Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsatz der mündlichen Verhandlung

 

Leitsatz (amtlich)

  • Stellt das Berufungsgericht nach Schluß der mündlichen Verhandlung die Notwendigkeit eines richterlichen Hinweises fest, ist es zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung nach § 156 ZPO verpflichtet.
  • Der Grundsatz der Mündlichkeit der Verhandlung bedeutet, daß ohne mündliche Verhandlung das Gericht keine Entscheidung erlassen und Entscheidungsgrundlage nur der Prozeßstoff sein darf, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war.
  • Wird ohne Zustimmung der Parteien vom Berufungsgericht in einem gesetzlich nicht vorgesehenen schriftlichen Verfahren sechs Monate nach Schluß der mündlichen Verhandlung beraten und eine Entscheidung verkündet, kann die Revision darauf gestützt werden, daß die Entscheidung auf der Verletzung des Mündlichkeitsgrundsatzes beruht.
 

Normenkette

ArbGG § 60 Abs. 4, § 64 Abs. 6, § 69 Abs. 1; ZPO § 128 Abs. 1-2, §§ 156, 551, 564 Abs. 2, § 565 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG München (Urteil vom 01.07.1993; Aktenzeichen 7 (10) Sa 286/89)

ArbG München (Urteil vom 07.03.1989; Aktenzeichen 15 Ca 350/86)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landesarbeitsgerichts München vom 1. Juli 1993 – 7 (10) Sa 286/89 – und zugleich das Berufungsverfahren aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte wegen des Verrats von Geschäftsgeheimnissen der Klägerin zum Schadenersatz verpflichtet ist.

Die Beklagte ist promovierte Diplomchemikerin. Die Klägerin beschäftigte sie von Januar 1981 bis Ende September 1983 als angestellte Produktmanagerin im Außendienst. Geschäftsgegenstand der Beklagten war der Vertrieb medizinisch-diagnostischer Produkte, die fast ausschließlich von einem amerikanischen Hersteller geliefert wurden. Die Klägerin geriet zu Beginn des Jahres 1983 gegenüber dem Hersteller in Zahlungsschwierigkeiten. Diese bot daraufhin der Beklagten den Vertrieb seiner Produkte an. Die Beklagte kündigte ihr Arbeitsverhältnis am 15. August 1983 zum 30. September 1983. Daraufhin stellte die Klägerin die Beklagte mit sofortiger Wirkung von der Arbeit frei und forderte alle in deren Besitz befindlichen Unterlagen heraus. Die von der Beklagten und ihrem Lebensgefährten gegründete B… GmbH nahm am 1. Oktober 1983 den Vertrieb der Produkte des amerikanischen Herstellers in der Bundesrepublik Deutschland, in Österreich und in der Schweiz auf. Über das Vermögen der Klägerin ist am 10. Januar 1984 das Konkursverfahren eröffnet worden. Der Konkursverwalter hat sämtliche Mitarbeiter entlassen und den Geschäftsbetrieb eingestellt. Im Zuge eines Ermittlungsverfahrens ist im September 1984 bei dem Lebensgefährten der Beklagten eine Fotokopie der Kundenumsatzliste der Klägerin vom 29. Juli 1983 gefunden worden. Die Beklagte ist am 30. Juli 1985 wegen Verrats von Geschäftsgeheimnissen in Tateinheit mit Unterschlagung zu einer Geldstrafe verurteilt worden.

Mit der am 15. Januar 1986 erhobenen Klage hat die Klägerin einen Schadenersatzanspruch in Höhe von 1.320.000,00 DM gerichtlich geltend gemacht, weil die Beklagte im Zusammenwirken mit dem amerikanischen Hersteller den Zusammenbruch ihres Geschäftsbetriebes verursacht habe.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte wird verurteilt an die Klägerin 1.320.000,00 DM nebst 4 % Zinsen hieraus seit Klageerhebung zu bezahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat behauptet, die Klägerin sei bereits bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses konkursreif gewesen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage am 7. März 1989 abgewiesen.

Nach Schluß der Berufungsverhandlung am 5. November 1992 ist Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 17. Dezember 1992 bestimmt worden. Mit Beschluß vom 11. Dezember 1992 hat die Vorsitzende Richterin die Parteien darauf hingewiesen, daß der für allgemeinverbindlich erklärte Manteltarifvertrag für den Groß- und Außenhandel in Bayern vom 18. Oktober 1982 (MTV) auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung finden könnte. Weiterhin hat die Vorsitzende den Verkündungstermin vertagt und angekündigt, daß nach Ablauf einer Äußerungsfrist ein neuer Verkündungstermin anberaumt werde. In dem am 1. Juli 1993 verkündeten, aber erst später in vollständiger Form abgesetzten Urteil ist die Berufung der Klägerin vom Landesarbeitsgericht in Anwendung der tariflichen Ausschlußklausel zurückgewiesen worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin hat Erfolg. Sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht.

I. Das Berufungsurteil und das Berufungsverfahren waren aufzuheben, weil das angefochtene Urteil verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist (§ 564 Abs. 2 ZPO).

1. Revisionsrechtlich unbeachtlich sind die bei der Verkündung des Berufungsurteils aufgetretenen Mängel.

Nach § 69 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 60 Abs. 4 Satz 2 ArbGG muß das Berufungsurteil, das nicht in dem Termin verkündet wird, in dem die mündliche Verhandlung geschlossen wird, bei Verkündung in vollständiger Form abgefaßt sein. Das war hier nicht der Fall; denn die ehrenamtlichen Richter sind erst am 8. Juli 1993 von der Geschäftsstelle zur Unterzeichnung des am 1. Juli 1993 verkündeten Urteils aufgefordert worden. Der Umstand, daß bei Verkündung das Urteil noch nicht vollständig abgefaßt war, ist jedoch nicht als Revisionsgrund, sondern nur als nicht erhebliche Verletzung einer Ordnungsvorschrift anzusehen (BAG Urteil vom 21. August 1967 – 3 AZR 383/66 – AP Nr. 122 zu § 242 BGB Ruhegehalt; BGH Beschluß vom 6. Dezember 1988 – VI ZB 27/88 – NJW 1989, 1156, 1157).

2. Die Revision wird mit Erfolg darauf gestützt, das angefochtene Berufungsurteil habe gegen den Grundsatz der Mündlichkeit (§ 128 Abs. 1 ZPO) verstoßen. Das Landesarbeitsgericht hat nämlich in einem im Gesetz nicht vorgesehenen schriftlichen Verfahren ohne Zustimmung der Parteien entschieden.

a) Nach § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG i.V.m. § 128 Abs. 1 ZPO gilt im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren der Grundsatz der Mündlichkeit. Nur mit Zustimmung der Parteien und innerhalb der zeitlichen Höchstgrenze des § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO ist eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zulässig. Die Parteien haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nicht zugestimmt.

b) Der Mündlichkeitsgrundsatz hat zum Inhalt, daß ohne mündliche Verhandlung das Gericht keine Entscheidung erlassen und Entscheidungsgrundlage nur der Prozeßstoff sein darf, der Gegenstand der mündlichen Verhandlung war (Peters, MünchKommZPO, § 128 Rz 8, 9). Gegen diesen Grundsatz hat das Berufungsgericht verstoßen.

aa) Die tarifliche Ausschlußfrist, mit der das Berufungsgericht die Klageabweisung begründet hat, war nicht Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Die Vorsitzende hat erstmals nach Schluß der mündlichen Berufungsverhandlung mit Beschluß vom 11. Dezember 1992 auf diesen rechtlichen Gesichtspunkt hingewiesen, der bisher übersehen oder für unerheblich gehalten worden war. Bestand Veranlassung zur Ausübung des Fragerechts, war nach § 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. § 278 Abs. 4 und § 156 ZPO das Landesarbeitsgericht zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung verpflichtet (vgl. BGHZ 53, 245, 262; BGH Urteil vom 7. Oktober 1992 – VIII ZR 199/91 – LM § 156 ZPO Nr. 5). Denn das Wort “kann” in § 156 ZPO bedeutet nicht nur eine rechtliche Befugnis, sondern begründet auch eine Pflicht, wenn das Gericht seine Fragepflicht vernachlässigt hat (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 54. Aufl., § 156 Rz 5; Prütting, MünchKommZPO, § 278 Rz 47).

bb) Das Landesarbeitsgericht durfte nicht von der Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung absehen, weil es Gelegenheit zum schriftlichen Gehör eingeräumt hat. Nach der im arbeitsgerichtlichen Berufungsverfahren geltenden Vorschrift des § 128 Abs. 2 ZPO kann das Gericht eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nur mit Zustimmung der Parteien treffen. Weder hat das Gericht eine Zustimmung eingeholt, noch kann aus dem Verhalten der Klägerin eine Konkludente Zustimmung zum schriftlichen Verfahren entnommen worden. Soweit die Klägerin am 6. Mai 1993 das Gericht an den Fortgang des Verfahrens erinnert hat, liegt darin kein Verzicht auf eine mündliche Verhandlung.

c) Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung des § 128 Abs. 1 ZPO, weil nicht ausgeschlossen werden kann. daß die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ohne Gesetzesverletzung anders ausgefallen wäre.

aa) Ob die Ursächlichkeit des Verfahrensmangels unwiderleglich entsprechend § 551 Nr. 5 ZPO zu vermuten ist (dafür; BAG Urteil vom 6. August 1975 – 5 AZR 343/74 – AP Nr. 9 zu § 128 ZPO; ablehnend: BSG Urteil vom 11. Februar 1982 – 11 RA 50/81 – BSGE 53, 83 = MDR 1982, 700), kann offen bleiben. Unterbleibt verfahrensfehlerhaft die mündliche Verhandlung, so ist regelmäßig davon auszugehen, daß der ursächliche Zusammenhang zwischen Verfahrensmangel und Ergebnis nicht augeschlossen werden kann. Die mündliche Verhandlung soll nämlich den Parteien die Gelegenheit geben, in unmittelbarer Rede und Gegenrede den Sach- und Streitstoff zu erörtern. Das schriftliche Verfahren bietet demgegenüber geringere Möglichkeiten, auf die richterliche Überzeugungsbildung einzuwirken. Das hat auch die Revision mit Blick auf die ehrenamtlichen Richter besonders hervorgehoben. Liegt demnach die Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Verfahrensverstoß und Ergebnis “auf der Hand”, so bedarf es keiner weiteren Darlegung von Tatsachen im Sinne von § 554 Abs. 3 Nr. 3b ZPO (vgl. BSG Urteil vom 11. Februar 1982 – 11 RA 50/81 – aaO).

bb) Bei der gebotenen Prüfung der Ursächlichkeit kann im Streitfall weiterhin nicht unberücksichtigt bleiben, daß der unter Verletzung des Mündlichkeitsprinzips angesetzte besondere Verkündungstermin mehr als sieben Monate nach Schluß der mündlichen Verhandlung stattgefunden hat und auf einer mindestens sechs Monate nach Schluß der mündlichen Verhandlung erfolgten Beratung mit den ehrenamtlichen Richtern beruht. Einem Urteil, das nach einer derartig langen Zeit nach Schluß der mündlichen Verhandlung beraten und verkündet wird, fehlt die Beurkundungsfunktion dafür, was Gegenstand der mündlichen Verhandlung war. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand zwischen mündlicher Verhandlung und Urteilsberatung sowie Abfassung der Urteilgründe gerät die notwendige Beurkundungsfunktion wegen des abnehmenden richterlichen Erinnerungsvermögens in Gefahr (vgl. Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes Beschluß vom 27. April 1993 – GmS-OGB 1/92 – AP Nr. 21 zu § 551 ZPO, zu I 4 der Gründe). Das Oberlandesgericht Stuttgart hat deshalb in einem vergleichbaren Fall erkannt, daß bei Überschreiten des in § 128 Abs. 2 Satz 3 ZPO auf drei Monate befristeten schriftlichen Verfahrens die prozeßordnungsgemäße Entscheidungsgrundlage fehle (OLG Stuttgart Urteil vom 10. November 1988 – 14 U 23/88 – AnwBl 1989, 232). Daher kann nicht ausgeschlossen werden, daß bei Einhaltung der Verfahrensvorschriften das Landesarbeitsgericht wegen der dann gegebenen zeitlich größeren Nähe zur mündlichen Verhandlung eine andere Entscheidung getroffen hätte.

II. Die Sache war zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung zurückzuweisen (§ 565 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Dabei hat das Revisionsgericht von der Möglichkeit der Zurückverweisung an eine andere Kammer (§ 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO) Gebrauch gemacht.

 

Unterschriften

Leinemann, Dörner, Düwell, Dr. Weiss, R. Trümner

 

Fundstellen

Haufe-Index 873936

BAGE, 74

BB 1996, 1546

BB 1996, 1843

NJW 1996, 2749

NZA 1996, 838

AP, 0

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