammenhang mit körperlichen Belastungen des Wehrdienstes oder auch nur vergleichbaren zivilen Berufen beobachtet haben. Gibt es überhaupt noch keine wissenschaftliche Lehrmeinung, weil eine aufgetretene Erkrankung bislang unbekannt war, fehlt es ebenso an den Mindestvoraussetzungen für eine Kannversorgung wie im Falle einer Erkrankung, deren Wesen mit den diagnostischen Möglichkeiten der Medizin nicht weiter aufgehellt werden kann, wie es beim Kläger der Fall zu sein scheint. Zu recht verlangen deshalb auch die AHP 1983 in Nr 39 Abs 3 allgemein, daß das Leiden diagnostisch ausreichend geklärt ist.

Darin liegt keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung (Art 3 Abs 1 Grundgesetz). Die Kannversorgung, die früher in § 89 BVG enthalten war, will als Härteregelung diejenigen, die Wehrdienst zu Gunsten der Allgemeinheit geleistet haben, nicht an der Beweislast scheitern lassen, wenn sich für ein Leiden, das sich nach wissenschaftlich begründeten Arbeitshypothesen mit besonderen Belastungen des Wehrdienstes in Verbindung bringen läßt, allgemeingültige wissenschaftliche Erkenntnisse noch nicht haben gewinnen lassen. Sie setzt damit mehr voraus als die nicht auszuschließende Möglichkeit eines Zusammenhangs mit dem Wehrdienst. Schon darin liegt ein wesentlicher Unterschied zu der Beweislage im Falle des Klägers, bei dem sich nur letzteres feststellen läßt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 946348

SozR 3-3200 § 81, Nr. 13

Breith. 1996, 872

SozSi 1997, 76

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