Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Der Kläger war Zeitsoldat. Am 19. September 1991 fuhr er mit dem Auto von seinem Wohnort auf direktem Weg zum Dienstantritt in die Kaserne. Beim Überholen einer Kolonne aus je zwei Lastkraft- und Personenwagen in einer Rechtskurve stieß das Auto des Klägers frontal mit einem entgegenkommenden Kraftfahrzeug zusammen. Der Kläger trug ein Schädelhirntrauma, multiple Mittelgesichtsfrakturen und eine Tibiakopffraktur davon. Verblieben ist u.a. der Verlust der Sehkraft des linken Auges.

Mit rechtskräftigem Strafbefehl des Amtsgerichts D. ist der Kläger wegen eines Vergehens nach § 315c Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 1 Strafgesetzbuch (StGB) bestraft worden, weil er vorsätzlich im Straßenverkehr grob verkehrswidrig und rücksichtslos falsch überholt und dadurch fahrlässig Leib oder Leben eines anderen und fremde Sachen von bedeutendem Wert gefährdet hat.

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Ausgleich nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG) mit Bescheid vom 24. März 1992 und Widerspruchsbescheid vom 14. Juli 1992 ab. Die Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts SG Koblenz vom 30. März 1993). Das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz hat die Beklagte verurteilt, das Unfallereignis vom 19. September 1991 als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen und den Kläger wegen der Unfallfolgen zu entschädigen (Urteil vom 25. Februar 1994). Der Kläger habe auf dem Wege in die Kaserne unter Versorgungsschutz gestanden. Dieser Schutz sei auch nicht wegen einer vom Kläger selbst geschaffenen Gefahr entfallen. Er habe sich beim Überholen zwar grob verkehrswidrig, aber nicht in einem so hohen Grade vernunftwidrig verhalten, daß er höchstwahrscheinlich mit einem Unfall habe rechnen müssen.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 85, 80, 81 SVG. Der Unfall beruhe nicht auf Gefahren des Weges zum Dienst, sondern auf einer darüber hinausgehenden, vom Kläger selbst geschaffenen Gefahr. Versorgungsschutz bestehe deshalb nicht.

Die Beklagte beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 25. Februar 1994 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 30. März 1993 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das Urteil des LSG für richtig.

Das beigeladene Land Rheinland-Pfalz schließt sich - ohne eigenen Antrag - der Beklagten an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz SGG ).

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist begründet. Das klageabweisende Urteil des SG war wiederherzustellen, weil der Kläger bei dem Verkehrsunfall am 19. September 1991 keine Wehrdienstbeschädigung erlitten und deshalb auch keinen Anspruch auf Versorgung wegen der Unfallfolgen hat.

Gemäß § 80 Abs. 1 SVG erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes. Wehrdienstbeschädigung ist gemäß § 81 Abs. 1 SVG eine gesundheitliche Schädigung, die durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall herbeigeführt worden ist. Als Wehrdienst in diesem Sinne gilt auch das Zurücklegen des mit dem Wehrdienst zusammenhängenden Weges nach und von der Dienststelle (§ 81 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 SVG).

Das rücksichtslose Überholen, bei dem der Unfall passiert ist, kann nicht als Zurücklegen des mit dem Wehrdienst zusammenhängenden Weges nach der Dienststelle beurteilt werden.

Dem steht nicht entgegen, daß sich der Kläger auf der Strecke zwischen seiner Wohnung und der Dienststelle befand, daß kein anderes Ziel als die Dienststelle erkennbar ist und daß er sich auf dieses Ziel hin bewegte. Die Ablehnung des Versorgungsschutzes auf einem an sich geschützten Weg wird allerdings regelmäßig an ein Verhalten geknüpft, das geeignet ist, die Zurücklegung des Weges zur Dienststelle zu verzögern und nicht, wie hier, zu beschleunigen. Solche Ablehnungsfälle liegen vor, wenn ein Umweg oder Abweg gefahren oder auf der üblichen Strecke eine Pause eingelegt oder zurückgefahren wird. Entscheidend dafür, daß der Versorgungsschutz in diesen Fällen abzulehnen ist, ist aber nicht die räumliche oder zeitliche Abweichung von dem üblichen Weg, sondern der private Zweck, der regelmäßig der Grund für ein solches Abweichen ist.

Da das Gesetz nicht nur das Zurücklegen des Weges zu und von der Dienststelle, sondern auch den Zusammenhang mit dem Wehrdienst verlangt, kann der Versorgungsschutz auch dann entfallen, wenn der Soldat diesen Weg zwar zurücklegt, dabei aber einen wehrdienstfremden Zweck verfolgt. Das kann der Fall sein, wenn der Soldat auf dem üblichen Weg zum oder vom Dienst eine Wettfahrt unternimmt oder deshalb verkehrswidrig schnell fährt, damit er Zeit für private Einkäufe gewinnt (vgl. dazu Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl., Stand 1989, 480d I f und zur Anwendung unfallversicherungsrechtlicher Grundsätze auch auf Wegeunfälle im Versorgungsrecht BSG SozR 3200 § 81 Nrn. 13 und 25). Der Wegfall des Versorgungsschutzes bei verkehrswidrigem Fahren setzt aber voraus, daß solche privaten Zwecke nachgewiesen sind. Zweifel gehen zu Lasten der Verwaltung (BSGE 62, 100, 102 zum Wegeunfall in der Unfallversicherung). Der Versorgungsschutz entfällt auch bei nachgewiesener Verfolgung privater Zwecke nicht immer, sondern nur dann, wenn der private Zweck den dienstlichen Zweck überwiegt, der auf der Fahrt zu oder von der Dienststelle nicht beseitigt, sondern nur in den Hintergrund gedrängt werden kann.

Maßstab für die danach gebotene Abwägung des dienstlichen und des privaten Zweckes sind die Entscheidungen des Gesetzes zum Umfang des Versorgungsschutzes. Versorgungsschutz entfällt grundsätzlich nicht schon bei gefährlichem Handeln; nur absichtliche Selbstschädigung schließt nach § 81 Abs. 7 SVG den Versorgungsschutz aus. Der Umfang des Versorgungsschutzes wird aber auch durch die Vorschriften des Unfallversicherungsrechts mitbestimmt, wonach verbotswidriges (§ 548 Abs. 3 Reichsversicherungsordnung RVO ) und sogar mit Kriminalstrafe geahndetes Verhalten (§ 554 Abs. 1 RVO) den Versorgungsschutz nicht ausschließt. Denn die Grundentscheidungen des sozialen Unfallversicherungsrechts sind auch im Entschädigungsrecht zu beachten (BSG SozR 3200 § 81 Nr. 16; SozR 3-3200 § 81 Nr. 7).

Wenn ein Unfall bei einer selbstgefährdenden Handlung geschah, die mit Kriminalstrafe geahndet worden ist, beweist dies im allgemeinen noch nicht, daß ein versorgungsfremder Zweck verfolgt wurde, der den dienstlichen Zweck überwiegt. Anders ist das aber bei einer Verurteilung nach § 315 c Abs. 1 Nr. 2 StGB. Hier sind Zweifel daran, daß wehrdienstfremde Zwecke verfolgt wurden und daß sie den wehrdienstlichen Zweck überwogen, ausgeschlossen.

Es ist durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung festgestellt, daß der Kläger rücksichtslos gehandelt hat. Es steht darüber hinaus fest, daß er die Verletzung, für die er Entschädigung nach Versorgungsrecht verlangt, durch dieses rücksichtslose Verhalten selbst herbeigeführt hat. Daß der Kläger rücksichtslos gehandelt hat, konnte nach strafrechtlichen Grundsätzen nur festgestellt werden, weil keine beachtlichen Zweifel daran bestanden, daß er aus Eigensucht gehandelt hat. Denn Rücksichtslosigkeit kann nach ständiger Rechtsprechung der Strafgerichte nur festgestellt werden, wenn der Täter "sich aus eigensüchtigen Gründen über seine Pflichten hinweggesetzt oder aus Gleichgültigkeit Bedenken gegen sein Verhalten nicht hat aufkommen lassen" (vgl. Cramer in Schönke/Schröder, Strafgesetzbuch, 24. Aufl. 1991, § 315 c Rdnr. 27 mit Nachweisen). Die Feststellung eigensüchtigen, nicht nur eigennützigen Verhaltens schließt es aus anzunehmen, der Kläger habe trotzdem überwiegend im dienstlichen Interesse gehandelt.

Daß der Kläger aus eigensüchtigen Gründen gehandelt hat, besagt allerdings noch nicht zwingend, daß diese Gründe private waren. Auch fremde Zwecke können nach der Rechtsprechung der Strafgerichte eigensüchtig verfolgt werden. In diesen Fällen zeigt sich die Eigensucht an der Art und Weise, wie der Täter Zwecke verfolgt, die er erreichen will oder erreichen zu müssen glaubt. Ermittlungen darüber, ob und welche privaten Zwecke für das rücksichtlose Fahren maßgebend waren, sind aber entbehrlich, denn selbst wenn der Kläger im Rahmen einer solchen Motivforschung glaubhaft machen könnte, daß er sich von dem Wunsch hat leiten lassen, rechtzeitig zum Dienst zu kommen, liegt kein dienstliches Interesse vor, das höher zu bewerten wäre, als das Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs, das der Kläger in eklatanter Weise verletzt hat. Ob auch dann Rücksichtslosigkeit vorliegt, wenn der Täter grob verkehrswidrig fährt, weil er etwa als Notarzt Leben retten will, ist in der strafrechtlichen Literatur und Rechtsprechung umstritten (dafür Rüth in Leipziger Kommentar, 10. Aufl. 1988, § 315 c Rdnr. 33; dagegen Dreher/Tröndle Strafgesetzbuch, 46. Aufl. 1993, § 316 c Rdnr. 14 und Cramer in Schönke/Schröder, a.a.O., § 315 c Rdnr. 27a). Ob in einem solchen Ausnahmefall trotz strafgerichtlicher Verurteilung wegen rücksichtslosen Fahrens Versorgungsschutz gewährt werden könnte, braucht hier nicht geklärt zu werden.

Die Auffassung des Senats, daß bei einer Verurteilung wegen rücksichtslosen Fahrens nach § 315 c Abs. 1 Nr. 2 StGB der Versorgungsschutz grundsätzlich zu versagen ist, fügt sich auch in die ständige sozialgerichtliche Rechtsprechung bei einer Verurteilung nach § 315 c Abs. 1 Nr. 1 StGB ein. Durch außerordentliche Strafdrohungen in § 315 c Abs. 1 Nrn. 1 und 2 StGB versucht der Gesetzgeber, außerordentlichen Gefahren für die Sicherheit des Straßenverkehrs entgegenzuwirken, die sich aus Fahruntüchtigkeit (Nr. 1) sowie aus grob verkehrswidrigem und rücksichtslosem Verhalten (Nr. 2) ergeben. Die Rechtsprechung hat wegen der besonderen Gefährlichkeit des Alkohols für die Fahrtüchtigkeit von Kraftfahrern und der sich daraus ergebenden Auswirkungen auf die Sicherheit des Straßenverkehrs die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit und nicht die geschützten allgemeinen Straßenverkehrsgefahren als die wesentliche Bedingung für einen Unfall gewertet (vgl. Zusammenfassung der jahrzehntelangen Rechtsprechung in BSGE 59, 193, 195 f.). Dasselbe hat nach Auffassung des Senats zu gelten, wenn ein Kraftfahrer sich grob verkehrswidrig und rücksichtslos verhält und dadurch die Sicherheit des Straßenverkehrs gefährdet. Der nach § 315 c Abs. 1 Nr. 1 StGB handelnde Verkehrsteilnehmer ist nicht mehr fahrtüchtig, weil der Alkohol seine Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit herabgesetzt hat. Dieser Kraftfahrer kann sich deshalb im Straßenverkehr nicht mehr sicher bewegen. Der nach § 315b Abs. 1 Nr. 2 StGB handelnde Kraftfahrer ist nicht mehr fahrtüchtig, weil er sich eigensüchtig über elementare Regeln und Vorschriften des Straßenverkehrs hinwegsetzt. Er will sich im Straßenverkehr nicht mehr sicher bewegen. Der Volksmund spricht zutreffend davon, er fahre wie betrunken.

Die Feststellung der Rücksichtslosigkeit ist zwar nur in einem Strafbefehl getroffen worden; sie steht aber einer in einem Strafurteil getroffenen Feststellung gleich (vgl. § 410 Abs. 3 Strafprozeßordnung). Anders als im Gewaltopferentschädigungsrecht (vgl. dazu BSG SozR 3-3800 § 1 Nr. 1) haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hier auch auf Antrag des Klägers keine eigenen Ermittlungen und Beweiswürdigungen vorzunehmen. Im Gewaltopferentschädigungsrecht können sich die rechtsstaatlichen Grundsätze eines vorangegangenen Strafverfahrens zu Lasten des Gewaltopfers und späteren Klägers auswirken. Bei der Frage, ob das Unfallopfer bei einem riskanten Überholvorgang auf dem Weg zum Dienst rücksichtslos gehandelt hat, wirken sich diese Grundsätze zugunsten des Gewaltopfers und späteren Klägers aus. Die Behauptung, er habe nicht rücksichtslos gehandelt, wird im Strafverfahren abschließend geprüft und entschieden. Die hier entscheidende Frage, ob der Kläger bei der Fahrt zur Dienststelle wehrdienstfremde Zwecke in den Vordergrund gestellt hat, ist durch die strafgerichtliche Entscheidung beantwortet, daß er rücksichtslos gehandelt habe. Ob in besonderen Alarmfällen (vgl. BSG SozR 3-3200 § 86 Nr. 1) abweichend entschieden werden kann, bleibt offen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 180

NJW 1995, 2374

JuS 1996, 366

Breith. 1995, 620

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