Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufliche Arbeitnehmerweiterbildung

 

Leitsatz (amtlich)

Eine Bildungsveranstaltung zur Streßerkennung und -bewältigung, die über ein Fitneß- und Gesundheitstraining hinausgeht, kann der beruflichen Arbeitnehmerweiterbildung dienen. Voraussetzung ist, daß das Konzept der Veranstaltung darauf abzielt, Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln, die von Arbeitnehmern bei ihrer beruflichen Tätigkeit zur besseren Bewältigung von Streß- und Konfliktsituationen verwertet werden und sich auch für den Arbeitsprozeß vorteilhaft, z.B. durch Verringerung der Fehlerquote, auswirken können.

 

Normenkette

Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz NRW (AWbG) §§ 1, 7, 9; BGB § 366

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 13.12.1993; Aktenzeichen 19 Sa 1294/93)

ArbG Krefeld (Urteil vom 09.07.1993; Aktenzeichen 5 Ca 1159/93)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 13. Dezember 1993 – 19 Sa 1294/93 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz NRW (AWbG) zur Fortzahlung des Arbeitsentgelts verpflichtet ist.

Der Kläger ist seit 1972 als Meß- und Regeltechniker in dem in Nordrhein-Westfalen gelegenen Betrieb der Beklagten beschäftigt. Er teilte Mitte April 1993 der Beklagten mit, er wolle sich in der Zeit vom 24. bis 28. Mai 1993 in dem Seminar “Anti-Streß-Training für den Beruf”, veranstaltet von der Volkshochschule der Stadt Viersen, nach dem AWbG weiterbilden. Die Beklagte lehnte die erbetene Freistellung ab. Der Kläger hat daraufhin zunächst Klage auf Abgabe der Freistellungserklärung erhoben. Im arbeitsgerichtlichen Gütetermin ist folgender Teilvergleich geschlossen worden:

  • Die Parteien sind sich darüber einig, daß der Kläger für die Zeit vom 24. bis 28.05.1993 von seiner Verpflichtung zur Arbeitsleistung freigestellt wird. Ob die Freistellung als Bildungsurlaub oder als bezahlter Urlaub behandelt werden wird, hängt vom Ausgang des vorliegenden Verfahrens ab.

Der Kläger nahm an der Veranstaltung teil, die wie folgt angekündigt war:

“Anti-Streß-Training für den Beruf

Kompaktkurs – anerkannt nach dem Arbeitnehmerweiterbildungsgesetz NRW

Der Kurs richtet sich vorrangig an Arbeitnehmer/ -innen, die am eigenen beruflichen Streß- und Konfliktverhalten etwas ändern möchten. Sie lernen, anhand praxisnaher Beispiele berufliche Streß- und Konfliktsituationen zu erkennen, zu verstehen und zu verändern. Der Trainingsschwerpunkt liegt bei der kognitiven Streß- und Konfliktbewältigung durch kurzfristige Erleichterungen und langfristige Methoden.”

Er hat behauptet, er werde an seinem Arbeitsplatz häufig durch kurzfristig zugewiesene eilige Arbeitsaufträge besonderen seelischen Belastungen ausgesetzt. Durch den Kursbesuch werde er in die Lage versetzt, besser mit den an seinem Arbeitsplatz entstehenden Streß- und Konfliktsituationen zurechtzukommen.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an den Kläger 1.246,15 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 28. Oktober 1993 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage zurückzuweisen.

Sie hat geltend gemacht, der Kurs diene der Gesundheitsvorsorge, nicht jedoch der beruflichen Weiterbildung.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers ist der Klage stattgegeben worden. Ziel der zugelassenen Revision ist, das klageabweisende erstinstanzliche Urteil wieder herzustellen. Der Kläger bittet um Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

I. Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte nach § 7 Satz 1 i.V.m. § 1 Abs. 1, § 9 Satz 1 AWbG Anspruch auf Fortzahlung des Arbeitsentgelts für die Zeit der Arbeitnehmerweiterbildung vom 24. bis 28. Mai 1993 in Höhe von 1.246,15 DM brutto.

1. Die Fortzahlung des Arbeitsentgelts für die Zeit der Arbeitnehmerweiterbildung setzt nach § 1 Abs. 1 AWbG voraus, daß der Arbeitnehmer von der Arbeit zum Zwecke der beruflichen und/oder politischen Weiterbildung in einer anerkannten Bildungsveranstaltung vom Arbeitgeber freigestellt worden ist (BAG Urteile vom 9. November 1993 – 9 AZR 306/89 – AP Nr. 6 zu § 7 BildungsurlaubsG NRW und vom 21. September 1993 – 9 AZR 335/91 – AP Nr. 6 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW; BAGE 73, 135, 137; 74, 204, 205 = AP Nr. 2 und 7 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW).

2. Die erforderliche Freistellung von der Arbeitspflicht für die Zeit vom 24. bis 28. Mai 1993 ist durch den am 19. Mai 1993 protokollierten gerichtlichen Teilvergleich erfolgt.

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats obliegt es dem Arbeitgeber als Schuldner des Freistellungsanspruches zu bestimmen, welchen Freistellungsanspruch er erfüllen will (BAGE 68, 308, 312 =  AP Nr. 12 zu § 7 BUrlG, zu II 1b der Gründe; BAGE 54, 63, 66 =  AP Nr. 10 zu § 7 BUrlG, zu I 1 der Gründe). Hat er die Erfüllungshandlung erbracht, ist ihm nach dieser Rechtsprechung verwehrt, später die Anspruchsgrundlagen für die getilgte Leistung mit einem anderen vom Gläubiger nicht geforderten Anspruch auszutauschen (BAG Urteil vom 25. Oktober 1994 – 9 AZR 339/93 –, NZA 1995, 591; BAGE 68, 308, 312 =  AP, aaO). Im Streitfall ist keine nachträgliche Änderung der Leistungsbestimmung i.S. des § 366 Abs. 1 BGB erfolgt. Nach dem Inhalt des Teilvergleichs haben die Parteien eine vertragliche Tilgungsbestimmung getroffen. Die Vereinbarung ist so auszulegen, daß die von dem Arbeitgeber erklärte Freistellung das Erlöschen des Anspruchs des Klägers nach § 2 Satz 1, § 3 Abs. 1 Satz 1 AWbG auf Arbeitnehmerweiterbildung bewirken soll (§ 362 Abs. 1 BGB), wenn die umstrittene Veranstaltung als anerkannte Bildungsveranstaltung im Sinne von § 9 Satz 1 AWbG gilt. Das ist hier der Fall.

3. Das vom 24. bis 28. Mai 1993 veranstaltete “Anti-Streß-Training für den Beruf” der Volkshochschule Viersen entspricht den Grundsätzen der Arbeitnehmerweiterbildung im Sinne von § 1 Abs. 2 AWbG und ist entsprechend den Bestimmungen des Weiterbildungsgesetzes durchgeführt worden.

a) Die Volkshochschule Viersen hat als gesetzlich zugelassener kommunaler Träger der Weiterbildung im Sinne von § 9 Satz 1a 1. Alternative AWbG die Veranstaltung durchgeführt.

b) Die Veranstaltung hat der beruflichen Weiterbildung des Klägers im Sinne von § 1 Abs. 2 AWbG gedient.

aa) Das AWbG definiert den Begriff der beruflichen Weiterbildung nicht. Er ist deshalb auszulegen. Dazu bedarf es neben der Berücksichtigung von Wortlaut und Zweck des Gesetzes der Beachtung der vom Bundesverfassungsgericht im Beschluß vom 15. Dezember 1987 (BVerfGE 77, 308 =  AP Nr. 62 zu Art. 12 GG) und im Beschluß vom 11. Februar 1992 (– 1 BvR 890/84 – DB 1992, 841) herausgestellten verfassungsrechtlichen Prüfmerkmale. Danach beschränkt sich berufliche Weiterbildung im Sinne des § 1 Abs. 2 AWbG nicht darauf, lediglich fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten für den beim Arbeitgeber ausgeübten Beruf zu vermitteln, sondern bezieht auch den Erwerb von persönlicher Kompetenz mit ein, soweit sie im weitesten Sinne für den Arbeitgeber von Vorteil ist, wie zum Beispiel der vom Bundesverfassungsgericht (Beschluß vom 11. Februar 1992, aaO) herausgestellte Erfahrungsgewinn im Umgang mit Menschen sowie der Erwerb von Eigeninitiative und Verantwortungsbereitschaft. Deshalb liegt nach der Rechtsprechung des Senats berufliche Arbeitnehmerweiterbildung auch dann vor, wenn Kenntnisse vermittelt werden, die zwar zunächst den Bereich der personenbezogenen Bildung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 7 WbG NRW zuzuordnen sind, der Arbeitnehmer sie aber mindestens mittelbar zum Nutzen des Arbeitgebers bei seiner beruflichen Tätigkeit verwenden kann (BAGE 73, 225, 228 =  AP Nr. 4 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW, zu II 2 der Gründe; BAG Urteil vom 9. Mai 1995 – 9 AZR 185/94 – DB 1995, 2072, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen).

bb) Das Landesarbeitsgericht ist von dieser Rechtsprechung ausgegangen. Das verkennt die Revision, die einen engeren, ausschließlich auf die berufsfachliche Verwertung bezogenen Bildungsbegriff zugrundelegt.

Der Senat sieht auch unter Berücksichtigung der von der Revision vorgebrachten Gründe keine Veranlassung, seine bisherige Rechtsprechung zu ändern. Soweit auf die in einer Art Negativkatalog gestaltete Herausnahme bestimmter Bildungsmaßnahmen in § 11 Abs. 2 Niedersächsisches Bildungsurlaubsgesetz verwiesen wird, handelt es sich um das Recht eines anderen Bundeslandes. Das im Streitfall anzuwendende nordrhein-westfälische Landesrecht kennt keinen derartigen Negativkatalog. Nach § 9 Satz 2 AWbG ist lediglich eine Veranstaltung von der Arbeitnehmerweiterbildung ausgenommen, wenn die dort vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten überwiegend den einzelbetrieblichen oder dienstlichen Zwecken des Arbeitgebers dienen. Damit hat das nordrhein-westfälische Landesrecht hinreichend zum Ausdruck gebracht, daß nicht die betriebliche Verwertbarkeit der zu vermittelnden Kenntnisse und Fähigkeiten vorrangiger Zweck der beruflichen Weiterbildung sein darf.

cc) Das Landesarbeitsgericht hat den aus der Senatsrechtsprechung übernommenen Begriff der beruflichen Weiterbildung angewandt. Es hat als Weiterbildungsziele die Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten angenommen, am Arbeitsplatz auftretende Streßsituationen zu erkennen und die Fähigkeit der Streß- und Konfliktbewältigung am Arbeitsplatz durch Anwendung kurzfristiger Erleichterungen und langfristiger Methoden zu verbessern. Nach der Feststellung des Landesarbeitsgerichts war das von der Volkshochschule veranstaltete Seminar aufgrund dieser Zielsetzung und seiner praktischen Durchführung darauf ausgerichtet, die für einen Meß- und Regeltechniker wichtige Präzision bei der Arbeitsausführung zu erhöhen. Dem Arbeitgeber komme dadurch zugute, daß ein Meß- und Regeltechniker nach Besuch eines derartigen Trainingskurses in der Lage sei, fehlerfreier und im Schnitt auch schneller zu arbeiten. Diese von der Revision mit Prozeßrügen nicht angegriffenen Feststellungen sind für das Revisionsgericht nach § 561 ZPO bindend. Sie unterliegen daher nicht der Nachprüfung durch den erkennenden Senat.

Die Auffassung der Revision, durch die Bestätigung des Berufungsurteils werde die Arbeitnehmerweiterbildung in Nordrhein-Westfalen unbegrenzt für sämtliche Veranstaltungen der Körper- und Gesundheitspflege geöffnet, verkennt die Rechtsprechung des Senats. Eine Veranstaltung, die lediglich als Gesundheits- und Fitneßtraining konzipiert ist, genügt nicht den Anforderungen, weil keine Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt werden, die bei der beruflichen Tätigkeit zum Nutzen des Arbeitgebers und des Betriebes angewandt werden können (vgl. BAG Urteil vom 9. Mai 1995 – 9 AZR 185/94 – “Mit dem Fahrrad auf Gesundheitskurs”, aaO). Anders als in dem am 9. Mai 1995 entschiedenen Fall ist hier aufgrund der bindenden Feststellung des Landesarbeitsgerichts von einer unmittelbaren beruflichen Verwertbarkeit der in der Bildungsveranstaltung vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten auszugehen.

4. Die Beklagte hat nach § 288 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 291 BGB Prozeßzinsen in der von der Revision nicht angegriffenen Höhe zu zahlen.

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Leinemann, Dörner, Düwell, R. Schmidt, Schodde

 

Fundstellen

Haufe-Index 871646

BAGE, 180

BB 1995, 2585

BB 1996, 1118

NZA 1996, 759

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