Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsveräußerung im Gesamtvollstreckungsverfahren

 

Leitsatz (amtlich)

Im Gesamtvollstreckungsverfahren kann ein Betrieb auch stillgelegt werden, indem er nach Kündigung aller Arbeitsverhältnisse veräußert wird. § 613 a BGB findet gemäß Art. 232 § 5 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB bis zum 31. Dezember 1998 keine Anwendung.

 

Normenkette

KSchG § 15 Abs. 1, 4; BGB § 419 Abs. 1, § 613a; EGBGB Art. 232 § 5 Abs. 2 Nr. 1; EWGRL 187/77 Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1; GesO §§ 2, 5-6; EGInsO Art. 32 Nr. 3; SpTrUG §§ 1, 13; SR 2 a zu § 38 MTArbG Nr. 10 Abs. 4; BetrVG § 102 Abs. 1; HGB § 25 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Berlin (Urteil vom 28.02.1996; Aktenzeichen 15 Sa 140/95)

ArbG Berlin (Teilurteil vom 12.09.1995; Aktenzeichen 23 Ca 17356/95)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin vom 28. Februar 1996 - 15 Sa 140/95 - wird zurückgewiesen.

Der Kläger hat die Kosten der Revision zu tragen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Wirksamkeit einer auf § 15 Abs. 4 KSchG gestützten Kündigung.

Der Kläger war Vorsitzender des im April 1994 gewählten Betriebsrats der I GmbH (im folgenden: Gemeinschuldnerin), die vorwiegend Inneneinrichtungen für Hotels und Gaststätten herstellte. Sein Arbeitsverhältnis als Möbeltischler bestand seit 1964.

Am 17. März 1995 beantragte die Gemeinschuldnerin die Durchführung des Gesamtvollstreckungsverfahrens, nachdem sie seit Januar 1995 keine Löhne mehr gezahlt hatte. Mit Beschluß vom 21. März 1995 ordnete das Amtsgericht Charlottenburg die Sequestration gemäß § 2 Abs. 3 Gesamtvollstreckungsordnung (GesO) an und bestellte den Beklagten zum Sequester. Am 24. März 1995 wurde dem Betriebsrat mitgeteilt, der Beklagte und die Geschäftsführerin der Gemeinschuldnerin hätten beschlossen, den Betrieb zum 31. März 1995 stillzulegen. Alle - noch etwa 80 - Arbeitnehmer würden die Kündigung erhalten und ab diesem Zeitpunkt freigestellt werden. Ein Übernahme- und Fortführungskonzept habe keine konkreten Formen angenommen.

Das Amtsgericht Charlottenburg eröffnete am 31. März 1995, 18.00 Uhr, das Gesamtvollstreckungsverfahren und bestellte den Beklagten zum Gesamtvollstreckungsverwalter. Zu diesem Zeitpunkt hatten alle Arbeitnehmer die Kündigung erhalten. Dem Kläger wurde am 31. März 1995 mit Schreiben vom 29. März 1995 ordentlich zum 31. Oktober 1995 gekündigt. Am 1. April 1995, einem Samstag, rief die Geschäftsführerin der Gemeinschuldnerin etwa 20 Arbeitnehmer zu Hause an und forderte sie auf, am folgenden Montag die Arbeit anzutreten. An diesem Tag arbeiteten in den Betriebsräumen der Gemeinschuldnerin zumindest 27 Arbeitnehmer aus der bisherigen Belegschaft. Mitglieder des Betriebsrats waren nicht darunter. Als der Kläger das Betriebsgelände betreten wollte, erhielt er ein schriftliches Hausverbot.

Mit Kaufvertrag vom 5. April 1995 veräußerte der Beklagte die Büro- und Geschäftsausstattung der Gemeinschuldnerin für 15.000,00 DM und das Recht zur Firmenfortführung für 10.000,00 DM an die Abwicklungsgesellschaft I mbH i.L. Als Übergabezeitpunkt wurde der 1. April 1995 vereinbart. Die Käuferin verpflichtete sich, 30 namentlich genannte Arbeitnehmer der Gemeinschuldnerin ab 1. April 1995 zu beschäftigen und den Verkäufer von Ansprüchen dieser Arbeitnehmer freizustellen. Betriebsratsmitglieder waren nicht darunter. Mit weiterem Kaufvertrag vom 5. April 1995 veräußerte der Beklagte das Anlagevermögen der Gemeinschuldnerin für 415.000,00 DM an die V GmbH, wobei der Übergang der Verkaufsgegenstände ebenfalls auf den 1. April 1995 festgelegt wurde. Die Abwicklungsgesellschaft trat ab 1. April 1995 vereinbarungsgemäß in Lieferverträge der Gemeinschuldnerin mit der Firma L ein. Die Geschäftsführerin der Gemeinschuldnerin war sowohl in der Geschäftsführung der V GmbH wie auch für die Abwicklungsgesellschaft tätig.

Mit der am 13. April 1995 beim Arbeitsgericht eingereichten Kündigungsschutzklage hat der Kläger geltend gemacht, eine Stilllegung des Betriebs sei nicht erfolgt. Etwa 40 Arbeitnehmer der Gemeinschuldnerin hätten ab dem 3. April 1995 nahtlos an laufenden Aufträgen weitergearbeitet. Materiallieferungen seien noch am 31. März und 3. April 1995 erwartet worden. Bereits anläßlich der Betriebsversammlung vom 29. März 1995 habe die Geschäftsführerin Arbeitnehmer angesprochen und ihnen angekündigt, der Betrieb werde durch eine Auffanggesellschaft weitergeführt, sie sollten sich zu einer Weiterbeschäftigung bereithalten. Es gebe Indizien dafür, daß die Fortsetzung der Produktion durch eine andere Gesellschaft seit Februar 1995 vorbereitet worden und die Leitungsmacht über den Betrieb schon vor Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens auf die Erwerberin übergegangen sei. Anderenfalls wäre es nicht möglich gewesen, die Kundenaufträge ohne Unterbrechung fortzusetzen. Auch sei der Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung nicht ordnungsgemäß angehört worden. Ihm hätte mitgeteilt werden müssen, daß etwa die Hälfte der Arbeitsplätze nicht wegfallen werde, sondern eine Weiterbeschäftigung durch den Übernehmer geplant sei.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, daß sein Arbeitsverhältnis nicht durch die Kündigung des Beklagten vom 29. März 1995 zum 31. Oktober 1995 aufgelöst worden sei.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat geltend gemacht, der Betrieb sei entsprechend seiner Absicht zum 31. März 1995 stillgelegt worden. Die Produktion wäre ohnehin zusammengebrochen, da der Zeitraum für den Bezug von Konkursausfallgeld erschöpft gewesen sei. Am 31. März 1995 sei ihm nicht bekannt gewesen, daß die Geschäftsführerin eine Fortsetzung der Produktion geplant habe. Die Räume der Gemeinschuldnerin seien ab dem 1. April 1995 zunächst ohne sein Wissen genutzt worden. Der Vertragseintritt der Abwicklungsgesellschaft in Lieferverträge sei am 7. April 1995 vereinbart worden.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat sie abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

A. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt, die Kündigung sei nach § 15 Abs. 4 KSchG wegen Betriebsstillegung gerechtfertigt. Die Rechtsfolgen des Betriebsübergangs nach § 613 a BGB seien nicht einschlägig, da diese Bestimmung innerhalb eines Gesamtvollstreckungsverfahrens im Beitrittsgebiet nicht gelte. Der Übergang des Betriebes könne allenfalls nach der Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens vom 31. März 1995 stattgefunden haben. Die Kaufverträge seien nämlich am 5. April 1995 abgeschlossen worden. Zwar seien bereits vor dem 31. März 1995 Vorkehrungen getroffen worden, um eine Weiterproduktion zu sichern. Daraus lasse sich aber nicht auf einen Rechtsmißbrauch schließen. Auch sei unerheblich, daß die Geschäftsführerin der Gemeinschuldnerin zugleich Geschäftsführerin der Übernehmerin sei. Der Betriebsrat sei vor Ausspruch der Kündigung ordnungsgemäß beteiligt worden. Er sei vollständig unterrichtet worden und habe sich mit Schreiben vom 30. März 1995 abschließend geäußert. Eine Unterrichtung über einen Betriebsübergang sei nicht notwendig gewesen, da ein solcher weder beabsichtigt noch erfolgt sei.

B. Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision stand.

I. Die Kündigung vom 29. März 1995 war nach § 15 Abs. 4 KSchG zulässig.

1. Die spätere Gemeinschuldnerin und der Beklagte als Sequester haben am 31. März 1995 gemeinsam die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers zum 31. Oktober 1995 erklärt. Da der Kläger Vorsitzender des bei der Gemeinschuldnerin gebildeten Betriebsrates war, kam eine ordentliche Kündigung nach § 15 Abs. 1 KSchG nicht in Betracht. Sie war nur ausnahmsweise nach § 15 Abs. 4 KSchG wegen einer Betriebsstillegung und dann frühestens zum Zeitpunkt der Betriebsstillegung zulässig, wenn nicht ein früherer Kündigungszeitpunkt durch zwingende betriebliche Erfordernisse bedingt war.

2. Der Betrieb der Gemeinschuldnerin ist stillgelegt worden.

a) Ein Betrieb wird nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stillgelegt, wenn der Betriebsinhaber die Arbeitsund Produktionsgemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Belegschaft auflöst. Notwendig ist danach die Einstellung der bisherigen wirtschaftlichen Betätigung in der ernstlichen und endgültigen Absicht, den bisherigen Betriebszweck dauernd oder zumindest für eine wirtschaftlich erhebliche Zeit nicht mehr weiterzuverfolgen (BAG Urteil vom 14. Oktober 1982 - 2 AZR 568/80 - BAGE 41, 72, 78 f. = AP Nr. 1 zu § 1 KSchG 1969 Konzern; Senatsurteil vom 27. April 1995 - 8 AZR 197/94 - BAGE 80, 74, 79 f. = AP Nr. 128 zu § 613 a BGB, zu B I 2 der Gründe; zuletzt Senatsurteil vom 22. Mai 1997 - 8 AZR 101/96 - zur Veröffentlichung vorgesehen, zu B I 2 a der Gründe, jeweils m.w.N.).

Dementsprechend stellt die Veräußerung oder Verpachtung eines Betriebes keine Betriebsstillegung dar, denn der Erwerber tritt gem. § 613 a Abs. 1 Satz 1 BGB in die Arbeitsverhältnisse mit dem bisherigen Betriebsinhaber ein. Die betriebliche Organisation bleibt erhalten, der Betriebszweck kann fortgeführt werden, die Person des Arbeitgebers wird nur ausgetauscht. Das folgt aus dem Regelungsgehalt des § 613 a BGB (vgl. BAG Urteil vom 9. Februar 1994 - 2 AZR 666/93 - AP Nr. 105 zu § 613 a BGB, zu II 2 b der Gründe; Senatsurteil vom 18. Mai 1995 - 8 AZR 741/94 EzA § 613 a BGB Nr. 139, zu B I 1 c der Gründe).

b) Gemäß Art. 232 § 5 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB gilt § 613 a BGB nicht bei einer Betriebsübertragung im Gesamtvollstreckungsverfahren.

aa) Diese Regelung sollte ursprünglich nur bis zum 31. Dezember 1992 gelten (§ 16 Abs. 2 des Gesetzes über die Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen - SpTrUG - vom 5. April 1991, BGBl. I S. 854), um "übertragende Sanierungen" bei der Umstellung der ostdeutschen Wirtschaft auf marktwirtschaftliche Verhältnisse zu erleichtern (vgl. Landfermann, ZIP 1991, 826, 832). Die Frist wurde zunächst bis zum 31. Dezember 1994 (BGBl. 1992 I S. 2116) und dann durch Art. 32 Nr. 3 Einführungsgesetz zur Insolvenzordnung (- EGInsO - BGBl. 1994 I S. 2911) bis zum 31. Dezember 1998 verlängert.

bb) Die Bezeichnung "Gesetz über die Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen" sowie die Bezugnahme des § 1 SpTrUG könnten nahelegen, daß nur Treuhandunternehmen von der Geltung des § 613 a BGB ausgeschlossen sein sollten (so Weimar/ Alfes, DB 1991, 1830; Staudinger/Rauscher, Art. 232 § 5 EGBGB Rz 26). Jedoch sprechen der eindeutige Wortlaut und die systematische Stellung der durch § 16 Abs. 2 SpTrUG nur geänderten und in Art. 232 EGBGB angesiedelten Regelung gegen eine solche restriktive Auslegung. Art. 232 § 5 EGBGB verweist auf das in Art. 3 des Einigungsvertrages genannte Gebiet. Mit dieser allgemeinen Bezugnahme ist eine Begrenzung des betroffenen Unternehmenstyps nicht vereinbar. Eine derartige Begrenzung war auch nicht beabsichtigt (Landfermann, ZIP 1991, 826, 832; MünchKomm/ BGB-Oetker, 2. Aufl., Ergänzung: Zivilrecht im Einigungsvertrag, Rz 152; KR-Pfeiffer, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz 130; Kasseler Handbuch/Müller-Glöge, Bd. 2, 10, Rz 290; Birkholz, Betriebsübergang nach § 613 a BGB in der Insolvenz, Diss. 1995, S. 127 f.). Durch die zweimalige Verlängerung des Art. 232 § 5 Abs. 2 EGBGB bis zum Inkrafttreten der Insolvenzordnung ist die Geltung für alle Unternehmen im Beitrittsgebiet bestätigt worden.

cc) Art. 232 § 5 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB erfaßt mit dem Begriff "Betriebsübertragung" alle Formen des ansonsten durch § 613 a BGB geregelten Betriebsübergangs. Die Übertragung auf einen anderen Rechtsträger genügt. Wird eine zu diesem Zweck gegründete Auffanggesellschaft von Personen vertreten oder gelenkt, die schon für das insolvente Unternehmen gehandelt haben, so steht das der Annahme einer Betriebsübertragung nicht entgegen.

dd) Art. 232 § 5 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB verstößt nicht gegen höherrangiges europäisches Gemeinschaftsrecht. Art. 3 Abs. 1 der EGRichtlinie Nr. 77/187/EWG vom 14. Februar 1977 (ABl. EG 1977 Nr. L 61, S. 26) gilt zwar im Beitrittsgebiet. Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten jedoch nicht, einen Übergang von Arbeitsverhältnissen anzuordnen, wenn ein Betrieb im Insolvenzverfahren veräußert wird und das Unternehmen zu dem von der Insolvenz betroffenen Vermögen gehört (EuGH Urteil vom 7. Februar 1985 - Rs 135/83 - ZIP 1985, 824; EuGH Urteil vom 25. Juli 1991 - Rs C-362/89 - NZA 1993, 137). Durch Art. 232 § 5 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB kann § 613 a BGB damit wirksam für Betriebsveräußerungen im Gesamtvollstreckungsverfahren abbedungen werden (Heinze, Nachtrag "Gesamtvollstreckungsordnung" zum Insolvenzrechts-Handbuch, 1993, VII.C.I., S. 182; Smid/Müller, Gesamtvollstreckungsordnung, 3. Aufl., § 9 Rz 184; MünchKomm/BGB-Oetker, 3. Aufl., Ergänzung: Art. 232 § 5 EGBGB Rz 112; Staudinger/Rauscher, Art. 232 § 5 EGBGB Rz 24; Langer-Stein, EuZW 1992, 505).

c) Daraus folgt, daß eine Stillegung des Betriebs im Sinne von § 15 Abs. 4 KSchG auch dann vorliegt, wenn dieser im Gesamtvollstreckungsverfahren nach Kündigung aller Arbeitsverhältnisse veräußert wird. Ohne die Geltung des § 613 a BGB wird die Produktionsgemeinschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmern dadurch aufgelöst, daß der Arbeitgeber die Fortführung des Betriebs endgültig aufgibt und alle Arbeitsverhältnisse löst.

aa) Zwar wurde vor Inkrafttreten des § 613 a BGB am 19. Januar 1972 die Ansicht vertreten, die Veräußerung eines Betriebs führe nicht zu einer Betriebsstillegung (vgl. Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts I, 7. Aufl. (1963), § 65 V 1, S. 686 ff.; Hueck, KSchG, 7. Aufl. (1970), § 15 Rz 29; Auffarth/Müller, KSchG, 1960, § 13 Rz 19; a.A. Herschel/Steinmann, Kommentar zum KSchG, 5. Aufl. (1961), § 13 Rz 13, jeweils m.w.N.). Nach damals überwiegender Meinung gingen die Arbeitsverhältnisse (nur) nach den allgemeinen Grundsätzen der Vertragsübernahme über, also nur bei Zustimmung aller Beteiligten einschließlich des Betriebserwerbers (BAG Urteil vom 18. Februar 1960 - 5 AZR 472/57 - BAGE 9, 62, 70 f.; BAG Urteil vom 29. November 1962 - 2 AZR 176/62 BAGE 13, 333, 337 f.; BAG Urteil vom 29. April 1966 - 3 AZR 208/65 - BAGE 18, 286, 290 f.; Hueck/Nipperdey, aaO, § 54 III 2, S. 515 ff.; a.A. Nikisch, Arbeitsrecht, Bd. I, 3. Aufl., § 46 II, S. 657 ff.). Demgegenüber findet im Geltungsbereich des Art. 232 § 5 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB kein Übergang der Arbeitsverhältnisse statt, um den Erwerber des Betriebs nicht zu belasten. Ihm ist die Entscheidungsfreiheit eingeräumt, mit wievielen und welchen Arbeitnehmern er eine Betriebstätigkeit fortsetzt. Die Weiterbeschäftigung (eines Teils) der Belegschaft geschieht aufgrund von Neueinstellungen. Der Erwerber haftet nicht für Vergütungsrückstände und sonstige Verpflichtungen des früheren Arbeitgebers. Auch wenn er vorgefundene Organisationsstrukturen nutzt, bleibt es bei der endgültigen Auflösung der ehemaligen Arbeitsund Produktionsgemeinschaft. Deshalb bleibt die Identität des Betriebes nicht gewahrt (vgl. auch ArbG Senftenberg, Urteil vom 10. November 1993 - 2 Ca 1699/93 - ZIP 1994, 663 = EWiR § 15 KSchG 2/94, 381 mit zustimmender Anm. Joost). Der Gesetzgeber hat auch anders als im Falle der Spaltung der von der Treuhandanstalt verwalteten Unternehmen (vgl. § 13 SpTrUG) kein Übergangsmandat des Betriebsrats geregelt.

bb) Eine Betriebsübertragung im Gesamtvollstreckungsverfahren liegt vor, wenn sie nach dessen Eröffnung (§§ 5, 6 GesO) erfolgt. Nicht maßgebend ist der Zeitpunkt der Antragstellung (§ 2 GesO). Für diese Auslegung spricht schon der Wortlaut des Art. 232 § 5 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB. Zwar könnte ein bei § 2 GesO ansetzendes Normverständnis die Privatisierung von Unternehmen und die Fortsetzung der Betriebstätigkeit bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten weiter erleichtern. Doch ist, abgesehen von der Gefahr einer mißbräuchlichen Antragstellung, das Gebot richtlinienkonformer Auslegung (EuGH Urteil vom 10. April 1984 - Rs 14/83 EuGHE 1984, 1891, 1909; EuGH Urteil vom 10. April 1984 - Rs 79/83 - EuGHE 1984, 1921, 1942) zu beachten. Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 25. Juli 1991 (- Rs C362/89 - NZA 1993, 137) ausdrücklich klargestellt, daß Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 77/187/EWG nur dann nicht angewandt werden muß, wenn sich das Unternehmen in einem Konkurs befindet, welcher auf die Liquidation des Schuldnervermögens zielt, um die Gläubiger kollektiv abzufinden (unter 31 der Gründe). Nur für diesen Fall ist zu begründen, daß die Richtlinie 77/187/EWG nicht eingreift (MünchKomm/BGB-Oetker, Art. 232 § 5 EGBGB Rz 123 ff.; Staudinger/Rauscher, Art. 232 § 5 EGBGB Rz 28; KR-Pfeiffer, 4. Aufl., § 613 a BGB Rz 128 f.). Unentschieden kann dagegen bleiben, ob das im Gesamtvollstreckungs-Unterbrechungsgesetz (GUG) vorgesehene Verfahren als eigenständiges konkursähnliches Verfahren zu bewerten ist (so Birkholz, aaO, S. 137 f.; Berscheid, Konkurs - Gesamtvollstreckung - Sanierung, 1992, Stichwort: Sanierung/Betriebsfortführung, Rz 74 f.) oder wie ein Zahlungsaufschub (EuGH Urteil vom 7. Februar 1985, aaO) oder eine außerordentliche Verwaltung zur Unternehmensfortführung (EuGH Urteil vom 25. Juli 1991, aaO) von der Richtlinie 77/187/EWG erfaßt wird (so Langer-Stein, EuZW 1992, 505; Smid, Das Insolvenzrecht der neuen Bundesländer, 2. Aufl., Rz 640; MünchKomm/ BGB-Oetker, 3. Aufl., Ergänzung: Art. 232 § 5 EGBGB Rz 124 ff.; ders., 2. Aufl., Ergänzung: Zivilrecht im Einigungsvertrag, Rz 155; Heinze, aaO, VII.C.3, S. 182).

cc) Der Auffassung des Landesarbeitsgerichts, die Betriebsübertragung sei erst nach der Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens erfolgt, ist zuzustimmen.

Ein Betrieb geht zu dem Zeitpunkt auf den Erwerber über, in dem dieser die Leitungs- und Organisationsmacht erhält und ausüben kann (BAG Urteil vom 22. Februar 1978 - 5 AZR 800/76 - AP Nr. 11 zu § 613 a BGB; BAG Urteil vom 25. Februar 1981 - 5 AZR 991/78 - BAGE 35, 104, 106 = AP Nr. 24 zu § 613 a BGB; BAG Urteil vom 26. Februar 1987 - 2 AZR 321/86 - AP Nr. 63 zu § 613 a BGB; BAG Urteil vom 23. Juli 1991 - 3 AZR 366/90 - BAGE 68, 160, 167 f. = AP Nr. 11 zu § 1 BetrAVG Betriebsveräußerung; BAG Urteil vom 26. März 1996 - 3 AZR 965/94 - AP Nr. 148 zu § 613 a BGB, zu B II 2 der Gründe). Dieser Zeitpunkt hängt von den Vereinbarungen zur Übernahme der Leitungsmacht ab. Dabei ist es grundsätzlich zulässig und stellt keine Umgehung des § 613 a BGB dar, wenn die Leitungsmacht bewußt erst nach Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens übertragen wird. Der Gesetzgeber wollte die Sanierung notleidender Unternehmen im Beitrittsgebiet durch die befristete Aussetzung des § 613 a BGB erleichtern. Diese Möglichkeit kann durch Planung des Übertragungsvorgangs genutzt werden. Davon zu trennen sind denkbare Fälle, in denen die Betriebsübernahme bereits vollzogen ist und nur noch "auf dem Papier" nachgeholt wird.

Die Abwicklungsgesellschaft I mbH i.L. hat rückwirkend zum 1. April 1995 die sächlichen Betriebsmittel sowie das Recht zur Firmenfortführung erworben. Sie ist in wesentliche Großkundenaufträge eingetreten, die von einem nicht unerheblichen Teil der früheren Arbeitnehmer der Gemeinschuldnerin weiter bearbeitet wurden. Damit hat sich ein Betriebsübergang vollzogen, der außerhalb des Gesamtvollstreckungsverfahrens die Rechtsfolgen des § 613 a BGB zeitigen würde.

Nach dem unstreitigen Vorbringen der Parteien wie auch nach den streitigen Behauptungen des Klägers hat die Abwicklungsgesellschaft die Möglichkeit zur Ausübung der betrieblichen Leitungsmacht erst nach dem 31. März 1995 erworben. Die Verträge über die Übernahme der Betriebsmittel wurden unstreitig erst am 5. April 1995 - mit Wirkung zum 1. April 1995 - abgeschlossen. Der Kläger hat nicht behauptet, diese Daten seien nur zum Schein verwendet worden. Sein Vortrag, der die Annahme eines früheren Betriebsübergangs rechtfertigen soll, ist nicht schlüssig, sondern belegt nur Vorbereitungshandlungen für die Betriebsübernahme. Derartige Vorbereitungshandlungen haben auf den Zeitpunkt des Betriebsübergangs keinen Einfluß (vgl. BAG Urteil vom 26. März 1996 - 3 AZR 965/94 - AP Nr. 148 zu § 613 a BGB, zu B II 3 b der Gründe). Hierzu zählt insbesondere das Ansprechen von Arbeitnehmern am 29. März 1995, sich für eine Weiterbeschäftigung nach Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens bereit zu halten. Hierdurch wird die Leitungsmacht der Gemeinschuldnerin und des Beklagten als Sequester bis einschließlich 31. März 1995 ebensowenig in Frage gestellt wie durch eine nahtlose Fortführung der Produktion ab dem 3. April 1995 und den damit verbundenen Eintritt in Lieferverträge mit Großkunden. Zeitpunkt und Umstände der Kreditaufnahme durch die Abwicklungsgesellschaft besagen für den Zeitpunkt der Betriebsübertragung nichts. Dasselbe gilt für die Freistellung der Arbeitnehmer seitens des früheren Betriebsinhabers, zumal der Bezugszeitraum für das Konkursausfallgeld mit dem 31. März 1995 endete.

3. Der Beklagte hat die Kündigung zum 31. Oktober 1995 und damit frühestens zum Zeitpunkt der Betriebsstillegung ausgesprochen. Die Betriebsübertragung, die endgültig zur Auflösung der Arbeits- und Produktionsgemeinschaft zwischen dem früheren Arbeitgeber und der Belegschaft geführt hat, war spätestens bei Ablauf der Kündigungsfrist vollzogen.

Entgegen der Auffassung der Revision durfte die Kündigung nicht erst nach Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens erfolgen. Eine Kündigung nach § 15 Abs. 4 KSchG kann bereits vor dem Zeitpunkt der Betriebsstillegung erklärt werden. Zum Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung muß ein ernstlicher Entschluß des Arbeitgebers zur Stillegung bestehen, der schon greifbare Formen angenommen hat und die Prognose rechtfertigt, daß bis zum Ablauf der einzuhaltenden Kündigungsfrist die Stillegung durchgeführt sein werde (BAG Urteil vom 23. März 1984 - 7 AZR 409/82 AP Nr. 38 zu § 1 KSchG 1969 Betriebsbedingte Kündigung; BAG Urteil vom 3. April 1987 - 7 AZR 66/86 - NZA 1988, 37). Die Wirksamkeit der Kündigung hängt davon ab, daß es spätestens zum Kündigungstermin tatsächlich zum Wegfall der Beschäftigungsmöglichkeit kommt (BAG Urteil vom 23. April 1980 - 5 AZR 49/78 BAGE 33, 94 = AP Nr. 8 zu § 15 KSchG 1969). Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Die Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens stand unmittelbar bevor. Der Beklagte hatte alle nötigen Vorkehrungen getroffen, die Produktion dann endgültig nicht mehr fortzusetzen. Als Betriebsstillegung in diesem Sinne reichte es, wie ausgeführt, aus, wenn der Betrieb im Gesamtvollstreckungsverfahren veräußert werden sollte und tatsächlich auch veräußert wurde.

4. Im Streitfall ist nicht zu prüfen, ob ein Einstellungsanspruch von Betriebsratsmitgliedern bestehen kann, wenn der Erwerber lediglich Betriebsratsmitglieder nicht übernimmt. Ansprüche gegen den Erwerber werden nicht geltend gemacht. Dieser hat auch nicht nur den Betriebsratsmitgliedern, sondern insgesamt ca. 50 % der früheren Belegschaft keinen neuen Arbeitsvertrag angeboten.

II. Die Kündigung ist nicht gemäß § 102 Abs. 1 BetrVG unwirksam.

1. Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, daß der Beklagte den Betriebsrat vor Ausspruch der Kündigung ausreichend über die Kündigungsgründe unterrichtet hat. Dabei ist nicht maßgebend, ob ein anderes Unternehmen zu diesem Zeitpunkt bereits über den Versuch einer Fortführung der Produktion entschieden hatte und ob der Beklagte ggf. hiervon Kenntnis hatte.

Der Arbeitgeber hat den Betriebsrat gem. § 102 Abs. 1 Satz 2 BetrVG über alle Tatsachen und subjektiven Vorstellungen zu unterrichten, die ihn zu der Kündigung veranlassen (BAG Urteil vom 27. Juni 1985 - 2 AZR 412/84 - BAGE 49, 136, 142 f. = AP Nr. 37 zu § 102 BetrVG 1972; BAG Urteil vom 22. September 1994 - 2 AZR 31/94 - BAGE 78, 39, 46 ff. = AP Nr. 68 zu § 102 BetrVG 1972). Wesentlich für die Stillegung des Betriebs war die endgültige Aufgabe der wirtschaftlichen Betätigung durch den bisherigen Betriebsinhaber schon zum Zeitpunkt der Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens nebst Kündigung aller Mitarbeiter. Hierüber ist der Betriebsrat zutreffend und vollständig informiert worden. Die Stillegung erfolgte unabhängig von einer etwaigen Übertragung des Betriebs im Gesamtvollstreckungsverfahren. Die Übertragung war nicht wesentlich für die Betriebsstillegung. Sie stellte nicht den Kündigungsgrund dar, sondern betraf nur die Einstellungschancen bei einem anderen Arbeitgeber. Eine Auswahl unter den Arbeitnehmern des Betriebs konnte sich von vornherein nicht auf die Kündigungen, sondern nur auf die Einstellungen durch einen neuen Arbeitgeber beziehen. Dafür war eine Mitwirkungskompetenz des Betriebsrats nicht mehr gegeben.

2. Das Landesarbeitsgericht hat unangefochten und für den Senat bindend festgestellt, daß der Betriebsrat zu der Kündigung des Klägers am 30. März 1995 abschließend Stellung genommen hat. Damit war das Anhörungsverfahren abgeschlossen, und die Kündigung konnte am 31. März 1995 durch Übergabe des Kündigungsschreibens vom 29. März 1995 wirksam erklärt werden.

3. Sonstige Fehler des Beteiligungsverfahrens sind nicht ersichtlich und werden vom Kläger auch nicht geltend gemacht.

III. Es kann dahingestellt bleiben, ob § 25 Abs. 1 HGB oder § 419 Abs. 1 BGB Grundlage für eine Unwirksamkeit der Kündigung sein könnten. Beide Vorschriften sind nach allgemeiner Meinung nicht anwendbar, wenn der Konkursverwalter das Unternehmen des Gemeinschuldners veräußert (BGH Urteil vom 11. April 1988 - II ZR 313/87 - BGHZ 104, 151, 153 ff., m.w.N.). Entsprechendes hat im Gesamtvollstreckungsverfahren zu gelten.

C. Der Kläger hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.

 

Unterschriften

Ascheid Dr. Wittek Mikosch Noack Hannig

 

Veröffentlichung

Veröffentlicht am 25.09.1997 durch Siegel, Amtsinspektorin als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle

 

Fundstellen

BAGE, 336

BB 1998, 380

DB 1998, 525

FA 1998, 135

KTS 1998, 487

NZA 1998, 640

RdA 1998, 187

ZAP-Ost 1998, 101

ZIP 1998, 253

AuA 1998, 255

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