Entscheidungsstichwort (Thema)

Tariflicher Abfindungsanspruch bei Entlassung

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Jede Tarifvertragspartei kann sich beim Tarifabschluß nach den allgemeinen Regeln des Rechts der Stellvertretung (§§ 164 ff BGB) durch Dritte vertreten lassen.

2. Ein Tarifvertrag kann auch - als sogenannter mehrgliedriger Tarifvertrag - von mehreren auf einer Seite handelnden Tarifvertragsparteien, zB von mehreren einzelnen Arbeitgebern, gemeinsam abgeschlossen werden.

3. § 8 Abs 5 des Tarifvertrages über die Qualifizierung und Milderung wirtschaftlicher Nachteile im Zusammenhang mit der Privatisierung vom 28.1.1991 steht im Falle des Widerspruchs des Arbeitnehmers gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den Betriebserwerber einem Abfindungsanspruch nicht entgegen, wenn das Arbeitsverhältnis unabhängig von seinem Übergang auf den Betriebserwerber aus betrieblichen Gründen ohnehin keinen Bestand mehr gehabt hätte.

 

Verfahrensgang

LAG Brandenburg (Entscheidung vom 04.06.1992; Aktenzeichen 3 Sa 251/91)

ArbG Cottbus (Entscheidung vom 26.09.1991; Aktenzeichen 2 Ca 1592/91)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger aufgrund seiner Entlassung durch die Beklagte einen tariflichen Anspruch auf Abfindung hat.

Der Kläger war seit 1973 bei der Handelsorganisation (HO) und später bei der G gesellschaft mbH, einer Rechtsnachfolgerin der HO, beschäftigt. Zuletzt war er Betriebsleiter der Gaststätte "Z " in C . Die jetzige Beklagte ist Rechtsnachfolgerin der G gesellschaft mbH.

Die Gaststätte "Z " wurde im Zuge der Privatisierung des Einzelhandels durch Vereinbarung vom 20. Februar 1991 an die TSG-Gastronomie Bewirtschaftungs-GmbH, C , veräußert und dieser am 3. April 1991 übergeben. In der Vereinbarung ist folgendes bestimmt:

§ 3

Arbeitsverhältnisse

Der Erwerber ist verpflichtet, zum Stichtag in

alle Arbeits- und Ausbildungsverhältnisse der Be-

schäftigten des gastgewerblichen Betriebs einzu-

treten. Unabhängig davon, ob die Arbeits- und

Ausbildungsverhältnisse auf den Erwerber überge-

hen, stellt der Erwerber den bisherigen Arbeitge-

ber ab dem Stichtag von allen Verpflichtungen aus

diesen frei. Das gilt auch dann, wenn Arbeitneh-

mer oder Auszubildende einer Übernahme widerspre-

chen.

Der Geschäftsführer der Betriebserwerberin erklärte unter dem 26. März 1991 schriftlich gegenüber dem Kläger folgendes:

Ich erkläre in meiner Eigenschaft als Käufer und

zukünftiger Betreiber des Geschäftsbetriebes der

Gaststätte "Z " in ,

Straße d K , daß ich Herrn R F -

, wohnhaft in C , R Straße

, bisher tätig als Leiter der Gaststätte "Z

" im Auftrage der G gesell-

schaft mbH, Regionalbetrieb c h g Hotel- und

Gaststätten GmbH C , nach Übernahme des Ge-

schäfts nicht weiter beschäftigen kann.

Die Stelle des Geschäftsführers werde ich als Er-

werber selbst einnehmen, und alle anderen in der

Gaststätte vorhandenen Arbeitsplätze sind mit Ar-

beitskräften besetzt.

Daraufhin widersprach der Kläger mit schriftlicher Erklärung vom 26. März 1991 dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die Betriebserwerberin mit der Begründung, daß für ihn als ehemaligen Leiter der Gaststätte "Z " dort keine Tätigkeit mehr möglich sei. Mit einem vom 20. März 1991 datierten Schreiben kündigte die G gesellschaft mbH das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger zum 30. Juni 1991 mit der Begründung, daß der Kläger nicht auf einen neuen Arbeitgeber übergehen wolle und daß die G gesellschaft mbH im Zuge der Privatisierung aufgelöst werde. Zwischen den Parteien ist streitig geblieben, ob das Kündigungsschreiben dem Kläger, wie er behauptet, vor dem 26. März 1991 oder, so die Beklagte, danach zugegangen ist.

Der Kläger ist bei der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten organisiert. Er hat die Auffassung vertreten, ihm stehe aufgrund der Kündigung eine Abfindung in rechnerisch unstreitiger Höhe von 10.125,00 DM zu. Dies ergebe sich aus § 8 Abs. 1 des Tarifvertrags über die Qualifizierung und Milderung wirtschaftlicher Nachteile im Zusammenhang mit der Privatisierung (GPH-TV), den die Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten am 28. Januar 1991 mit der GPH Gesellschaft zur Privatisierung des Handels mbH abgeschlossen hat. Der GPH-TV enthält unter anderem folgende Bestimmungen:

§ 3

Grundsätze

Der Tarifvertrag soll dazu beitragen, daß

- Arbeitsplätze erhalten werden

- von Entlassungen betroffene Arbeitnehmer durch

Qualifizierungsmaßnahmen auf neue Tätigkeiten

vorbereitet werden

- durch Festlegung von Abfindungen wirtschaftli-

che Nachteile gemildert werden.

§ 4

Betriebsübergang

1. Gehen Betriebe oder Betriebsteile durch

Rechtsgeschäft auf einen Erwerber über, so

wird die GPH durch Begründung entsprechender

Pflichten im Kaufvertrag sicherstellen, daß

die in diesen Betrieben/Betriebsteilen Be-

schäftigten nach § 613 a BGB übernommen wer-

den.

2. Werden Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres

nach dem Betriebsübergang vom Erwerber aus

dringenden betrieblichen Gründen (§ 1 Abs. 2

Satz 1 KSchG) gekündigt, so hat der neue Ar-

beitgeber eine Abfindung zu zahlen, die der

Höhe nach der Abfindung entspricht, die ge-

zahlt worden wäre, wenn der Betriebsübergang

nicht stattgefunden hätte und dem Arbeitnehmer

gekündigt worden wäre.

...

§ 5

Maßnahmen der beruflichen Bildung

1. Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis nicht

auf einen Erwerber übergegangen ist, erhalten

die Möglichkeit der beruflichen Qualifizie-

rung.

...

2. Entscheidet sich ein Arbeitnehmer für eine von

der Bundesanstalt für Arbeit geförderte Quali-

fizierungsmaßnahme, so wird neben dem Unter-

haltsgeld nach dem AFG ein monatlicher Vor-

schuß auf die Abfindung gemäß § 8 bezahlt. Der

Vorschuß beträgt 17 % des für die Bemessung

des Unterhaltsgeldes maßgebenden Einkommens.

Der Vorschuß wird für eine Dauer von bis zu

6 Monaten gezahlt.

...

§ 8

Abfindung

1. Alle Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis

nicht auf einen neuen Arbeitgeber übergeht und

gekündigt oder auf Veranlassung des Arbeitge-

bers durch Aufhebungsvertrag beendet wird, er-

halten eine Abfindung in Höhe von 25 % ihres

tariflichen Bruttomonatseinkommens pro anrech-

nungsfähigem Beschäftigungsjahr. Stichtag für

die Bemessung des Bruttomonatsgehaltes ist der

01.02.1991 oder ein früherer Zeitpunkt des

Ausscheidens. Keine Abfindung erhalten Arbeit-

nehmer, deren Arbeitsverhältnis aus wichtigem

Grund außerordentlich oder verhaltensbedingt

ordentlich gekündigt wird; der Arbeitgeber

trägt die Beweislast für den Kündigungsgrund.

...

4. Hat der Arbeitnehmer Vorschüsse auf die Abfin-

dung gemäß § 5 erhalten, so gilt:

...

b) Jeder Arbeitnehmer, der an einer mindestens

2 Monate dauernden Qualifizierungsmaßnahme

teilgenommen hat, erhält eine Mindestrest-

abfindung, die bei einem Lebensalter von

bis zu 35 Jahren 25 %

35 bis zu 49 Jahren 50 %

mindestens 50 Jahren 75 %

eines Tarifbruttomonatseinkommens im Sinne des

Abs. 1 beträgt; der Betrag gemäß Abs. 1 erhöht

sich rechnerisch entsprechend.

...

5. Arbeitnehmer, die den Übergang des Arbeitsver-

hältnisses auf einen Erwerber durch Wider-

spruch verhindert haben, besitzen Anspruch auf

Teilnahme an Qualifizierungsmaßnahmen gemäß

§ 5. Der Abfindungsanspruch ist jedoch auf die

Leistungen beschränkt, die sich aus § 5 Abs. 2

und § 8 Abs. 4 Buchstabe b ergeben. Eventuelle

Leistungen des Übernehmers in diesem Zusammen-

hang werden angerechnet.

...

§ 12

Dieser Tarifvertrag wird für alle zur Gesell-

schaft gehörenden Unternehmen gemäß Anlage im

Rahmen rechtsgeschäftlich begründeter Tarif-

führerschaft geschlossen.

...

In der Anlage zu § 12 GPH-TV ist auch die G gesellschaft mbH aufgeführt.

Nach Auffassung des Klägers steht der Umstand, daß er dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die Betriebserwerberin widersprochen hat, einem Abfindungsanspruch nicht entgegen, da bei dem neuen Arbeitgeber ohnehin keine Beschäftigungsmöglichkeit für ihn bestanden habe.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger

10.125,00 DM netto nebst 4 % Zinsen seit dem

22. August 1991 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Nach ihrer Meinung hat der Kläger durch seinen Widerspruch den Übergang des Arbeitsverhältnisses verhindert, so daß ihm nach § 8 Abs. 5 GPH-TV ein Abfindungsanspruch nicht zustehe. Hierfür sei es ohne Bedeutung, ob die Betriebserwerberin zur Weiterbeschäftigung des Klägers bereit gewesen sei oder nicht. Der Kläger hätte sich gegen eine mögliche Kündigung durch die Betriebserwerberin wehren können.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet und führt zur Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Der Kläger hat nach dem GPH-TV Anspruch auf Abfindung.

I. Auf das zwischen dem Kläger und der G gesellschaft mbH bestehende Arbeitsverhältnis war der GPH-TV anwendbar. Die Tarifbindung des Klägers ergab sich aus seiner Mitgliedschaft in der Gewerkschaft Nahrung-Genuß-Gaststätten. Die G gesellschaft mbH war Partei des GPH-TV, denn sie gehörte zu den Unternehmen, in deren Namen der GPH-TV nach seinem § 12 abgeschlossen worden war.

Der Wirksamkeit dieses Tarifvertrages steht nicht entgegen, daß er auf Arbeitgeberseite weder von einem Verband noch unmittelbar von einem einzelnen Unternehmen, sondern von der in rechtsgeschäftlicher Vertretung für mehrere Unternehmen handelnden GPH abgeschlossen worden ist. Zum einen kann sich nämlich jede Tarifvertragspartei bei Tarifverhandlungen und dem Abschluß des Tarifvertrages nach den allgemeinen Regeln des Rechts der Stellvertretung (§§ 164 ff. BGB) durch Dritte vertreten lassen (BAGE 27, 175, 180 f. = AP Nr. 29 zu § 1 TVG, zu I 3 der Gründe). Es sind keine Gesichtspunkte erkennbar, die der Anwendung dieser allgemeinen Regeln entgegenstehen würden. Zum anderen ist allgemein anerkannt, daß ein Tarifvertrag auch - als sogenannter mehrgliedriger Tarifvertrag - von mehreren auf einer Seite handelnden Tarifvertragsparteien, z.B. von mehreren einzelnen Arbeitgebern gemeinsam, abgeschlossen werden kann. Dabei ist es für die Zulässigkeit eines solchen Vorgehens ohne Bedeutung, ob es sich lediglich um mehrere, in derselben Vertragsurkunde zusammengefaßte rechtlich selbständige Verträge handelt, die unabhängig voneinander bestehen, oder ob die Tarifvertragsparteien vereinbart haben, daß gewisse Vertragsrechte nur gemeinsam ausgeübt werden können (Senatsurteile vom 10. November 1993 - 4 AZR 184/93 - und - 4 AZR 198/93 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen; Däubler, Tarifvertragsrecht, 3. Aufl., Rz 107; MünchArbR/Löwisch, Bd. 3, § 249 Rz 4 ff.; Löwisch/Rieble, TVG, § 1 Rz 341 ff., § 2 Rz 59; Schaub, Arbeitsrechts-Handbuch, 7. Aufl., S. 1495; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 2 Rz 64; Windbichler, Arbeitsrecht im Konzern, S. 470 f.).

Aus der Wortwahl des § 2 Abs. 1 TVG, der "einzelne Arbeitgeber" als Tarifvertragsparteien nennt, ergibt sich nichts Gegenteiliges. So läßt der in § 2 Abs. 1 TVG verwendete unbestimmte Plural die Zahl der als Tarifvertragsparteien Handelnden offen. Auch das Wort "einzelne" enthält insoweit keine Einschränkung, da es lediglich verdeutlichen soll, daß neben Arbeitgebervereinigungen auch Arbeitgeber als solche tariffähig sein sollen. Hierbei ist es aber ohne Belang, ob einer Arbeitgebervereinigung ein Arbeitgeber oder mehrere einzelne Arbeitgeber, die gemeinsam handeln, gegenübergestellt werden.

II. Der Anspruch des Klägers ergibt sich aus § 8 Abs. 1 GPH-TV.

1. Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist von der G gesellschaft mbH nicht auf die Betriebserwerberin übergegangen, weil er dem Übergang widersprochen hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts stand dem Kläger ein solches Widerspruchsrecht nach § 613 a BGB zu (zuletzt BAG Urteil vom 7. April 1993 - 2 AZR 449/91 (B)- NZA 1993, 795, 796 f.). Dem Widerspruchsrecht stand auch Gemeinschaftsrecht nicht entgegen (EuGH Urteil vom 16. Dezember 1992 - Rs C-132/91, 138/91 und 139/91 - NZA 1993, 169). Da der Kläger dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses am 26. März 1991 und damit vor dem am 3. April 1991 erfolgten Betriebsübergang widersprochen hat, war der Widerspruch auch rechtzeitig (BAGE 45, 140, 144 = AP Nr. 37 zu § 613 a BGB, zu III 1 der Gründe).

2. Auch die zweite in § 8 Abs. 1 GPH-TV genannte Voraussetzung für den Abfindungsanspruch liegt vor, da das Arbeitsverhältnis des Klägers von seinem Arbeitgeber, der G gesellschaft mbH, wegen fehlender Weiterbeschäftigungsmöglichkeit gekündigt worden ist.

III. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist der Abfindungsanspruch nicht durch § 8 Abs. 5 GPH-TV ausgeschlossen. Dies ergibt sich unabhängig davon, ob die Kündigung vor oder nach dem Widerspruch des Klägers gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses erfolgt ist, aus dem Zweck des GPH-TV.

1. Zwar steht § 8 Abs. 5 GPH-TV, wenn ausschließlich auf den Wortlaut der Bestimmung abgestellt wird, dem Abfindungsanspruch des Klägers entgegen. Da der Kläger den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf die Betriebserwerberin durch seinen Widerspruch verhindert hat, konnte ihm bei reiner Wortinterpretation des § 8 Abs. 5 Satz 2 GPH-TV ein Abfindungsanspruch nur gemäß § 5 Abs. 2 und § 8 Abs. 4 Buchst. b GPH-TV zustehen. Eine nach diesen Bestimmungen zu zahlende Abfindung setzt aber die Teilnahme an einer von der Bundesanstalt für Arbeit geförderten Qualifizierungsmaßnahme voraus, für die hier nichts vorgetragen ist.

2. Der Zweck des GPH-TV erfordert aber eine einschränkende Auslegung von § 8 Abs. 5 in dem Sinne, daß diese Bestimmung solche Fälle nicht erfaßt, in denen das Arbeitsverhältnis unabhängig von seinem Übergang auf den Betriebserwerber aus betrieblichen Gründen ohnehin keinen Bestand mehr gehabt hätte, so daß der Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses im wesentlichen lediglich zur Folge gehabt hat, daß nicht der Betriebserwerber, sondern der Betriebsveräußerer die Kündigung ausgesprochen hat.

a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages, über die hier zwischen den Parteien Streit besteht, folgt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zwar zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen. Dabei ist jedoch der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen, ohne am Buchstaben zu haften. Soweit der Tarifwortlaut nicht eindeutig ist, ist der in den tariflichen Normen zum Ausdruck kommende wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen. Abzustellen ist ferner auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefern und nur so der Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden kann. Läßt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse gilt es zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. z.B. Senatsurteil vom 23. September 1992 - 4 AZR 66/92 - AP Nr. 8 zu § 1 TVG Tarifverträge: Großhandel, zu I 2 a der Gründe, m.w.N.).

b) Der Zweck des GPH-TV ist nach dessen § 3 in erster Linie auf die Erhaltung von Arbeitsplätzen gerichtet. Außerdem sollen, wenn der Arbeitsplatzverlust nicht zu vermeiden ist, die damit verbundenen wirtschaftlichen Nachteile durch eine Abfindung gemildert werden. Diesem Regelungszweck würde es widersprechen, wollte man buchstabengetreu in jedem Fall den Widerspruch des Arbeitnehmers gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf den Betriebserwerber als abfindungsschädlich nach § 8 Abs. 5 GPH-TV ansehen.

aa) Innerhalb des mit dem GPH-TV verfolgten Zwecks soll nämlich § 8 Abs. 5 den Abfindungsanspruch dann ausschließen oder mindern, wenn der Arbeitnehmer selbst zum Verlust seines Arbeitsplatzes dadurch beigetragen hat, daß er durch den Widerspruch gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses die beim Betriebserwerber mögliche Weiterbeschäftigung vereitelt hat. In einem solchen Fall haben die Tarifvertragsparteien den Arbeitnehmer als nicht so schutzbedürftig angesehen, daß für den Verlust des Arbeitsplatzes eine Abfindung nach § 8 Abs. 1 GPH-TV angemessen wäre.

Dem entspricht auch die in § 8 Abs. 1 GPH-TV enthaltene Wertung, wonach ein Arbeitnehmer dann nicht vom Schutzzweck dieser Bestimmung erfaßt wird, wenn er selbst das Arbeitsverhältnis kündigt, ohne Veranlassung durch den Arbeitgeber einen Aufhebungsvertrag abschließt oder selbst den Grund für eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber setzt.

Der Senat hat daher in seinem Urteil vom 10. November 1993 (- 4 AZR 184/93 -, zur Veröffentlichung in der Fachpresse vorgesehen) nach § 8 Abs. 5 GPH-TV den Abfindungsanspruch einer Arbeitnehmerin verneint, die dem Übergang ihres Arbeitsverhältnisses deswegen widersprochen hatte, weil sie für einen kurz nach dem vorgesehenen Betriebsübergang liegenden Zeitpunkt bereits ein neues Arbeitsverhältnis in Aussicht genommen hatte.

bb) Von diesem Zweck des Tarifvertrags ist der mit dem Widerspruch des Arbeitnehmers gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses begründete Ausschluß des Abfindungsanspruchs dann aber nicht mehr gedeckt, wenn der Betriebserwerber schon vor dem Betriebsübergang die baldige Entlassung des Arbeitnehmers angekündigt und dies auf solche betriebliche Gründe gestützt hat, die dem Arbeitnehmer ein Beharren auf dem übergegangenen Arbeitsverhältnis aussichtslos erscheinen lassen müssen. In diesem Fall würde nämlich der Übergang des Arbeitsverhältnisses auf den Betriebserwerber nichts zur Erhaltung des Arbeitsplatzes beitragen, sondern lediglich dazu führen, daß anstelle des bisherigen Arbeitgebers der Betriebserwerber das Arbeitsverhältnis auflöst.

Um einen solchen Fall handelt es sich hier. Dem Kläger war von der Erwerberin mitgeteilt worden, daß die von ihm in dem übertragenen Betrieb ausgeübte Tätigkeit des Betriebsleiters als Arbeitsplatz eines Arbeitnehmers nach dem Erwerb wegfallen werde, weil sie von einem ihrer Geschäftsführer, Herrn G , übernommen werden sollte. Angesichts dessen mußte der Kläger davon ausgehen, daß die Erwerberin sein Arbeitsverhältnis zum frühestmöglichen Zeitpunkt kündigen werde, ohne daß er sich hiergegen mit Aussicht auf Erfolg würde zur Wehr setzen können. Dieser früheste Zeitpunkt für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses war, wenn man von einem Ausspruch der Kündigung erst nach dem Betriebsübergang im April 1991 ausgeht, angesichts der 18jährigen Beschäftigungszeit des Klägers nach § 55 Abs. 2 AGB-DDR der 30. Juni 1991, also der Termin, zu dem die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die G gesellschaft mbH erfolgt ist. Damit wäre für den Bestand des Arbeitsverhältnisses durch den Übergang auf die Betriebserwerberin nichts gewonnen gewesen.

cc) Dem hier im Wege der teleologischen Reduktion gewonnenen Auslegungsergebnis steht nicht etwa entgegen, daß es, wie die Beklagte in der Revisionserwiderung meint, durch Veränderung der mit dem GPH-TV verbundenen wirtschaftlichen Belastungen in die "Abfindungsarithmetik" des Tarifvertrages eingriffe. Ein solcher Eingriff ist nicht ersichtlich, denn unabhängig davon, ob das Arbeitsverhältnis auf den Betriebserwerber übergeht und dann von diesem gekündigt wird, oder ob der Arbeitnehmer dem Übergang widerspricht und darauf von seinem bisherigen Arbeitgeber entlassen wird, ändert sich weder der Umfang des Abfindungsanspruchs noch die Person dessen, der durch diesen wirtschaftlich belastet wird. Aus § 4 Abs. 2 i.V.m. § 8 Abs. 1 GPH-TV folgt, daß es für den Abfindungsanspruch des Arbeitnehmers keinen Unterschied macht, ob er von seinem bisherigen Arbeitgeber oder - innerhalb eines Jahres nach Betriebsübergang - vom Betriebserwerber entlassen wird. Zwar richtet sich der Abfindungsanspruch im ersten Fall gegen den bisherigen Arbeitgeber und im zweiten Fall gegen den Betriebserwerber. In beiden Fällen trägt aber nach § 3 der im Bereich der GPH verwendeten formularmäßigen Vereinbarung über den Betriebsübergang der Betriebserwerber die mit der Abfindung verbundene wirtschaftliche Belastung, denn nach dieser Bestimmung hat er den Betriebsveräußerer von allen Verpflichtungen aus den im übergegangenen Betrieb bestehenden Arbeitsverhältnissen freizustellen, und zwar auch dann, wenn Arbeitnehmer dem Übergang widersprochen haben.

Auch soweit sich die Beklagte gegen die hier vorgenommene Auslegung auf Wertungen beruft, die sie den Vorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes über Sozialpläne entnimmt, greifen ihre Bedenken nicht durch. Für sozialplanähnliche Regelungen in Tarifverträgen können, schon aus Rücksicht auf die vom Grundgesetz geschützte Tarifautonomie, die inhaltlichen Vorgaben keine Geltung beanspruchen, die das Betriebsverfassungsgesetz für Sozialpläne enthält.

c) Für die sich aus dem Zweck des Tarifvertrages ergebende Auslegung ist es ohne Bedeutung, ob die Kündigung des Arbeitsverhältnisses erst als Reaktion der G gesellschaft mbH auf den Widerspruch des Klägers gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses erfolgt ist oder ob der Kläger erst nach der Kündigung dem Übergang seines Arbeitsverhältnisses widersprochen und damit den Übergang eines gekündigten Arbeitsverhältnisses auf die Betriebserwerberin verhindert hat. In beiden Fällen hätte nämlich der Übergang des Arbeitsverhältnisses auf die Betriebserwerberin nichts zur Erhaltung des Arbeitsplatzes beigetragen.

IV. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.

Schaub Schneider Dr. Wißmann

Kiefer Schwarz

 

Fundstellen

Haufe-Index 439292

BAGE 00, 00

BAGE, 107

BB 1993, 2450

BB 1994, 289

BB 1994, 289-290 (LT1-3)

DB 1994, 1293 (LT1-3)

NZA 1994, 564

NZA 1994, 564-566 (LT1-3)

ZAP, RNB-Nr 21/94 (S)

AP § 1 TVG, Nr 39

AR-Blattei, ES 10 Nr 6 (LT1-3)

AuA 1994, 152-153 (LT1-3)

AuA 1994, 59-60 (T)

EzA § 4 TVG Einzelhandel, Nr 23 (LT1-3)

MDR 1994, 489 (LT)

RAnB 1994, 223 (L)

ZAP-DDR, EN-Nr 587/93 (S)

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