Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassung der Berufung. Streitwert. Willkür

 

Orientierungssatz

1. Die Berufungsausschlußgründe der §§ 144 bis 149 SGG aF knüpfen nur ausnahmsweise - und dann ausdrücklich -, zB bei § 144 Abs 2 SGG, an Wertgrenzen an. Deshalb ist eine Berufung nicht über § 144 Abs 1 SGG aF hinaus zulässig, weil sie einen bestimmten Streitwert erreicht.

2. Willkürlich ist die Nichtzulassung der Berufung nur dann, wenn sie bei Beachtung der Rechtsauffassung des SG unter keinem Gesichtspunkt vertretbar ist. Hierfür aber reicht der angeführte Umstand, das SG habe in einem Parallelverfahren die Berufung zugelassen, im vorliegenden jedoch nicht, nicht aus.

 

Normenkette

SGG § 144 Abs 1, § 144 Abs 2, § 150 Nr 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 27.05.1993; Aktenzeichen L 9 Ar 83/92)

 

Tatbestand

Der Kläger verfolgt einen Anspruch auf Konkursausfallgeld (Kaug) aus abgetretenem Recht. Nach Abweisung der Klage hat das Landessozialgericht (LSG) mit dem angefochtenen Urteil die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen. Das geltend gemachte Kaug sei ein Anspruch entweder auf eine einmalige oder auf eine wiederkehrende Leistung für einen Zeitraum bis zu 13 Wochen bzw 3 Monaten (§ 141b Abs 1 Arbeitsförderungsgesetz <AFG>), für die § 144 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aF den Berufungsausschluß anordne. Die Vorschrift sei hier, ebenso wie § 150 SGG aF, noch anzuwenden, weil das Urteil des Sozialgerichts (SG) vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I 50), nämlich vor dem 1. März 1993, ergangen sei (Art 14 Abs 1, 15 Abs 1 des Gesetzes). Das LSG sei daran gebunden, daß das SG die Berufung im Urteil nicht zugelassen habe. Dies sei auch nicht willkürlich geschehen, weil die Voraussetzungen für eine Zulassung der Berufung nicht vorgelegen hätten. Die Rechtssache habe weder eine grundsätzliche Bedeutung iS von § 150 Nr 1 2. Halbsatz 1. Alternative SGG aF noch sei das SG von Entscheidungen übergeordneter Gerichte iS der 2. Alternative dieser Bestimmung abgewichen. Schließlich sei dem SG auch kein wesentlicher Verfahrensmangel nach § 150 Nr 2 SGG aF unterlaufen.

Zur Begründung der hiergegen erhobenen Beschwerde beruft sich der Kläger auf die von ihm in den Beschwerdeverfahren 10 BAr 3 - 11/93 abgegebene Begründung. Dort hatte er vorgetragen, das LSG habe die Berufungen verfahrensfehlerhaft als unzulässig verworfen. Die am Zweck orientierte Auslegung der Berufungsbeschränkung des § 144 Abs 1 SGG aF ergebe, daß bei Streitwerten der hier vorliegenden Art der Berufungsausschluß nicht eingreife. Ferner habe das SG das Rechtsmittel aus "Willkür" nicht zugelassen. Dies ergebe sich daraus, daß das SG in einem exakt gleichgelagerten Fall durch denselben Vorsitzenden die Berufung wegen der grundsätzlichen Rechtsfragen zur Vorfinanzierung des Kaug zugelassen habe, im vorliegenden Verfahren jedoch nicht. Der Kläger habe darauf vertraut, daß auch hier die Berufung zugelassen werde. Die willkürliche Nichtzulassung durch das SG und deren Bestätigung durch das LSG verstoße gegen die Rechtsweggarantie des Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) sowie gegen die verfassungsrechtlich garantierten Rechte des Klägers auf den gesetzlichen Richter und Gewährung rechtlichen Gehörs. Ferner macht er eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache in materiell-rechtlicher Hinsicht geltend und hat insoweit nach Ablauf der Begründungsfrist einen weiteren Begründungsschriftsatz vom 14. September 1993 eingereicht.

 

Entscheidungsgründe

Die Beschwerde war als unzulässig zu verwerfen. Offen bleiben kann, ob dem Kläger ein Wiedereinsetzungsgrund hinsichtlich der verspäteten Einlegung der Beschwerde (Zustellung des LSG-Urteils am 5. Juli 1993; Eingang der Beschwerde am 6. August 1993) zur Seite steht. Denn in jedem Fall erfüllt die Beschwerde nicht die Voraussetzungen für eine formgerechte Bezeichnung des Zulassungsgrundes (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

Ebenfalls dahinstehen kann, ob als formgerechte Beschwerdebegründung eine Bezugnahme auf Vorgänge in anderen Streitsachen ausreicht. Denn auch mit Hilfe des Schriftsatzes, auf den der Kläger in der vorliegenden Beschwerdesache verweist, sind die genannten Formerfordernisse nicht erfüllt. Der Kläger rügt hierin, das LSG habe nicht in der Sache entschieden, sondern die Berufung als unzulässig verworfen. Der von ihm vorgetragene Sachverhalt ergibt jedoch insoweit keinen Verfahrensfehler.

Zwar ist es verfahrensfehlerhaft, wenn die Berufung als unzulässig verworfen wird, obwohl sie zulässig war (BSG vom 24. Januar 1974, SozR 1500 § 144 Nr 1). Im vorliegenden Fall war die Berufung jedoch - entgegen der Auffassung des Klägers - nach § 144 Abs 1 SGG aF ausgeschlossen. Denn bei dem vom Kläger verfolgten Anspruch auf Kaug handelt es sich um einen Anspruch auf eine einmalige Leistung iS des § 144 Abs 1 Nr 1 SGG. Auch bei einer Zuordnung als wiederkehrende Leistung iS des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG wäre die Berufung gegen ein erstinstanzliches Urteil über einen Anspruch auf Kaug hiernach ausgeschlossen, da diese Leistung höchstens für 3 Monate zusteht (§ 141b Abs 1 AFG).

Eine Auslegung dieser Vorschrift iS der Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht möglich. Zwar mag die Vorschrift des § 144 Abs 1 SGG aF ihrem Zweck, die Landessozialgerichte von Bagatellstreitigkeiten zu entlasten (vgl BSG vom 27. April 1978, BSGE 46, 167, 169) nur unvollkommen gerecht geworden sein. Die Berufungsausschlußgründe der §§ 144 bis 149 SGG aF knüpfen jedoch nur ausnahmsweise - und dann ausdrücklich -, zB bei § 144 Abs 2 SGG, an Wertgrenzen an. Deshalb ist eine Berufung nicht über § 144 Abs 1 SGG aF hinaus zulässig, weil sie einen bestimmten Streitwert erreicht.

Die Berufung war weiterhin auch nicht etwa wegen einer willkürlichen Nichtzulassung durch das SG zulässig. Es bedarf keiner Entscheidung, ob die grundsätzliche Bindung an die Nichtzulassung der Berufung dann entfällt, wenn das SG willkürlich das Rechtsmittel nicht zugelassen hat, obwohl dies geboten war (vgl hierzu BSG vom 18. Dezember 1985, SozR 1500 § 150 Nr 27). Denn aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich jedenfalls insoweit keine Willkür. Willkürlich wäre die Nichtzulassung nämlich nur dann, wenn sie bei Beachtung der Rechtsauffassung des SG unter keinem Gesichtspunkt vertretbar wäre. Hierfür aber reicht der vom Kläger angeführte Umstand, das SG habe in einem Parallel-Verfahren die Berufung zugelassen, im vorliegenden jedoch nicht, nicht aus.

Ebenso unerheblich wäre, wenn das SG die Entscheidung über die Nichtzulassung der Berufung verfahrensfehlerhaft getroffen hätte. Denn ein Verfahrensfehler des SG, der nach § 150 Nr 2 SGG aF eine Berufung zulässig machen konnte, mußte "wesentlich" sein, also ein Mangel, auf dem das Urteil beruhen kann. Verfahrensfehler auf dem Wege zur Entscheidung über die Zulassung eines Rechtsmittels genügen insoweit jedoch nicht, weil das Urteil hierauf nicht beruhen kann (BSG vom 25. März 1987, SozR 1500 § 150 Nr 28).

Auf dieser Grundlage ist unerheblich, ob der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt. Denn wenn das LSG die Berufung verfahrensfehlerfrei als unzulässig verworfen hat, kann auch im Revisionsverfahren keine materiell-rechtliche Rechtsfrage geklärt werden.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1653709

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