Entscheidungsstichwort (Thema)

Feststellung einer Behinderung. Feststellung des GdB. Einzel-GdB. Gesamt-GdB. Herabsetzungsbescheid. maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt

 

Leitsatz (amtlich)

Das Schwerbehindertenrecht kennt nur einen Gesamtzustand der Behinderung. Dieser kann auf den Auswirkungen mehrerer zugleich vorliegender Funktionsbeeinträchtigungen beruhen. Ein GdB wird nur für den Gesamtzustand der Behinderung festgestellt, nicht für einzelne Funktionsbeeinträchtigungen. Soweit die Versorgungsverwaltung hierfür nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit einzelne Grade der Behinderung anzugeben hat, handelt es sich lediglich um Bewertungsfaktoren für die Einschätzung des (Gesamt-)GdB.

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

SchwbG § 3 Abs. 1-2, § 4 Abs. 3; SGB X §§ 45, 48 Abs. 1 S. 3, § 39

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 11.11.1996; Aktenzeichen L 11 Vs 1501/95)

SG Ulm (Entscheidung vom 24.02.1995; Aktenzeichen S 8 Vs 901/94)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. November 1996 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Bei der Klägerin wurde 1988 ein Blasenkarzinom entfernt. Der Beklagte stellte deshalb ab 1. Mai 1988 als Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) „Harnblasenteilausschneidung” mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 50 fest (Bescheid vom 24. November 1988). 1993 überprüfte er seine Entscheidung und stellte nach Anhörung der Klägerin als Behinderungen nunmehr – unter Wegfall der heilungsbewährten Harnblasenteilausschneidung – „Depressionen” und „Reizknie” fest. Den Gesamt-GdB setzte er von 50 auf 30 herab (Bescheid vom 10. Januar 1994). Im Widerspruchsverfahren wurde als weitere Behinderung ohne Erhöhung des GdB ein „Wirbelsäulensyndrom” festgestellt (Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1994).

Das Sozialgericht (SG) hat den GdB mit 40 festgestellt, nachdem der Beklagte während des sozialgerichtlichen Verfahrens als zusätzliche Behinderungen „Karpaltunnel-Syndrom rechts und Migräne” anerkannt und die Klägerin dieses Teilanerkenntnis angenommen hatte. Im übrigen hat das SG die – auf einen GdB von 50 gerichtete – Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Februar 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 11. November 1996). Es hat die Einschätzung des Gesamt-GdB mit 40 bestätigt, ohne dabei einen Einzel-GdB für die „bestandskräftig festgestellte Behinderung” Reizknie zu berücksichtigen. Denn Kniegelenksfunktionsstörungen hätten nicht – mehr – bestanden.

Die Klägerin macht mit ihrer – vom LSG zugelassenen – Revision geltend, das LSG habe §§ 3, 4 SchwbG und §§ 45, 48 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) verletzt. Zu Unrecht sei die Behinderung Reizknie bei der Bildung des Gesamt-GdB nicht berücksichtigt worden. Der Beklagte habe insoweit in seinem Bescheid vom 10. Januar 1994 einen Einzel-GdB von 20 zugrunde gelegt, obwohl schon damals keine Funktionsstörungen mehr vorgelegen hätten. An diese der Klägerin bekanntgegebene Entscheidung sei der Beklagte gebunden, so lange er den Bescheid in diesem Punkt nicht zurückgenommen oder widerrufen habe.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 11. November 1996 und das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 24. Februar 1995 sowie den Bescheid des Beklagten vom 10. Januar 1994 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Mai 1994 und den Ausführungsbescheid vom 1. Juni 1995 insoweit zu ändern, als der GdB geringer als mit 50 eingeschätzt worden ist.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Ein Einzel-GdB für die Behinderung Reizknie sei nicht zu berücksichtigen. Kniegelenksfunktionsstörungen lägen nicht – mehr – vor. Sie seien zwar mit einem Einzel-GdB von 20 dem Bescheid vom 10. Januar 1994 zugrunde gelegt worden. Ein solcher Einzel-GdB sei aber keiner eigenen Feststellung zugänglich, erscheine deshalb nicht im Verfügungssatz des Bescheides und werde folglich nicht bestandskräftig.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Das LSG hat den GdB nach Ablauf der Heilungsbewährung – wie schon der Beklagte mit den angefochtenen Bescheiden – zutreffend auf weniger als 50 eingeschätzt, so daß die Klägerin nicht mehr schwerbehindert iS des § 1 SchwbG ist. Ohne Erfolg wendet die Klägerin dagegen ein, der GdB betrage weiterhin 50, weil entgegen der Auffassung des LSG bei der GdB-Festsetzung eine bereits bei Erlaß des Herabsetzungsbescheides vom 10. Januar 1994 nicht mehr vorliegende, aber dort noch festgestellte Behinderung Reizknie mit einem Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen sei. Nur die Verwaltung sei nach § 45 SGB X befugt, die rechtswidrig getroffene Feststellung einer Behinderung aufzuheben. Solange das nicht geschehen sei, hätten die Gerichte auch eine tatsächlich nicht vorliegende, aber bindend festgestellte Behinderung GdB-erhöhend zu berücksichtigen. Diese Ansicht trifft nicht zu.

Mit den angegriffenen Bescheiden hat der Beklagte den GdB nach § 48 SGB X wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse herabgesetzt. Ein solcher Verwaltungsakt wirkt nicht auf Dauer, weil er sich im teilweisen Entzug des vormals festgestellten GdB erschöpft (BSG SozR 1300 § 45 Nr 5; Urteil vom 23. Juni 1993 – 9/9a RVs 1/92 – HVBG-Info 1994, 726; Urteil vom 15. August 1996 – 9 RVs 10/94 – Breithaupt 1997, 350). Für die Beurteilung einer dagegen gerichteten reinen Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) ist maßgeblich, ob der Herabsetzungsbescheid bei seinem Erlaß der Sach- und Rechtslage entsprochen hat (BSGE 79, 223, 225 ff = SozR 3-1300 § 48 Nr 57). Zu vergleichen sind danach im vorliegenden Fall die Verhältnisse bei Erlaß des Ausgangsbescheides vom 24. November 1988 mit denen, die bei Abschluß des Verwaltungsverfahrens über die Herabsetzung (Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1994) vorgelegen haben. Diesen Vergleich hat der Beklagte mit dem Ergebnis angestellt, daß der GdB von 50 auf 30 herabgesunken sei, die Instanzgerichte haben diese Einschätzung kontrolliert und ein geringeres Absinken des GdB auf nur 40 festgestellt, so daß es beim Wegfall der Schwerbehinderteneigenschaft blieb. Gegen dieses Ergebnis bestehen keine rechtlichen Bedenken.

Auch die Klägerin macht solche Bedenken nicht geltend, soweit das LSG den Gesamt-GdB ohne Berücksichtigung eines Einzel-GdB für die mit „Reizknie” bezeichnete Behinderung eingeschätzt hat. Die Klägerin gesteht darüber hinaus zu, daß bereits bei Erlaß des Herabsetzungsbescheides vom 10. Januar 1994 keine Funktionsstörungen der Kniegelenke – mehr – vorgelegen haben, mithin nach den Auswirkungen der tatsächlich bestehenden Funktionsbeeinträchtigungen der GdB in dem für die Beurteilung der Sachlage maßgeblichen Zeitpunkt (Widerspruchsbescheid vom 5. Mai 1994) nur 40 betragen hat. Sie verlangt aber, den GdB über die von den Instanzgerichten vorgenommene Korrektur – von 30 auf 40 – hinaus wegen der tatsächlich nicht vorliegenden, aber „verbindlich festgestellten Behinderung” Reizknie bei 50 zu belassen. Diese Forderung ist unbegründet.

Der Beklagte war zwar während des Widerspruchsverfahrens und die Instanzgerichte waren während des anschließenden sozialgerichtlichen Verfahrens gehindert, die Klägerin, die den Verwaltungsakt angefochten hatte, schlechter zu stellen, als sie gestanden hätte, wenn sie die Entscheidung der Verwaltung hingenommen hätte. Das ergibt sich aus dem Zusammenspiel von § 39 SGB X und § 77 SGG. Danach wird ein begünstigender Verwaltungsakt, soweit er nicht angefochten wird, zugunsten des Berechtigten und zu Lasten der Verwaltung bindend (vgl dazu und zur Durchbrechung dieser Bindungswirkung auch während eines laufenden Widerspruchsverfahrens BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 5). Das LSG hat aber die Bindungswirkung beachtet, obwohl es den Gesamt-GdB eingeschätzt hat, ohne dabei die Behinderung „Reizknie” zu berücksichtigen. Denn von der Klägerin unangefochten und damit für den Beklagten – und die Gerichte – bindend war im Bescheid vom 10. Januar 1994 zunächst nur ein GdB von 30 festgestellt. Unter diese bindend festgestellte Grenze durfte das LSG nicht zurückgehen. Das hat es auch nicht getan. Es hat im Gegenteil die Einschätzung des Beklagten zugunsten der Klägerin korrigiert, wenn auch nur auf einen GdB von 40 statt des von der Klägerin erstrebten GdB von 50.

Inwieweit der Beklagte darüber hinaus im Bescheid vom 10. Januar 1994 mit „Reizknie” überhaupt Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung und so iS des § 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG eine Behinderung bezeichnet hat (vgl BSG SozR 3870 § 4 Nr 3 und SozR 3-1300 § 48 Nr 25), ob er damit iS des § 4 Abs 1 SchwbG eine Feststellung getroffen hat (vgl BSGE 60, 11, 13 = SozR 3870 § 3 Nr 21 und SozR 3870 § 4 Nr 1) und eine solche Feststellung als Verfügungssatz der Bindung zugänglich wäre, obwohl davon weder Steuervorteile noch Nachteilsausgleiche noch sonstige Berechtigungen und anders als im sozialen Entschädigungsrecht von der anerkannten Schädigungsfolge auch keine Ansprüche auf Heilbehandlung abhängen, kann offenbleiben (offengelassen bereits in SozR 3870 § 4 Nr 3; vgl auch Saul, VersorgVerw 1996, 74 sowie Biebrach-Nagel, VersorgVerw 1997, 8). Selbst wenn all das der Fall wäre, so bleiben bindend getroffene Regelungen im Verwaltungsakt vom 10. Januar 1994 doch dadurch unberührt, daß das LSG einen Einzel-GdB für diese „verbindlich festgestellte” aber zu nichts berechtigende Behinderung nicht berücksichtigt hat. Denn ein solcher Einzel-GdB wird nicht festgestellt und ist auch hier vom Beklagten nicht festgestellt worden. Den für die Festsetzung des Gesamt-GdB im Bescheid vom 10. Januar 1994 zugrunde gelegten Einzelgraden der Behinderung kommt keine Bindungswirkung zu (vgl BSG SozR Nr 44 zu § 77 SGG; SozR 3870 § 4 Nr 1; SozR 3-3870 § 4 Nr 5; Urteil vom 18. Dezember 1996 – 9 RV 17/95 –, SGb 1997, 165). Zwar setzt eine Behinderung, anders als die Schädigungsfolge im sozialen Entschädigungsrecht, notwendig einen Grad von mindestens 10 voraus (vgl Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG 1996 ≪AHP 1996≫, Nrn 16 und 17, S 28). Daraus läßt sich aber nicht im Gegenschluß folgern, jede in einem Bescheid aufgeführte „Behinderung” – iS eines gegenüber dem SchwbG erweiterten Sprachgebrauchs (s dazu weiter unten) – müsse bei der Einschätzung des (Gesamt-)GdB mit einem Einzel-GdB berücksichtigt werden. Gerade die von der Klägerin geltend gemachte Verknüpfung zwischen „Behinderung” und Einzel-GdB wird in Bescheiden der Versorgungsverwaltung nicht festgestellt.

Eine solche Feststellung von Einzelgraden der „Behinderung(en)” verstieße gegen die Vorstellung des SchwbG, wonach es – entgegen dem in der Praxis der Versorgungsverwaltung und in der Rechtsprechung üblichen Sprachgebrauch – nicht mehrere „Behinderungen”, sondern nur einen Gesamtzustand der Behinderung gibt, der zwar auch auf den Auswirkungen mehrerer Funktionsbeeinträchtigungen beruhen kann, der aber stets nur mit einem (Gesamt-)GdB zu bewerten ist. Das ergibt sich aus § 3 Abs 1 Satz 4, Abs 2 und § 4 Abs 1 und 3 SchwbG. Die AHP folgen dieser Terminologie. Sie sprechen nicht von mehreren „Behinderungen” und deren Graden, sondern schreiben vor, daß die Versorgungsverwaltung für mehrere zugleich bestehende Funktionsbeeinträchtigungen jeweils einen Einzel-GdB „anzugeben” hat (AHP 1996, Nr 19 Abs 1, S 36). Dabei handelt es sich aber lediglich um Einsatzgrößen, mit denen die Einschätzung des (Gesamt-)GdB einerseits vorbereitet, andererseits nachvollziehbar begründet und damit überprüfbar gemacht wird. Darin erschöpft sich die Bedeutung der Einzel-GdB. Sie gehen als bloße Meßgrößen für mehrere zugleich vorliegende Funktionsbeeinträchtigungen restlos im (Gesamt-)GdB auf, und dieser allein gibt das Maß der Behinderung nach den Gesamtauswirkungen sämtlicher Funktionsbeeinträchtigungen an. Sofern Verwaltung und Gerichte dies beachten, hat der Senat keine Bedenken, weiterhin der in Praxis und Rechtsprechung fest eingebürgerten Übung zu folgen, und schlagwortartig von „Behinderungen” zu sprechen, obwohl damit strenggenommen Funktionsbeeinträchtigungen gemeint sind.

Danach hat die Fehleinschätzung des GdB in den angefochtenen Bescheiden – anders als von der Klägerin geltend gemacht – keine rechtswidrig begünstigenden Auswirkungen gehabt. Solche Auswirkungen hätten sich nur ergeben können, wenn der Beklagte die im Zeitpunkt der Herabsetzungsentscheidung tatsächlich bestehende Gesamtbehinderung (Behinderung iS des § 4 Abs 1 SchwbG) mit einem überhöhten GdB eingeschätzt hätte. Dieser überhöhte GdB wäre verbindlich geworden und der Klägerin deshalb im Widerspruchsverfahren und im anschließenden sozialgerichtlichen Verfahren erhalten geblieben. Hier lag der Fall aber umgekehrt. Der Beklagte hatte den GdB zu niedrig eingeschätzt und deshalb gegenüber dem Ausgangsbescheid vom 24. November 1988 zu stark herabgesetzt. Denn er hatte von den tatsächlich vorhandenen „Behinderungen” nur „Depressionen”, nicht aber „Wirbelsäulensyndrom”, „Karpaltunnel-Syndrom rechts und Migräne” berücksichtigt. Dadurch wurde der für die tatsächlich bestehende Behinderung zutreffende GdB von 40 unterschritten, obwohl der Beklagte zusätzlich zu „Depressionen” noch tatsächlich nicht bestehende Funktionseinschränkungen wegen der „Behinderung Reizknie” in die GdB-Einschätzung einbezogen hatte. Mit einem GdB von – nur – 40 ist der Status der Klägerin so geregelt, wie es das SchwbG verlangt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE 81, 50

BSGE, 50

SozR 3-3870 § 3, Nr. 7

SozSi 1999, 118

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