Entscheidungsstichwort (Thema)

Unwirksamer Betriebsratsbeschluß. mangelhafte Einladung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Vorschrift des § 29 Abs 2 Satz 3 BetrVG gehört zu den wesentlichen und unverzichtbaren Verfahrensvorschriften, von deren Beachtung die Rechtswirksamkeit der Betriebsratsbeschlüsse abhängt.

2. Ist die Einladung zu einer Betriebsratssitzung ohne Mitteilung der Tagesordnung erfolgt, kann dieser Mangel nur durch einstimmigen Beschluß der vollzählig versammelten Betriebsratsmitglieder geheilt werden.

 

Normenkette

BetrVG § 37 Abs. 2, 6, § 29 Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 10.07.1986; Aktenzeichen 4 Sa 182/85)

ArbG Heilbronn (Entscheidung vom 27.11.1985; Aktenzeichen 2 Ca 541/84 C)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten zur Zahlung des Lohnes während der Teilnahme eines Betriebsratsmitgliedes an einer Schulungsveranstaltung.

Im Zweigbetrieb der Beklagten in L besteht ein dreiköpfiger Betriebsrat. Vorsitzender des Betriebsrates war der Arbeitnehmer G, auf dessen Arbeitsverhältnis der allgemeinverbindliche Manteltarifvertrag für die gewerblichen Arbeitnehmer der Bekleidungsindustrie in Baden-Württemberg Anwendung findet.

Am 15. September 1983 fand eine Betriebsratssitzung statt, an der der Betriebsratsvorsitzende G und das weitere Betriebsratsmitglied Frau W teilnahmen. Das dritte Betriebsratsmitglied und Filialleiter des Zweigwerkes L M war nicht anwesend. In dem Protokoll über die Sitzung ist unter Ziff. 3 (Tagesordnungspunkt "Verschiedenes") ausgeführt:

"Herr G wird 1984 an einem

2-wöchigen Lehrgang über betrieb-

liche Lohngestaltung teilnehmen."

Das Protokoll trägt die Unterschriften der beiden anwesenden Betriebsratsmitglieder.

Der Betriebsrat unterrichtete die Beklagte mit Schreiben vom 19. Dezember 1983 über den Betriebsratsbeschluß vom 15. September 1983 und der beschlossenen Entsendung des Betriebsratsvorsitzenden G zu dem von der Klägerin veranstalteten Kurs II vom 12. Februar bis zum 24. Februar 1984 über betriebliche Lohngestaltung.

Mit Schreiben vom 6. Februar 1984 erklärte die Beklagte dem Betriebsratsvorsitzenden, eine Freistellung zum Besuch der Schulungsveranstaltung vom 12. Februar bis 24. Februar 1984 sei nicht möglich, da bis Anfang März Fixtermine anständen. Nach ihrer Auffassung sei der Beschluß des Betriebsrats vom 15. September 1983 auch unwirksam. Sie bat deshalb um Verschiebung und lehnte für den Fall der Teilnahme des Betriebsratsvorsitzenden G an der Schulung eine Lohnfortzahlung ab. Die Einigungsstelle rief die Beklagte nicht an.

Der Betriebsratsvorsitzende G, der an der Schulungsveranstaltung teilnahm, erhielt seinen Verdienstausfall für diese Zeit von 808,80 DM brutto von der Klägerin bezahlt. Mit Abtretungserklärung vom 14. Februar 1984 trat er deshalb seinen Lohnanspruch gegen die Beklagte in dieser Höhe an die Klägerin ab.

Die Klägerin hat vorgetragen, G habe für die Schulungszeit Anspruch auf Ersatz des Lohnausfalls. Der Beschluß des Betriebsrats vom 15. September 1983 sei ordnungsgemäß zustande gekommen. Ersatzmitglieder seien zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vorhanden gewesen. Der Filialleiter M sei zweimal ordnungsgemäß zur Sitzung eingeladen worden, er habe jedoch die Teilnahme mit der Begründung abgelehnt, keine Zeit zu haben. Selbst wenn bei der Ladung die Mitteilung der Tagesordnung unterblieben sei, mache dies den Beschluß vom 15. September 1983 nicht unwirksam. Die Mehrheit der anwesenden Betriebsratsmitglieder habe einer Ergänzung der Tagesordnung zugestimmt. Ein etwaiger Mangel der Einladung sei damit geheilt. Wenn schon nach § 33 Abs. 1 Satz 1 BetrVG ein Beschluß mit der Mehrheit der Stimmen der anwesenden Betriebsratsmitglieder wirksam zustande komme, so müsse dies erst recht für die Ergänzung der Tagesordnung gelten. Zumindest aber reiche es aus, wenn die Mehrheit des Betriebsrats für eine Behandlung des nicht mit der Einladung bekanntgemachten Tagesordnungspunktes stimme, da die abweichende Meinung dann unabhängig von der Vollständigkeit des Betriebsrats immer in der Minderheit sei.

Die Schulung des Betriebsratsvorsitzenden G in Fragen der betrieblichen Lohngestaltung sei auch notwendig gewesen, da bei der Beklagten fast alle Beschäftigten im Zweigwerk L im Akkord arbeiteten und sich hierwegen hinsichtlich der Vorgabezeiten und Zeitaufnahme schon Streitigkeiten ergeben hätten. Ohne umfassende Kenntnis über die Probleme Zeit- oder Geldakkord, Vorgabezeiten, Einzel- und Gruppenakkord, Arbeitsbewertung, Leistungsbewertung etc. sei aber der Betriebsrat nicht in der Lage, seine gesetzlichen Aufgaben wahrzunehmen. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die die Beklagte erst sieben Wochen nach Mitteilung des Betriebsrats geltend gemacht habe, seien nicht vorhanden gewesen. Die Beklagte habe genügend Zeit gehabt, die Einigungsstelle anzurufen. Die Forderung sei gegenüber der Beklagten auch mehrfach telefonisch geltend gemacht worden.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie

808,80 DM brutto nebst 4 % Zinsen

seit dem 1. März 1984 zu bezahlen.

Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt und vorgetragen, der Klageantrag sei nicht bestimmt genug. Steuern und Sozialversicherungsbeiträge könnten nicht abgetreten und folglich von der Klägerin auch nicht geltend gemacht werden.

Der Beschluß des Betriebsrats vom 15. September 1983 sei wegen Beschlußunfähigkeit des Betriebsrats rechtsunwirksam. Weder das Betriebsratsmitglied M noch dessen Stellvertreter seien ordnungsgemäß zu der Sitzung geladen worden. M sei lediglich mitgeteilt worden, ein Vertreter der Gewerkschaft komme ins Haus. Von einer ordnungsgemäßen Betriebsratssitzung sei keine Rede gewesen. Eine Tagesordnung sei ihm nicht mitgeteilt worden. Schon dieser Mangel führe zur Unwirksamkeit des Betriebsratsbeschlusses. Im übrigen sei der Besuch des Kursus im Sinne des § 37 Abs. 6 Satz 1 BetrVG auch nicht erforderlich gewesen, da G bereits vom 23. November bis 27. November 1981 an einem Kurs über betriebliche Lohngestaltung teilgenommen habe. Auch den betrieblichen Notwendigkeiten sei keine Rechnung getragen worden. Vor dem 6. Februar 1984 sei nicht erkennbar gewesen, daß G nicht von der Arbeit freigestellt werden könne. Etwaige Ansprüche seien darüber hinaus verwirkt und nicht zu verzinsen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben, Zinsen jedoch erst ab 1. Juni 1984 zugesprochen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Mit der zugelassenen Revision begehrt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zahlung des eingeklagten Betrages von 808,80 DM brutto. Der Betriebsratsvorsitzende G hat wegen Unwirksamkeit des Betriebsratsbeschlusses vom 15. September 1983 keinen Lohnanspruch für die Zeit der Schulungsveranstaltung vom 12. Februar bis zum 24. Februar 1984 erworben, den er an die Klägerin hätte abtreten können.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, G habe für die Zeit vom 12. bis 24. Februar 1984 keinen an die Klägerin abtretbaren Lohnanspruch gegen die Beklagte erworben, da der vom Betriebsrat am 15. September 1983 gefaßte Beschluß nicht rechtswirksam zustande gekommen sei. Ein wirksamer Beschluß des Betriebsrats setze u.a. gemäß § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG die ordnungsgemäße Ladung und rechtzeitige Mitteilung der Tagesordnung voraus. Dem bei der Sitzung am 15. September 1983 nicht anwesenden Betriebsratsmitglied M sei jedoch die Tagesordnung nicht mitgeteilt worden. Die Vorschrift des § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG gehöre aber zu den wesentlichen, unverzichtbaren Verfahrensvorschriften, von deren Beachtung die Rechtswirksamkeit der gefaßten Beschlüsse abhänge. Der Mangel sei auch nicht durch die Festlegung oder Ergänzung der Tagesordnung durch Mehrheitsbeschluß der nicht vollzählig anwesenden Betriebsratsmitglieder geheilt worden. Die mit der Einladung erfolgende Information über die zur Beratung anstehenden Tagesordnungspunkte solle nämlich das Betriebsratsmitglied in die Lage versetzen, sich auf die zu behandelnden Fragen vorzubereiten, um sachbezogene und sachdienliche Stellungnahmen abgeben zu können. Werde die Tagesordnung nicht vorher mitgeteilt, sei dies nicht gewährleistet und es bestehe zudem die Gefahr, daß Betriebsratsmitglieder der Sitzung fernblieben, die bei Kenntnis des Tagesordnungspunktes teilgenommen oder eine Verschiebung der Sitzung angeregt hätten. Gerade der vorliegende Fall zeige, daß die Ergänzung der Tagesordnung allein durch Mehrheitsbeschluß der erschienenen Mitglieder Bedenken begegne. Der Beschluß vom 15. September 1983 sei von den erschienenen Mitgliedern zwar einstimmig gefaßt worden, es könne aber nicht ausgeschlossen werden, daß das nicht erschienene Betriebsratsmitglied im Hinblick auf betriebliche Notwendigkeiten Argumente in die Beratung eingebracht hätte, die zu einer anderweitigen Festlegung des Zeitpunktes für eine Teilnahme des Betriebsratsvorsitzenden G an der vorgesehenen Schulung geführt hätten.

II. Diese Ausführungen des Landesarbeitsgerichts halten der revisionsrechtlichen Überprüfung stand.

1. Entgeltansprüche, die ein Betriebsratsmitglied wegen seiner Teilnahme an einer Schulungs- oder Bildungsveranstaltung (§ 37 Abs. 6 BetrVG) geltend macht, sind im Urteilsverfahren zu verfolgen (vgl. u.a. BAG Beschluß vom 18. Juni 1974 - 1 ABR 119/73 - AP Nr. 16 zu § 37 BetrVG 1972; BAG Urteil vom 17. September 1974 - 1 AZR 574/73 - AP Nr. 17 zu § 37 BetrVG 1972). Das gilt auch für die Klägerin, die kraft Abtretung den Entgeltanspruch gegen die Beklagte geltend macht.

2. Der Antrag der Klägerin ist auch entgegen der von der Beklagten in der Vorinstanz geäußerten Ansicht ausreichend bestimmt (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Da der Arbeitgeber grundsätzlich einen Bruttobetrag schuldet (vgl. BAGE 15, 220, 228 = AP Nr. 20 zu § 611 BGB Dienstordnungs-Angestellte; BAG Urteil vom 15. November 1978 - 5 AZR 199/77 - AP Nr. 14 zu § 613 a BGB; BAGE 48, 229 = AP Nr. 15 zu § 611 BGB Lohnanspruch = EzA § 611 BGB Nettolohn, Lohnsteuer Nr. 6; BGH Beschluß vom 21. April 1966 VII ZB 3/66, AP Nr. 13 zu § 611 BGB Lohnanspruch), kann die Klägerin auch nur einen solchen Anspruch geltend machen.

3. Gemäß § 37 Abs. 6 i. Verb. m. § 37 Abs. 2 BetrVG sind Mitglieder des Betriebsrats für die Teilnahme an Schulungs- und Bildungsveranstaltungen von ihrer beruflichen Tätigkeit ohne Minderung des Arbeitsentgelts zu befreien, soweit diese Kenntnisse vermitteln, die für die Arbeit des Betriebsrats erforderlich sind. Dem Betriebsrat fällt hierbei die Aufgabe zu, über die Freistellung von Betriebsratsmitgliedern zu beschließen, deren Schulung er zur Erfüllung ihrer Aufgaben im Betriebsrat für erforderlich hält. Insoweit steht dem einzelnen Betriebsratsmitglied daher nur ein aus dem Kollektivbeschluß abgeleiteter Individualanspruch zu (BAGE 25, 348, 351 = AP Nr. 5 zu § 37 BetrVG 1972; BAGE 26, 269, 274 f. = AP Nr. 18 zu § 37 BetrVG 1972; BAG Urteil vom 5. April 1984 - 6 AZR 495/81 - AP Nr. 46 zu § 37 BetrVG 1972 = EzA § 37 BetrVG 1972 Nr. 80; BAGE 52, 73 = AP Nr. 53 zu § 37 BetrVG 1972 = EzA § 37 BetrVG 1972 Nr. 84; BAG Beschluß vom 16. Oktober 1986 - 6 ABR 14/84 - BAGE 53, 186 = AP Nr. 58 zu § 37 BetrVG 1972). An dieser Voraussetzung fehlt es jedoch im Streitfalle. Denn der Betriebsratsbeschluß vom 15. September 1983, der die Entsendung des Betriebsratsvorsitzenden G zu der Schulung vom 12. Februar bis zum 24. Februar 1984 vorsah, ist unwirksam.

a) Der Vorsitzende des Betriebsrats hat gemäß § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG die Mitglieder des Betriebsrats zu den Sitzungen rechtzeitig unter Mitteilung der Tagesordnung zu laden.

Nach den mit zulässigen Verfahrensrügen nicht angegriffenen Feststellungen des Landesarbeitsgerichts ist das Betriebsratsmitglied M zwar zulässigerweise formlos (vgl. Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 29 Rz 29; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 15. Aufl., § 29 Rz 35; Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke, BetrVG, 2. Aufl., § 29 Rz 12; Brecht, BetrVG, § 29 Rz 8), aber ohne Mitteilung der Tagesordnung zu der Betriebsratssitzung am 15. September 1983 geladen worden. Die ordnungsgemäße Mitteilung der Tagesordnung ist aber ebenso wie die rechtzeitige Ladung Voraussetzung für eine wirksame Beschlußfassung (vgl. LAG Saarbrücken, Urteil vom 11. November 1964 - Sa 141/63 - AP Nr. 2 zu § 29 BetrVG; BVerwGE 49, 144, 151; Wiese, GK-BetrVG, 4. Aufl., § 33 Rz 35 f.; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 3. Aufl., § 29 Rz 25; Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke, aaO, § 29 Rz 16; Brecht, aaO, § 29 Rz 8).

b) Dieser Mangel ist durch den einstimmigen Beschluß der beiden in der Sitzung vom 15. September 1983 anwesenden Betriebsratsmitglieder G und W auch nicht geheilt worden. Zwar kann ein derartiger Mangel nach einhelliger Auffassung grundsätzlich geheilt werden und eine festgesetzte Tagesordnung auch geändert oder ergänzt werden. Streit besteht jedoch darüber, unter welchen Voraussetzungen dies geschehen kann.

aa) Die überwiegende Meinung (LAG Saarbrücken, aaO; Dietz/Richardi, aaO, § 29 Rz 31; Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 29 Rz 22; Weiss, BetrVG, 2. Aufl., § 29 Rz 3; Stege/Weinspach, BetrVG, 5. Aufl., § 29 Rz 8; Siebert/Degen/Becker, BetrVG, 5. Aufl., § 29 Rz 5; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., Bd. II/2, S. 1200, Fußn. 12; Nikisch, Arbeitsrecht, 2. Aufl., Bd. 3, S. 178) hält eine Heilung nur für möglich, wenn der vollzählig versammelte Betriebsrat einstimmig sein Einverständnis erklärt, den Beratungspunkt in die Tagesordnung aufzunehmen und darüber zu beschließen (so wohl auch Hess/Schlochauer/Glaubitz, aaO, § 29 Rz 25). Begründet wird diese Ansicht damit, es gehöre zu den Grundsätzen einer ordnungsgemäßen Beschlußfassung, daß alle Betriebsratsmitglieder vorher davon unterrichtet werden, in welchen Angelegenheiten eine Abstimmung erfolgen solle (Dietz/Richardi, aaO, § 29 Rz 31).

bb) Demgegenüber halten Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither (aaO, § 29 Rz 38 und § 33 Rz 17) und Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke (aaO, § 29 Rz 14 und 16) eine Ergänzung der Tagesordnung für zulässig, wenn die Mehrheit der Betriebsratsmitglieder einen solchen Antrag unterstützt. Dies entspreche allein der betrieblichen Wirklichkeit, die oft kurzfristige und schnelle Entscheidungen des Betriebsrats notwendig mache.

cc) Wiese (aaO, § 29 Rz 47, 48 und § 33 Rz 36), Bobrowski (DB 1957, 21, 22) und Brecht (aaO, § 29 Anm. 7) meinen dagegen, ein Mehrheitsbeschluß der anwesenden Betriebsratsmitglieder sei ausreichend. Bei einer fehlenden oder unvollständigen Tagesordnung sei ein Schutz der Betriebsratsmitglieder nicht in dem Maße erforderlich, wie etwa bei einer fehlenden Einladung. Jedes Betriebsratsmitglied könne sich bei einer ordnungsgemäßen Einladung darauf einstellen, daß der Betriebsrat aufgrund seiner Entscheidungskompetenz eine abweichende Tagesordnung beschließt oder eine fehlende ersetzt. Dies entspreche allgemeinen Geschäftsordnungsgrundsätzen.

c) Der Senat schließt sich der herrschenden Auffassung an.

aa) Die vorherige Mitteilung der Tagesordnung soll den Betriebsratsmitgliedern Gelegenheit geben, sich ein Bild über die in der Sitzung zu treffenden Entscheidungen zu machen (BVerwGE 49, 144, 151) und es ihnen ermöglichen, sich auf die Beratung der einzelnen Tagesordnungspunkte ordnungsgemäß vorzubereiten (vgl. u.a. Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, aaO, § 29 Rz 37). Jedes einzelne Betriebsratsmitglied soll dadurch in die Lage versetzt werden, seine Meinung in die Beratungen des Betriebsrats mit der nötigen Kenntnis und dem erforderlichen Sachverstand einzubringen. Diese Möglichkeit würde dem Betriebsratsmitglied aber genommen werden, wenn der Betriebsrat in seiner Abwesenheit Entscheidungen über solche Angelegenheiten treffen könnte, von denen er keine Kenntnis erhalten hat bzw. wenn trotz seines Widerspruchs darüber beraten und entschieden würde, auf die er sich mangels vorheriger Mitteilung der Tagesordnung nicht vorbereiten konnte. Nur wenn alle Mitglieder des Betriebsrats anwesend sind und sich mit der Behandlung eines nicht vorher mitgeteilten Tagesordnungspunktes - aus welchen Gründen auch immer - einverstanden erklären (z. B. weil sie sich hinreichend sachkundig fühlen oder auf eine Vorbereitung keinen Wert legen), kann mithin eine Heilung des aufgezeigten Mangels in Betracht kommen.

bb) Dem kann nicht entgegengehalten werden, bei einer Entscheidung der Mehrheit der Betriebsratsmitglieder für eine Beschlußfassung wäre auch bei Anwesenheit aller Mitglieder keine andere Entscheidung getroffen worden. Schließlich kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß die einzelnen Betriebsratsmitglieder mit einer festen, vorgefaßten Meinung in die Sitzung gehen und nicht für eine andere Meinung gewonnen werden können. In der Regel wird sich erst im Laufe der Diskussion eine Mehrheitsmeinung herausbilden oder sich aufgrund der besonderen Argumente und der mitgeteilten Kenntnisse einzelner Betriebsratsmitglieder sogar eine Meinungs- bzw. Mehrheitsänderung ergeben. Dies ist aber, wenn sich einzelne oder alle Mitglieder nicht vorbereiten können, erschwert oder, wenn sie nicht zur Sitzung erscheinen, unmöglich. Zwar wird ein Betriebsratsmitglied im allgemeinen nicht ohne zwingenden Grund einer Sitzung fernbleiben. Es ist deshalb auch nicht auszuschließen, daß ein an der Teilnahme verhindertes Betriebsratsmitglied bei Kenntnis einer aus seiner Sicht wichtigen Tagesordnung alles versuchen wird, sein Erscheinen doch noch zu ermöglichen oder doch zumindest auf eine Verlegung des Termins für die Betriebsratssitzung zu dringen. Bei Kenntnis der Tagesordnung hat das verhinderte Betriebsratsmitglied ferner die Möglichkeit, seine Betriebsratskollegen schon vorher über seine Auffassung zu unterrichten und zu überzeugen oder sie ggf. auch nur zu bitten, seine Argumente in der Betriebsratssitzung zumindest vorzutragen.

cc) Bei den hier abgelehnten Meinungen, bei denen diese aufgezeigten Möglichkeiten nicht gegeben sind, bleibt zudem die Gefahr der Manipulation, was besonders bei kleineren Betriebsräten deutlich wird. So könnte z. B. bei einem dreiköpfigen Betriebsrat der Vorsitzende die Abwesenheit eines Mitgliedes dazu nutzen, um ohne Ankündigung Beschlüsse in Angelegenheiten zustande zu bringen, die bei Anwesenheit dieses Mitgliedes möglicherweise nicht gefaßt worden wären. Das gleiche kann aber auch bei einem größeren Betriebsrat der Fall sein, wenn mehrere Betriebsratsmitglieder gerade abwesend sind oder vielleicht auch nur ein für einige Mitglieder besonders schwieriges aber für andere Mitglieder wiederum häufig überzeugendes Betriebsratsmitglied fehlt. Die Möglichkeit, die Willensbildung des Betriebsrats in dieser Weise zu beeinflussen, besteht nicht nur dann, wenn die Mehrheit der Betriebsratsmitglieder, sondern auch und vor allem dann, wenn die Mehrheit der anwesenden Mitglieder die Ergänzung der Tagesordnung beschließen könnte. Unter den Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 und 2 BetrVG könnte eine Minderheit gegen den Willen oder ohne vorherige Kenntnis der Mehrheit der Mitglieder in strittigen Fällen zu einer Entscheidung in ihrem Sinne gelangen. Deshalb kann die Verletzung der wesentlichen Verfahrensvorschrift des § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG nur durch einstimmigen Beschluß des vollzählig versammelten Betriebsrats geheilt werden, da nur unter diesen Umständen gewährleistet ist, daß keine den Sinn und Zweck der Vorschrift aushöhlenden Entscheidungen getroffen werden.

dd) Der Hinweis der Revision auf § 33 Abs. 1 BetrVG geht fehl, da diese Vorschrift lediglich die Beschlußfassung selbst regelt, sich aber nicht auf wesentliche Verfahrensvorschriften im Vorfeld der Beschlußfassung bezieht. Ebenso greift der Hinweis auf die Praktikabilität der Betriebsratsarbeit nicht durch. Verlangt der Gesetzgeber aus den oben genannten für die Betriebsratsarbeit bedeutsamen Gründen die vorherige Mitteilung der Tagesordnung, so kann davon nicht ohne weiteres aus Praktikabilitätsgründen abgewichen werden. Die vorherige Mitteilung der Tagesordnung - und sei es auch nur formlos - bereitet im allgemeinen keinerlei Schwierigkeiten und erleichtert, weil sie Möglichkeit einer Vorbereitung auf die Tagesordnungspunkte eröffnet, in der Regel die Betriebsratsarbeit. Praktikabilitätsgründe können nur dann eine entscheidende Rolle spielen, wenn keine Gefahr besteht, daß die "praktikablere" Handhabung der Intention des Gesetzgebers zuwiderläuft.

ee) Der Betriebsratsbeschluß vom 15. September 1983 ist daher bereits wegen Verstoßes gegen § 29 Abs. 2 Satz 3 BetrVG unwirksam. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob der Inhalt des Beschlusses hinreichend präzise und die Schulung des Betriebsratsmitglieds G wirklich erforderlich waren.

4. Entgegen der Ansicht der Revision hat die Beklagte in entsprechender Anwendung von § 38 Abs. 2 BetrVG "ihr Rügerecht" auch nicht verwirkt.

a) Eine analoge Anwendung von § 38 Abs. 2 Satz 4 BetrVG, der eine Zwei-Wochen-Frist für die Anrufung der Einigungsstelle vorsieht mit der Folge, daß andernfalls der Beschluß nach Ablauf der zweiwöchigen Frist wirksam wird (§ 38 Abs. 2 Satz 6 BetrVG) könnte allenfalls dann in Erwägung gezogen werden, wenn die Anrufung der Einigungsstelle wegen der strittigen Frage über die betriebliche Notwendigkeit der Schulung in Betracht kommt, nicht aber, wenn sich der Arbeitgeber auf Verfahrensverstöße beruft.

b) Die Klägerin hat zudem die Voraussetzungen für die Verwirkung des Rechts der Beklagten, sich auf die Unwirksamkeit des Betriebsratsbeschlusses vom 15. September 1983 zu berufen, nicht dargetan. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die Verwirkung ein Ausnahmetatbestand, für den mehrere Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Der Gläubiger muß mit der Geltendmachung seines Anspruchs gezögert haben, wodurch beim Schuldner die Erwartung entstanden sein muß, der Gläubiger werde seinen Anspruch nicht mehr geltend machen. Der Schuldner muß sich darauf eingestellt haben, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden. Schließlich muß dem Schuldner gegenwärtig die Erfüllung des Anspruchs unter Berücksichtigung aller Umstände nach Treu und Glauben nicht mehr zuzumuten sein (vgl. erkennender Senat, Beschluß vom 14. November 1978 - 6 ABR 11/77 - AP Nr. 39 zu § 242 BGB Verwirkung).

Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht um einen Anspruch der Beklagten, sondern um die Berücksichtigung eines Verfahrensmangels. Außerdem hat die Klägerin auch nicht substantiiert vorgetragen, die Beklagte habe damit gezögert, den Verfahrensmangel rechtzeitig geltend zu machen. Insbesondere hat sie nicht vorgetragen, ab wann die Beklagte Kenntnis von dem Mangel hatte. Zwar ist der Beklagten mit Schreiben vom 19. Dezember 1983 der Beschluß vom 15. September 1983 mitgeteilt worden. Dies bedeutet jedoch nicht, daß sie damit auch Kenntnis von der fehlenden Mitteilung der Tagesordnung erhalten hat. Insofern sind weder ein Zeit- noch ein Umstandsmoment dargetan. In der Geltendmachung des Verfahrensmangels ist deshalb auch kein rechtsmißbräuchliches Verhalten der Beklagten zu erblicken.

Darüber hinaus hätte der Betriebsrat, der seinerseits mehr als drei Monate mit der Mitteilung an die Beklagte zugewartet hat, zum Zeitpunkt der Kenntnis von den Bedenken der Beklagten noch rechtzeitig vor der Schulungsveranstaltung einen ordnungsgemäßen Beschluß fassen können.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

Dr. Röhsler Dr. Jobs Schneider

Hohnheit Dr. Walz

 

Fundstellen

Haufe-Index 440769

BAGE 58, 221-230 (LT1-2)

BAGE, 221

DB 1988, 2259-2260 (LT1-2)

AiB 1988, 346-347 (LT1-2)

BetrR 1989, 4-5 (LT1-2)

EzB BetrVG § 29, Nr 1 (LT1)

ASP 1988, 429 (K)

NZA 1989, 223-225 (LT1-2)

AP § 29 BetrVG 1972 (LT1-2), Nr 2

AR-Blattei, Betriebsverfassung XIVA Entsch 36 (LT1-2)

AR-Blattei, ES 530.14.1 Nr 36 (LT1-2)

EzA § 29 BetrVG 1972, Nr 1 (LT1-2)

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