Entscheidungsstichwort (Thema)

Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses. keine Prüfungskompetenz des Berufungsgerichts hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit des SG

 

Orientierungssatz

1. Einem Verweisungsbeschluss kommt ausnahmsweise dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen, dh einem offensichtlich unhaltbaren, objektiv unverständlichen, unsachlichen oder nicht mehr zu rechtfertigenden Verhalten beruht (vgl BSG vom 25.2.1999 - B 1 SF 9/98 S = SozR 3-1720 § 17a Nr 11 und vom 27.5.2004 - B 7 SF 6/04 S = SozR 4-1500 § 57a Nr 2 und vom 1.6.2005 - B 13 SF 4/05 S = SozR 4-1500 § 58 Nr 6 sowie BVerfG vom 19.12.2001 - 1 BvR 814/01 = NVwZ-RR 2002, 389).

2. Einem Berufungsgericht steht hinsichtlich der örtlichen Zuständigkeit des SG von vorneherein keine Prüfungskompetenz zu, wenn das SG eine Sachentscheidung getroffen hat.

 

Normenkette

GVG § 17a Abs. 2 S. 3, Abs. 5; SGG § 58 Abs. 1 Nr. 4, § 98 S. 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 31.07.2006; Aktenzeichen L 6 V 3067/06)

SG Landshut (Gerichtsbescheid vom 28.12.2005; Aktenzeichen S 9 V 18/01)

 

Tatbestand

Der zum Zeitpunkt der Klageerhebung im Jahre 2001 in Bayern im Bezirk des Sozialgerichts (SG) Landshut wohnende Kläger hat sich mit seiner Klage gegen Bescheide des Amtes für Versorgung und Familienförderung Landshut sowie einen Widerspruchsbescheid des Bayerischen Landesamtes für Versorgung und Familienförderung gewandt und die Erhöhung des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit wegen besonderer beruflicher Betroffenheit iS von § 30 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sowie die Gewährung von Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs 3 und 4 BVG vom Land Bayern begehrt. Im Jahre 2003 verzog er nach Baden-Württemberg. Mit Gerichtsbescheid vom 28. Dezember 2005 hat das SG Landshut die Klage gegen den Freistaat Bayern als unbegründet abgewiesen.

Der Kläger hat Berufung bei dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Dieses hat das Land Baden-Württemberg als Beklagten angesehen, sich durch Beschluss vom 18. Mai 2006 für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtstreit an das LSG Baden-Württemberg verwiesen. Der mit dem Umzug des Klägers während des Berufungsverfahrens eingetretene Wechsel der örtlichen Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde und der darin liegende Beklagtenwechsel habe Auswirkungen auf die örtliche Zuständigkeit des SGs und ein ortsnaher Rechtsschutz sei für die besonders schutzwürdigen Versorgungsberechtigten vorteilhaft.

Das LSG Baden-Württemberg hat sich mit Beschluss vom 31. Juli 2006 ebenfalls für örtlich unzuständig erklärt, den Rechtsstreit ausgesetzt und dem Bundessozialgericht (BSG) zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt. Für die Entscheidung über eine Berufung gegen die Entscheidung eines bayerischen SG sei die Zuständigkeit des Bayerischen LSG gegeben. Dessen Verweisungsbeschluss entfalte keine Bindungswirkung.

 

Entscheidungsgründe

Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch das BSG liegen vor. Es ist als gemeinsames nächsthöheres Gericht iS dieser Vorschrift zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem Bayerische LSG und dem LSG Baden-Württemberg berufen, nachdem das Bayerische LSG seine örtliche Zuständigkeit verneint und den Rechtstreit an das LSG Baden-Württemberg verwiesen hat, dieses Gericht sich jedoch ebenfalls nicht für örtlich zuständig hält und das Bayerische LSG als zur Entscheidung berufen ansieht.

Zum zuständigen Gericht ist das Bayerische LSG zu bestimmen, weil sein Verweisungsbeschluss vom 18. Mai 2006 das LSG Baden-Württemberg nicht bindet und das Bayerische LSG für die Entscheidung über die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des SG Landshut zuständig ist.

Grundsätzlich ist zwar gemäß § 98 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 2 Satz 3 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend. Dies gilt auch, wenn die Verweisung prozessuale oder materielle Vorschriften verletzt und auch, wenn die Verweisung offenbar unrichtig ist. Ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen, dh einem offensichtlich unhaltbaren, objektiv unverständlichen, unsachlichen oder nicht mehr zu rechtfertigenden Verhalten beruht (vgl BSG, Beschlüsse vom 25. Februar 1999, B 1 SF 9/98 S, BSG SozR 3-1720, § 17a Nr 11 S 19 ff, und vom 27. Mai 2004, B 7 SF 6/04 S, SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 11, und vom 1. Juni 2005, B 13 SF 4/05 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 6 RdNr 15 sowie BVerfG vom 19. Dezember 2001, 1 BvR 814/01, NVwZ-RR 2002, 389). Die Voraussetzungen dieser Ausnahme liegen vor. Die Verweisung mit Beschluss des Bayerischen LSG vom 18. Mai 2006 erfolgte willkürlich. Dies gilt unabhängig davon, ob man mit der unzutreffenden Sachverhaltsbewertung des LSG davon ausgeht, der Kläger sei erst während des Berufungsverfahrens verzogen, oder auf der Grundlage der tatsächlichen Verhältnisse von einem Wohnsitzwechsel bereits während des erstinstanzlichen Verfahrens ausgeht. In beiden Fällen entbehrt die Verweisung des Rechtsstreits an das LSG Baden-Württemberg jedes sachlichen Grundes.

Die den Verweisungsbeschluss tragende unzutreffende Rechtsauffassung, im vorliegenden Verfahren verliere das bisher für Entscheidungen im Rechtsmittelverfahren zuständige LSG wegen einer Änderung des für die Zuständigkeit des SG entscheidenden Wohnsitzes des Klägers seine Entscheidungskompetenz und zur Entscheidung über das Rechtsmittel berufen sei nunmehr ein LSG, in dessen Zuständigkeit die Entscheidung über Rechtsmittel gegen Entscheidungen dieses SG nicht fällt, ist offensichtlich nicht haltbar. Sie kann sich nämlich nicht auf gesetzliche Regelungen stützen, wird weder in der Rechtsprechung noch in der Literatur vertreten und ist vom LSG auch nicht begründet worden.

Die Zuständigkeit des LSG ist in §§ 28, 29, § 31 Abs 3 SGG geregelt. Für Rechtsmittel gegen Entscheidungen eines SG ist damit als gesetzlicher Richter allein und auf Dauer das LSG zur Entscheidung berufen, in dessen Gerichtsbezirk das SG liegt. Dies ist das LSG des entsprechenden Bundeslandes bzw das gemeinsame von diesem Bundesland miterrichtete LSG, in dem das SG liegt (vgl §§ 28, 29 SGG, vgl auch Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005 § 57 RdNr 1a), bzw dann, wenn ein Senat zuständig ist, dessen Bezirk gemäß § 31 Abs 3 SGG auf das Gebiet oder Gebietsteile mehrerer Länder ausgedehnt ist, dieses LSG. Zuständig für die Entscheidung gegen den Gerichtsbescheid des SG Landshut war und ist damit das Bayerische LSG, ohne dass nachträgliche Änderungen im Wohnsitz des Klägers oder der Zuständigkeit der Beklagten, auf denen die Rechtsmittelzuständigkeit zu keinem Zeitpunkt beruht, insofern denkbar von Belang sein könnten.

Für die hiervon abweichende Auffassung enthält der Beschluss des Bayerischen LSG keine Begründung. Selbst wenn tatsächlich eine Klageänderung während des Berufungsverfahrens vorläge, die auch im Wechsel des Beteiligten liegen kann, sodass für die geänderte Klage ggf erneut die Zuständigkeit zu prüfen wäre (vgl Bundesfinanzhof ≪BFH≫, Beschluss vom 9. November 2004, V S 21/04, BFHE 207, 51, 512 f), käme allein die Verweisung an ein SG als zuständige Eingangsinstanz (§ 8 SGG) in Betracht. Indes handelt es sich bei einer Änderung des Beklagten durch Parteiwechsel kraft Gesetzes bereits nicht um eine solche Klageänderung, die zur Änderung der Zuständigkeit führen kann (vgl BSG, Urteil vom 9. Dezember 1987, 10 RKg 5/85, BSGE 62, S 269 ≪270 f≫ = SozR 1200 § 48 Nr 14, BFH, Beschluss vom 20. Dezember 2004, VI S 7/03, BFHE 209, 1, 2). Für Ermessenserwägungen des LSG hinsichtlich des dem Interesse des Klägers bevorzugt entsprechenden Gerichtsstandes fehlt es an der erforderlichen Rechtsgrundlage.

Ergänzend weist der Senat darauf hin, dass dem Bayerischen LSG auch hinsichtlich der örtlicher Zuständigkeit des SG von vorneherein keine Prüfungskompetenz zusteht (§ 98 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 5 GVG), da das SG im Gerichtsbescheid vom 28. Dezember 2005 eine Sachentscheidung getroffen hat. Das SG hat im übrigen seine ursprüngliche örtliche Zuständigkeit zutreffend angenommen und ist ebenso zutreffend davon ausgegangen, dass diese von einer nachträglichen Änderung der sie begründenden Umstände nicht betroffen ist (Grundsatz der "perpetuatio fori", § 98 SGG iVm § 17 Abs 1 Satz 1 GVG). Soweit der 7. Senat des BSG in seinem Beschluss vom 25. Oktober 2004 (B 7 SF 20/04 S, juris-Nr KSRE065441305) offen gelassen hat, ob sich nach der Neufassung des § 3 Abs 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung zum 1. Juli 2001 entgegen der bisherigen Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 4. Februar 1988, B 9 V 6/96 = BSG SozR 3-3100 § 89 Nr 4) bei einem Wohnsitzwechsel auch die örtliche Zuständigkeit der Verwaltungsbehörde ändert und ob diese Änderung zu einer Änderung der örtlichen Zuständigkeit des SG führen könne, betrafen diese Ausführungen die Frage, ob eine "willkürliche" Verweisung vorlag. Dieser Entscheidung kann jedoch keinesfalls entnommen werden, dass sich entgegen dem Grundsatz der perpetuatio fori durch einen Wohnortwechsel des Klägers bei gesetzlich angeordnetem Wechsel des Beklagten nach Klageerhebung auch die örtliche Zuständigkeit ändert.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2847592

AnwBl 2007, 85

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