Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeld bei Unterbringung eines behinderten Stiefkindes in einem Heim. Lebensmittelpunkt. Betreuungsaufwand

 

Leitsatz (amtlich)

1. Kindergeld kann auch bei einer Unterbringung eines schwerstbehinderten Stiefkindes in einer Anstalt zustehen. Neben dem dort begründeten neuen Lebensmittelpunkt kann der bisherige ortsbezogene Mittelpunkt gemeinschaftlicher Lebensinteressen des Stiefelternteils und des Stiefkindes in der Familienwohnung fortbestehen.

2. Im Kindergeldrecht hat ein Stiefelternteil nicht einen bestimmten Mindestanteil am gesamten Unterhalts-/ Betreuungsbedarf des Stiefkindes zu erbringen, um dessen Aufnahme in den Haushalt annehmen zu können (Abgrenzung zu BSG vom 15.3.1988 - 4/11a RA 14/87 = SozR 2200 § 1267 Nr 35 = BSGE 63, 79 und BSG vom 22.4.1992 - 5 RJ 28/91 = SozR 3 - 2200 § 1267 Nr 2).

 

Normenkette

BKGG § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 2 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Verfahrensgang

SG Reutlingen (Entscheidung vom 28.03.1990; Aktenzeichen S 10 Kg 611/89)

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.01.1992; Aktenzeichen L 12 Kg 1088/90)

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Beklagte die Bewilligung von Kindergeld, das dem Kläger für seinen Stiefsohn N. E. (N.) gewährt wurde, aufheben durfte.

Der Kläger heiratete 1973 die Mutter des am 7. November 1964 geborenen N. Nach einem ärztlichen Attest des staatlichen Gesundheitsamtes Tuttlingen aus dem Jahre 1972 leidet das Kind unter einem folgenschweren frühkindlichen Hirnschaden. Der Kläger nahm N. in die eheliche Wohnung auf. Er bestritt dessen finanziellen Unterhalt, da die Mutter nicht erwerbstätig war, und betreute ihn wie einen eigenen Sohn. Der Beklagte gewährte dem Kläger Kindergeld.

Ab 15. Juni 1981 wurde N. in den K. Anstalten - Epilepsiezentrum K. - untergebracht. Hier besuchte er die staatlich anerkannte Heimsonderschule für körperbehinderte (anfallkranke) Kinder und Jugendliche. Er behielt innerhalb der Wohnung des Klägers ein eigenes Zimmer. Spielzeug, Gerätschaften für seine Betreuung und alles sonstige für sein Leben innerhalb der Familie Erforderliche wurden bereitgehalten. N. verbrachte die gesamten Schulferien und darüber hinaus nicht wenige Wochenenden, und zwar diejenigen, an denen der Kläger nicht wegen seiner beruflichen Tätigkeit außer Haus war, in der Wohnung des Klägers. Dieser holte ihn jeweils mit seinem PKW in den Anstalten ab und brachte ihn wieder zurück. Die Aufenthalte in der Wohnung des Klägers umfaßten etwa vier Monate im Jahr. Für die Kosten kam der Kläger allein auf. Seine finanziellen Aufwendungen für N. betrugen etwa 3.000,00 DM im Jahr. Die persönliche Fürsorge und Betreuung von N., der praktisch keine Minute alleingelassen werden konnte, teilten sich der Kläger und seine Ehefrau. Die Kosten für die Unterbringung in den Anstalten wurden von dem Landeswohlfahrtsverband getragen.

Mit Ablauf des Dezember 1985 stellte der Beklagte ohne Anhörung des Klägers und Erlaß eines Aufhebungsbescheides die Zahlung von Kindergeld ein. Erst danach zog er von den Heimärzten Dr. T. und Dr. Z. sowie von der Heimsonderschule die Berichte vom 15. Januar 1986, 3. Juli 1987 und 11. Januar 1988 bei.

Mit Bescheid vom 9. Mai 1988 entzog der Beklagte das Kindergeld für N. ab 1. Juni 1988. Für die Zeit vom 1. Januar 1986 bis 31. Mai 1988 wurde eine Nachzahlung verfügt. Zur Begründung wurde ausgeführt, daß seit einem im einzelnen nicht bestimmbaren Zeitpunkt die K. Anstalten im tatsächlichen und rechtlichen Sinne zum Lebensmittelpunkt des N. geworden seien. Er sei auf nicht absehbare Zeit aus dem Haushalt des Klägers ausgeschieden. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Februar 1989).

Während des Klageverfahrens wurde N. Anfang Januar 1990 innerhalb der Korker Anstalten in eine Förder- und Betreuungsgruppe in der Werkstatt für Behinderte aufgenommen. Nach Angabe des Landessozialgerichts (LSG) beruhte die Änderung auf dem Wegfall der "Schulpflicht". Damit entfielen Schulferien. N. hatte wie ein Arbeitnehmer Anspruch auf 30 Urlaubstage. Die Kosten der Unterbringung wurden weiterhin vom Landeswohlfahrtsverband getragen. N. verbringt den Urlaub in der Wohnung des Klägers.

Mit Urteil vom 28. März 1990 hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen. Durch Urteil vom 30. Januar 1992 hat das LSG den Beklagten unter Abänderung des Urteils des SG und der angefochtenen Bescheide verurteilt, dem Kläger Kindergeld bis zum 31. Januar 1990 zu gewähren. Im übrigen ist die Berufung zurückgewiesen worden. In den Entscheidungsgründen hat das LSG ausgeführt, daß die von dem Beklagten und dem SG vorgenommene Gesetzesauslegung im Ergebnis den Vater eines schwerbehinderten Kindes schlechter stelle als denjenigen eines gesunden Kindes. Für die Dauer der "Schulpflicht" habe der Beklagte das Kindergeld weiter zu gewähren. Bis zu diesem Zeitpunkt hätten Verhältnisse vorgelegen, die dem Normalfall eines auswärts studierenden bzw sich in Schul- oder Berufsausbildung befindlichen Kindes entsprächen. Der Kläger habe seinem schwerbehinderten Stiefsohn in weitaus größerem Maße Fürsorge zugewendet, als dies bei einem nichtbehinderten auswärts in Ausbildung befindlichen Kind üblicherweise der Fall sei. Der gewährte materielle Unterhalt habe mindestens ein Viertel des insgesamt erforderlichen Betreuungsaufwandes umfaßt. Mit Ablauf der "Schulpflicht" sei dagegen die lockere Aufrechterhaltung der räumlichen Verbindung im Jahre 1990 beendet worden.

Die von LSG zugelassene Revision haben sowohl der Kläger als auch der Beklagte eingelegt.

Der Kläger trägt vor, daß zwar die förmliche Schulpflicht für N. im Jahre 1990 geendet habe, eine Änderung im Lebensalltag dadurch jedoch nicht eingetreten sei. N. verbringe weiterhin seinen gesamten Urlaub und viele Wochenenden in der Familienwohnung. Diese sei weiterhin sein Lebensmittelpunkt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 30. Januar 1992 abzuändern und das Urteil des SG Reutlingen vom 28. März 1990 sowie den Bescheid des Beklagten vom 9. Mai 1988 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1989 in vollem Umfang.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen und unter Abänderung des Urteils des LSG Baden-Württemberg vom 30. Januar 1992 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Reutlingen vom 28. März 1990 in vollem Umfang zurückzuweisen.

Der Beklagte macht geltend, daß das LSG für die Zeit nach Januar 1990 zutreffend entschieden habe, daß wegen der fehlenden Aufnahme des Stiefkindes N. in den Haushalt des Klägers kein Anspruch auf Kindergeld bestehe. Ein solcher bestehe entgegen der Auffassung des LSG auch nicht während der Dauer der Schulpflicht.

Der Kläger beantragt,

die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

Er ist der Auffassung, das LSG habe im Hinblick auf die Schulpflicht zu Recht festgestellt, daß ihm bis Januar 1990 Kindergeld zu gewähren sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revisionen sind zulässig. Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Die Revision des Klägers hatte Erfolg.

Die Gewährung von Kindergeld für den Stiefsohn N. war im Zeitpunkt der Aufhebung zum 1. Juni 1988 nicht rechtswidrig. Demgemäß ist es unerheblich, ob - wie von dem Beklagten angenommen - § 48 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) als Rechtsgrundlage für eine Aufhebung der Kindergeldzahlung in Betracht kam oder er eine Rücknahme nach § 45 SGB X hätte vornehmen müssen. Die Anspruchsvoraussetzungen für das Kindergeld waren nach wie vor gegeben. Eine möglicherweise im Januar 1990 eingetretene Änderung in den Verhältnissen ist im anhängigen Verfahren nicht zu beachten.

Die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 1 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) und des § 2 Abs 1 Nr 1 und Abs 2 Nr 3 BKGG lagen bei der Bescheiderteilung vor. Auf diesen Zeitpunkt kommt es hier allein an. In einem Anfechtungsprozeß verfolgt der Kläger das Ziel, den angefochtenen Verwaltungsakt aufheben zu lassen. Die erfolgreiche Anfechtungsklage führt zur Beseitigung des Aufhebungs- bzw Entziehungsbescheides und zur Wiederherstellung des vorangehenden Zustandes (BSGE 49, 197, 198 f; 58, 49, 54). Dadurch wird dem Rechtsschutzbedürfnis des Klägers Genüge getan. Aus dem Wesen der Kassation folgt, daß für die gerichtliche Entscheidung grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Bescheiderteilung maßgebend ist (vgl zuletzt Bundessozialgericht (BSG) SozR 3-1500 § 54 Nr 18). Es ist nicht zu prüfen, ob der aufhebende Verwaltungsakt zu einem späteren Zeitpunkt aufgrund einer nachfolgenden Änderung der Sach- und/oder Rechtslage sozusagen in die Rechtmäßigkeit hineingewachsen ist. Demgemäß ist eine während des Klageverfahrens im Januar 1990 möglicherweise eingetretene Änderung nicht zu berücksichtigen.

Zu Recht hat der Kläger zunächst das Kindergeld bezogen. Entgegen der Auffassung des Beklagten und des SG und insoweit jedenfalls im Ergebnis übereinstimmend mit dem LSG ist bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1989 keine Anspruchsvoraussetzung für die Berücksichtigung des Stiefsohnes weggefallen.

Gemäß § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 1 BKGG werden Stiefkinder nur berücksichtigt, wenn der Berechtigte sie in seinen Haushalt aufgenommen hat. Unter Haushaltsaufnahme ist nicht nur ein örtlich gebundenes Zusammenleben zwischen Stiefeltern und Stiefkindern zu verstehen, sondern sie ist die Schnittstelle von Merkmalen örtlicher (Familienwohnung), materieller (Vorsorge, Unterhalt) und immaterieller Art (Zuwendung von Fürsorge, Begründung eines familienähnlichen Bandes). Fehlt oder entfällt auch nur eines dieser drei Kriterien, liegt eine Aufnahme des Stiefkindes in den Haushalt nicht vor (BSG SozR 2200 § 1262 Nr 14; BSG SozR 2200 § 1267 Nr 35; BSG SozR 5870 § 3 Nr 6). Im anhängigen Verfahren waren diese drei Voraussetzungen auch nach Aufnahme des Stiefkindes N. in die K. Anstalten im Juni 1981 weiterhin erfüllt.

Das örtliche Merkmal erfordert, daß Stiefelternteil und Stiefkind einer Familiengemeinschaft angehören und damit auch einen ortsbezogenen Mittelpunkt gemeinschaftlicher Lebensinteressen, dh eine gemeinsame Familienwohnung haben (BSG SozR 5870 § 3 Nr 6). Eine räumliche Trennung führt nicht zwangsläufig dazu, die Haushaltsaufnahme zu verneinen. In der bisherigen Rechtsprechung des BSG ist beispielsweise als unschädlich angesehen worden, wenn die Trennung vorübergehender Natur ist. Ist dagegen die Unterbringung außerhalb der Familienwohnung derart gestaltet, daß kein ortsbezogener Mittelpunkt gemeinschaftlicher Lebensinteressen mehr besteht und ein solcher nicht in absehbarer Zeit hergestellt werden soll, ist eine weitere Aufnahme in den Haushalt verneint worden. So ist eine Beendigung der Haushaltsaufnahme in der Anordnung der Fürsorgeerziehung mit Heimunterbringung gesehen worden (BSGE 20, 91, 94; 33, 105, 106 f; BSG SozR 2200 § 1262 Nr 31; zum Sonderfall einer vorübergehenden Unterbringung bei Fürsorgeerziehung vgl BSGE 29, 294 ff). Eine dauernde Aufhebung der Haushaltsaufnahme wurde ferner angenommen, wenn das Kind in einem anderen Staat (DDR) zurückgelassen wurde (BSG SozR 2200 § 1262 Nr 14). Als unschädlich ist dagegen die auswärtige Unterbringung während einer Schul- oder Berufsausbildung angesehen worden (BSGE 25, 109, 111; 33, 105, 106; BSG SozR 2200 § 1262 Nr 31); ebenso die räumliche Trennung während eines Studiums, es sei denn, die Anmietung einer eigenen Wohnung erfolgte unter Umständen, die dokumentierten, daß die räumliche Trennung auf Dauer angelegt war (BSG SozR 5870 § 3 Nr 6). Schließlich wurde bei vorübergehendem Krankenhausaufenthalt bzw Einweisung in eine Heilstätte die Haushaltsaufnahme als nicht beendet angesehen (BSG SozR 2200 § 1267 Nr 43).

Die beschriebenen Sachverhalte unterscheiden sich wesentlich vom vorliegenden Fall. Entgegen der Auffassung des LSG läßt sich kein Vergleich zu der Situation eines auswärts studierenden bzw sich auswärts in Schul- oder Berufsausbildung befindlichen Kindes ziehen. Zu Recht weist der Beklagte darauf hin, daß die auswärtige Unterbringung nicht erfolgte, um eine schulische Ausbildung durchzuführen. Ob überhaupt - wie das LSG angenommen hat - eine Schulpflicht des N. bestand, ist im Hinblick auf dessen Lebensalter zweifelhaft, kann jedoch dahinstehen (vgl §§ 15, 72 - 75, 82 ff des Schulgesetzes für Baden-Württemberg idF vom 1. August 1983 ≪GBl S 397≫, zuletzt geändert durch Art 5 des Gesetzes vom 4. Juni 1991 ≪GBl S 299≫). Entscheidend ist, daß nach den Feststellungen des LSG, die auf dem Bericht des Heimarztes Dr. T. vom 15. Januar 1986 beruhen, bei N. eine besonders schwerwiegende geistige und körperliche Behinderung besteht. Infolge der Mehrfachbehinderungen kann N. nicht auf Dauer zu Hause gepflegt und verwahrt werden. Neben der Epilepsie liegt ein organisches Psychosyndrom mit schwerer geistiger Behinderung und ohne Sprache vor. N. benötigt neben medizinischer Behandlung eine intensive psycho-pädagogische Betreuung und Förderung. Er ist nicht wie ein Schüler oder Student "vorübergehend" zu Ausbildungszwecken auswärts untergebracht worden.

Der gesundheitlich bedingte Dauerzustand verbietet ebenfalls einen Vergleich mit Fällen einer vorübergehenden Krankenhaus- oder Heilstättenbehandlung. Darüber hinaus läßt sich keine Gleichstellung mit den Fällen der angeordneten Fürsorgeerziehung bei dauernder Heimunterbringung vornehmen. Eine solche Heimerziehung dient gerade dem Zweck, das Kind aus seiner bisherigen Umgebung zu entfernen, um auf seine Erziehung einzuwirken (BSGE 33, 105, 106). Sie ist nicht nur mit einer räumlichen Trennung verbunden, vielmehr wird den bisher Verantwortlichen jede Möglichkeit genommen, die Personensorge zu beeinflussen (BSG SozR 2200 § 1262 Nr 31).

Solche Umstände sind hier bei der Anstaltsunterbringung des N. nicht gegeben. Die Eltern bzw der Kläger als Stiefvater werden gerade nicht von einer Betreuung und Beeinflussung ausgeschlossen. Ob eine solche Einflußnahme sogar psycho-pädagogisch wünschenswert ist, läßt sich mangels entsprechender Feststellungen in dem Urteil des LSG nicht beantworten. Soweit der Kläger hierzu erstmals im Revisionsverfahren Ausführungen gemacht hat, kann sein Vorbringen nicht berücksichtigt werden. Hierauf kommt es letztlich auch nicht an. Entscheidend ist, daß im Gegensatz zu einer angeordneten Heimerziehung die Unterbringung eines schwerstbehinderten Kindes in einer Anstalt nicht zwangsläufig zu einer Beendigung der Haushaltsaufnahme führen muß.

Neben dem durch die Anstaltsaufnahme begründeten neuen Lebensmittelpunkt des N. bestand sein bisheriger ortsbezogener Mittelpunkt gemeinschaftlicher Lebensinteressen mit dem Kläger fort. Solche nebeneinander bestehenden Mittelpunkte schließen sich nicht begriffsinhaltlich aus. Das örtliche Merkmal der Haushaltsaufnahme stellt nicht darauf ab, ob N. allein - wie in der Anstalt - einen ortsbezogenen Mittelpunkt seiner Lebensinteressen hat, sondern darauf, ob ein solcher gemeinschaftlich mit seinem Stiefvater besteht. Neben einem individuellen, ausschließlich einer Person zuzuordnenden Lebensmittelpunkt kann ein weiterer fortbestehen oder begründet werden, der durch das Merkmal der gemeinschaftlichen Lebensinteressen mehrere Personen verbindet. Eine Begriffsidentität, die ein Nebeneinander ausschließen würde, besteht nicht.

Für diese differenzierende Betrachtung spricht auch der Sinn und Zweck der Kindergeldgewährung. Leistungsberechtigt sollen - außer den Eltern - vor allem diejenigen Personen sein, die ein Kind wie ein eigenes versorgen, betreuen und unterhalten, die also die Lasten tragen. Verlangt der Gesamtleidenzustand eines schwerstbehinderten Kindes eine dauernde Versorgung außerhalb der Familienwohnung, erfolgt aber dennoch auch eine zeitlich bedeutsame (Weiter-) Betreuung in dieser Wohnung, ist es gerechtfertigt, die Stiefeltern am Familienlastenausgleich jedenfalls dann zu beteiligen, wenn vor- oder gleichrangige Berechtigte nicht vorhanden sind. Ein ortsbezogener Mittelpunkt gemeinschaftlicher Lebensinteressen des Stiefkindes und des Stiefelternteils kann somit bestehen, auch wenn die Anstaltsunterbringung - schon vom zeitlichen Umfang her - ebenfalls einen Lebensmittelpunkt des Kindes darstellt. Ob die Voraussetzungen des örtlichen Merkmals der Haushaltsaufnahme erfüllt sind, beurteilt sich nach den Umständen des Einzelfalles.

Der Senat hat davon auszugehen, das N. innerhalb der Familienwohnung auch nach der Anstaltsunterbringung ein eigenes Zimmer hatte. Gerätschaften für seine Betreuung, Spielzeug und alles sonstige für sein Leben innerhalb der Familie Erforderliche wurden für ihn bereitgehalten. N. verbrachte die Schulferien und darüber hinaus nicht wenige Wochenenden in der Wohnung des Klägers. Dieser holte ihn jeweils in den Anstalten ab und brachte ihn zurück. Insgesamt verbrachte N. etwa vier Monate im Jahr in der Wohnung des Klägers. Diese Feststellungen des LSG hat der Beklagte nicht mit Verfahrensrügen beanstandet. Die Bereitstellung eines Zimmers mit einer behindertengerechten Ausstattung und die zeitliche Dauer des Aufenthaltes in der Wohnung des Klägers zeigen, das N. sich dort nicht nur zu Besuchszwecken aufhielt, sondern die Wohnung trotz der Anstaltsunterbringung der ortsbezogene Mittelpunkt der gemeinschaftlichen Lebensinteressen blieb, weil hier das Familienleben weiter gestaltet wurde.

Auch das materielle Merkmal für die Annahme einer fortbestehenden Haushaltsaufnahme ist gegeben. Auf ein bestimmtes Mindestmaß an Unterhaltsleistungen ist nicht abzustellen. Das LSG hat sich für seine abweichende Auffassung zu Unrecht auf das Urteil des 4. Senats des BSG vom 15. März 1988 (BSG SozR 2200 § 1267 Nr 35) berufen, dem sich der 5. Senat angeschlossen hat (BSG SozR 3-2200 § 1267 Nr 2). Der 4. Senat (aaO) hat allein für den Bereich der Waisenrente gefordert, daß der Bar- und/oder Betreuungsunterhalt mindestens ein Viertel des insgesamt für das Kind aufzubringenden Betreuungsaufwandes betragen müsse. Ausdrücklich ausgeklammert wurden Leistungen im Familienlastenausgleich, wie der rentenrechtliche Kinderzuschuß und das Kindergeld. Zum Kinderzuschuß hat der 4. Senat des BSG bereits in dem Urteil vom 19. Oktober 1977 (BSGE 45, 67, 69 ff) dargelegt, daß es dem Sinn und Zweck des Familienlastenausgleichs widerspreche, wenn der Anspruchsberechtigte überhaupt nicht materiell belastet sei. Wie dessen Leistungen jedoch gestaltet sein müßten und welches Mindestmaß an Fürsorge zu verlangen sei, richte sich nach den Umständen des Einzelfalles. Wegen der gleichen gesetzlichen Zweckbestimmung gelten diese Erwägungen auch im Kindergeldrecht. Zu fordern ist allein, daß der Kläger einen "nennenswerten" Betreuungsaufwand geleistet hat. Dies ist aufgrund der Feststellungen des LSG zu bejahen.

Danach teilten sich der Kläger und seine Ehefrau den Betreuungsaufwand für N., der praktisch keine Minute allein gelassen werden konnte. Der Kläger kam - abgesehen von den Unterbringungskosten - für den gesamten finanziellen Unterhaltsbedarf auf. Seine finanziellen Aufwendungen wurden für den Zeitraum bis Januar 1990 mit etwa 3.000,00 DM im Jahr beziffert. Diese Feststellungen hat der Beklagte nicht mit Verfahrensrügen beanstandet. Er hat lediglich gerügt, daß das LSG für die Zeit bis 1990 den gesamten finanziellen Unterhaltsbedarf des Stiefsohnes für ein Jahr hätte ermitteln müssen, um das Verhältnis des Teils, den der Kläger erbringe, zu dem Gesamtbedarf beziffern zu können. Da es jedoch auf die Feststellung eines erbrachten Mindestanteils an sämtlichen materiellen Zuwendungen nicht ankommt, ist die gerügte Unterlassung nicht entscheidungserheblich.

Die materiellen Aufwendungen des Klägers in Form von Bar- und Betreuungsunterhalt gehen eindeutig über das Maß hinaus, das üblicherweise bei Besuchen geleistet wird. Der Kläger hat seinen Stiefsohn N. jedenfalls für den Zeitraum bis zum Erlaß des Widerspruchsbescheides vom 27. Februar 1989 unter Berücksichtigung der anstaltsbedingten Besonderheiten weiterhin wie ein Kind im Rahmen der Familiengemeinschaft versorgt.

Schließlich ist auch das für die Annahme einer Haushaltsaufnahme wesentliche immaterielle Merkmal erfüllt. Aus den Feststellungen des LSG ist zu folgern, daß der Kläger seinem schwerstbehinderten Stiefsohn N. Fürsorge auch in Form von persönlicher Zuwendung und Erziehung, soweit dies aufgrund der Behinderung möglich war und ist, erbracht hat, und zwar in einem weit größerem Maße als dies bei einem nichtbehinderten, auswärts in Ausbildung befindlichen Kind üblich ist.

Damit waren im Zeitpunkt der Bescheiderteilung alle drei notwendigen Merkmale einer Haushaltsaufnahme erfüllt. Die Revision des Klägers mußte Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Breith. 1994, 954

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