Entscheidungsstichwort (Thema)

Ablösung von Betriebsvereinbarung durch Regelungsabrede

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine Betriebsvereinbarung kann nicht durch eine Regelungsabrede abgelöst werden (Bestätigung des Urteils des Sechsten Senats des BAG vom 27. Juni 1985 6 AZR 392/81 = BAGE 49, 151 = AP Nr 14 zu § 77 BetrVG 1972).

2. Ob in der formlosen Regelungsabrede zugleich ein Aufhebungsvertrag hinsichtlich einer entgegenstehenden Betriebsvereinbarung gesehen werden kann, bleibt unentschieden.

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Entscheidung vom 25.10.1989; Aktenzeichen 3 Sa 341/89)

ArbG Herne (Entscheidung vom 31.01.1989; Aktenzeichen 2 Ca 2733/88)

 

Tatbestand

Der Kläger macht restliche Prämienansprüche für die Zeit von Mai bis August 1988 geltend.

Die beklagte KG betreibt mit ca. 450 Arbeitnehmern ein Rohrleitungsbauunternehmen und stellt die von ihr benötigten Rohre selber her. Die Beklagte gehört keinem Arbeitgeberverband an und hat auch keinen Haustarif abgeschlossen. Bezüglich der Lohnhöhe und zum Teil auch hinsichtlich anderer Arbeitsbedingungen richtet sie sich nach den tariflichen Bestimmungen für die Arbeitnehmer der metallverarbeitenden Industrie Nordrhein-Westfalens . Der 51-jährige Kläger ist bei der Beklagten seit 12. August 1963 als Rohrschlosser beschäftigt und erhält eine Vergütung nach der Lohngruppe 8 (z.Zt. der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Landesarbeitsgericht betrug der Ecklohn 14,16 DM brutto pro Stunde) nach dem Lohnabkommen für die gewerblichen Arbeitnehmer der metallverarbeitenden Industrie Nordrhein-Westfalens . Er ist außerdem seit über sechs Jahren Mitglied des im Betrieb der Beklagten bestehenden siebenköpfigen Betriebsrats. Vom Oktober 1988 bis Januar 1989 war er Vorsitzender des Betriebsrats und als solcher von seiner beruflichen Tätigkeit freigestellt.

Neben dem Tariflohn zahlt die Beklagte ihren Arbeitnehmern auf den auswärtigen Baustellen einen Prämienlohn für die Stunden, um die die Arbeitnehmer die für die Arbeiten kalkulierten Stundenzahlen unterbieten. Sind mehrere Arbeitnehmer an der Arbeit beteiligt, verteilt der jeweilige Obermonteur die Prämienstunden in Abstimmung mit dem Baustellenleiter und in Überwachung durch den Betriebsrat.

Hinsichtlich des Prämienlohns heißt es in der Betriebsvereinbarung vom 10. August 1979:

"1. Für die auf den Baustellen in Uerdingen

und Leverkusen eingesetzten Belegschafts-

mitglieder wird der Prämienausgangslohn

mit Wirkung vom 01.08.79 auf 100 % des

geltenden Tariflohnes der jeweiligen Lohn-

gruppe festgelegt.

2. Für die auf der Baustelle in Hüls einge-

setzten Belegschaftsmitglieder wird der

Prämienausgangslohn mit Wirkung vom

01.08.79 auf 106 % des geltenden Tarif-

lohnes der jeweiligen Lohngruppe festge-

setzt.

3. Mit Inkrafttreten eines neuen Lohnabkom-

mens für das Jahr 1980 wird für die Bau-

stelle in Hüls der Prämienausgangslohn dem

der Baustellen Leverkusen und Uerdingen

angepaßt und auch auf 100 % des geltenden

Tariflohnes der jeweiligen Lohngruppe

festgesetzt.

4. Auf jeder der o.g. Baustellen soll ein

Prämien-Obmann gewählt werden. Dieser hat

die Aufgabe, Wünsche, Anregungen und Be-

schwerden der Belegschafter entgegenzuneh-

men und mit dem Bauleiter zu klären. Er

hat das Recht, jeweils zum Monatsende im

Einvernehmen mit dem zuständigen Bauleiter

Einsicht in die Prämienlisten zu nehmen.

5.Diese Betriebsvereinbarung bleibt solange

in Kraft, bis zwischen beiden Parteien

- Geschäftsleitung und Betriebsrat - eine

andere Regelung des Prämienausgangslohnes

vereinbart wird."

Seit Juni 1983 vergütet die Beklagte ihren Arbeitnehmern die Prämienstunden nur noch einheitlich mit dem Stundenlohn der Lohngruppe 7 (Ecklohn: 13,11 DM brutto pro Stunde). Vorausgegangen war, daß der Geschäftsführer E der Beklagten dem Betriebsrat in dessen Sitzung vom 13. Mai 1983 vorgeschlagen hatte, aus betrieblichen Gründen den Prämienlohn zu kürzen. Die Niederschrift der Sitzung lautet insoweit wie folgt:

"Diese Betriebsratssitzung kam auf Antrag von

Herrn E zusammen. Herr E nahm an

dieser Sitzung teil.

Herr E informierte den Betriebsrat über die

Verhandlungen, die er mit den B ge-

führt hat und über die neuen Vorschläge der

B .

Er trug vor, daß das B von den Firmen

neue Angebote über den Stundenverrechnungssatz

vorgelegt haben möchte. Dieses betrifft den Auf-

trag für den Neubau S 29. Er sagte weiter, daß

der Stundenverrechnungssatz niedriger sein müsse

als der von 1982. Der Betriebsrat sollte darüber

beraten, ob die Firma diesen Auftrag annehmen

soll oder nicht. Wenn ja, dann müsse sich aber

auch die Bezahlung der Arbeitnehmer ändern.

Der Betriebsrat vertrat die Auffassung, daß die

Firma ein Angebot an das B abgeben

sollte, um diesen Auftrag zu bekommen.

Der Betriebsrat fragte Herrn E , was er mit

der Änderung der Bezahlung der Arbeitnehmer

meinte. Er nannte uns 4 Gründe, wie man von sei-

ner Warte aus Geld einsparen könnte und den

Stundensatz damit verringern könnte, damit die

Firma E den Auftrag in S 29 (40.000 Stun-

den) bekommen würde:

1. Übertarifliche Zulagen

2. Lohngruppen von 8 in 7

3. E.-Zulage

4. Auslösung

Über all diese Angelegenheiten konnten wir in

Anbetracht der kurzen Zeit keine ausreichende

Diskussion führen.

Der Betriebsrat beschloß, erst einmal auf Vor-

schläge der Geschäftsleitung zu warten."

Nach der Niederschrift über die Betriebsratssitzung vom 4. November 1983 zu dem TOP 9 beschloß der Betriebsrat zu der Prämienentlohnung:

"Prämienzahlung nach Lohnrahmenabkommen

Seit dem 1. Juni 1983 wird der Prämienlohn nur

noch vom Ecklohn der Lohngruppe 7 gezahlt. Dies

geschieht auch bei den Arbeitnehmern, die in

eine höhere Lohngruppe eingestuft sind. Der Be-

triebsrat ist der Ansicht, daß die Prämienzah-

lung nach dem Lohnrahmenabkommen § 12 gezahlt

wird. Die Geschäftsleitung, vertreten durch

Herrn E , machte schon am 13. Mai 1983 dem

Betriebsrat den Vorschlag, den Prämienausgangs-

lohn aller Lohngruppen von der Lohngruppe 7 zu

bezahlen. Dieses hat die Geschäftsleitung auch

durchgeführt. Der Betriebsrat wird in einem

Schreiben an die Geschäftsleitung festlegen, daß

bei besserer wirtschaftlicher Vertragslage die

Prämienzahlung wieder von dem Ecklohn der jewei-

ligen Lohngruppe gezahlt wird, wie es der Spruch

der Einigungsstelle vom 9. November 1974 vor-

sieht."

Unter dem 30. Juli 1987 schrieb der Betriebsrat der Beklagten an die Geschäftsleitung:

"Anhebung der Prämie

Sehr geehrter Herr E ,

seit einiger Zeit wird der Prämienlohn nur noch

von der Lohngruppe 7 ausgezahlt.

Die derzeitige Zahlungsweise kann der Betriebs-

rat nicht mehr akzeptieren und verweist auf das

Einigungsverfahren vom 9. November 1974 und auf

die Betriebsvereinbarung vom 10. August 1979.

Wir bitten um Stellungnahme bis zum 13. August

1987."

In der Zeit von Mai 1988 bis August 1988 hat der Kläger als Montageschlosser für die Beklagte auf dem Gelände der H in M gearbeitet und hat der rechnerischen Höhe nach unstreitig einen Prämienverlust von insgesamt 124,95 DM brutto dadurch erlitten, daß die Beklagte ihm die zugeteilten Prämienstunden nur mit der Lohngruppe 7 statt mit der Lohngruppe 8 vergütet hat. Durch Schreiben vom September 1988 hat er vergeblich von der Beklagten die Prämienzahlung nach dem Ecklohn der Lohngruppe 8 gefordert.

Der Kläger ist der Auffassung, die Beklagte habe ihm die Prämienlohndifferenz von 124,95 DM brutto aufgrund der Betriebsvereinbarung 1979 nachzuzahlen. Er hat dazu ausgeführt, der Betriebsrat habe der Kürzungsvereinbarung nur wegen des Auftrages "Normbau S 29" zugestimmt. Der Betriebsrat habe immer deutlich gemacht, daß die Einschränkung der Betriebsvereinbarung nur vorübergehender Natur sein solle. Immer wieder sei der Betriebsrat bei der Beklagten vorstellig geworden, um wieder die höhere Prämienzahlung durchzusetzen. Die Beklagte habe aber trotz besserer wirtschaftlicher Lage die höhere Prämie nicht bezahlt.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 124,95 DM

brutto nebst 4 % Zinsen seit dem 18. November

1988 auf den sich ergebenden Nettobetrag zu be-

zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Zur Begründung hat sie ausgeführt, sie brauche wegen einer im Sinne von § 5 der Betriebsvereinbarung 1979 getroffenen Kürzungsregelung mit dem Betriebsrat an den Kläger die Prämienlohndifferenz nicht zu zahlen. Auf der Betriebsversammlung am 26. Mai 1983 habe der Betriebsratsvorsitzende die Prämienkürzungsproblematik in Anwesenheit aller Betriebsratsmitglieder behandelt. Der Betriebsratsvorsitzende habe schließlich erklärt, der Betriebsrat werde die neue Regelung wegen der von den Auftraggebern geänderten Vergabepraxis aus Gründen der Wettbewerbsfähigkeit hinnehmen. Es habe sich kein Widerspruch erhoben. Im Juni 1983 habe eine zweite Besprechung zwischen ihrem Geschäftsführer und dem Betriebsratsvorsitzenden stattgefunden, in der der Vorsitzende die Neuregelung bestätigt habe. Auch der Kläger habe fünf Jahre lang die Neuregelung hingenommen.

Durch Urteil vom 31. Januar 1989 hat das Arbeitsgericht unter Zulassung der Berufung die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts abgeändert und der Klage stattgegeben. Mit der Revision begehrt die Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage, während der Kläger bittet, die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet, weil sich der Anspruch des Klägers aus der Betriebsvereinbarung vom 10. August 1979 ergibt.

I. Die Betriebsvereinbarung vom 10. August 1979 über die Ausgestaltung des Prämienlohns ist wirksam zustande gekommen.

1. Dem Betriebsrat steht insoweit ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 bzw. § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG zu. Soweit in der Betriebsvereinbarung der Prämienausgangslohn festgelegt wird, ergibt sich das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG (vgl. Senatsbeschluß vom 16. Dezember 1986, BAGE 54, 46 = AP Nr. 8 zu § 87 BetrVG 1972 Prämie). Nach § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG besteht ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Festsetzung der Akkord- und Prämiensätze und vergleichbarer leistungsbezogener Entgelte, einschließlich der Geldfaktoren. Der in § 87 Abs. 1 Nr. 11 BetrVG erwähnte Geldfaktor ist der Faktor, der in einem Leistungslohnsystem die Lohnhöhe für die Bezugs- oder Ausgangsleistung und damit den Preis für die Arbeit im Leistungslohn bestimmt (BAGE 43, 278, 287 = AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972, zu B II 4 der Gründe, und Senatsbeschluß vom 16. Dezember 1986, aaO).

Soweit eine Betriebsvereinbarung festlegt, daß Prämienlohn gezahlt werden soll und dieses Prämienlohnsystem ausgestaltet, ergibt sich das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Das Prämienlohnsystem ist einer von mehreren denkbaren Entlohnungsgrundsätzen, bei deren Aufstellung ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG besteht. Dieses bezieht sich auch auf die Ausgestaltung dieses Entlohnungsgrundsatzes.

2. Dieses Mitbestimmungsrecht ist auch nicht durch § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG ausgeschlossen, weil der Arbeitgeber nicht dem Arbeitgeberverband angehört, daher für den Betrieb ein Verbandstarifvertrag nicht besteht und auch ein Firmentarifvertrag nicht abgeschlossen worden ist.

Auch § 77 Abs. 3 BetrVG steht der Wahrnehmung des Mitbestimmungsrechts durch Betriebsvereinbarung nicht entgegen.

Nach allgemeiner Meinung räumt § 77 Abs. 3 BetrVG den Tarifvertragsparteien eine Normsetzungsprärogative, eine Vorrangkompetenz vor den Betriebsparteien ein. Normzweck ist die Sicherung der Tarifautonomie vor Aushöhlung und Bedeutungsminderung durch Betriebsvereinbarungen (Nachweise bei Kreutz, GK-BetrVG , 4. Aufl., § 77 Rz 66). Demgemäß entfällt die Befugnis der Betriebspartner zum Abschluß von Betriebsvereinbarungen, soweit die Tarifvertragsparteien von ihrer Normsetzungsbefugnis Gebrauch gemacht haben (Senatsbeschluß vom 24. Februar 1987, BAGE 54, 191 = AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972).

Durch Beschluß vom 24. Februar 1987 (aaO) hat der Senat entschieden, eine Ausnahme von der Regelung in § 77 Abs. 3 BetrVG enthalte der Eingangssatz in § 87 Abs. 1 BetrVG. Soweit der Senat damit die Auffassung vertritt, § 77 Abs. 3 BetrVG lasse die Mitbestimmungsrechte des § 87 Abs. 1 BetrVG nicht entfallen, befindet er sich in Übereinstimmung mit der ganz herrschenden Meinung in der Literatur (vgl. Wiese, GK-BetrVG , § 87 Rz 38, m.w.N.; Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 77 Rz 182; Fitting/Auffarth/ Kaiser/Heither, BetrVG, 16. Aufl., § 77 Rz 68 und § 87 Rz 13; Jahnke, Tarifautonomie und Mitbestimmung, S. 150; Kreutz, Grenzen der Betriebsautonomie, S. 220 ff.; Moll, Der Tarifvorrang im BetrVG, S. 53 ff.; Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 4 Rz 295; Zöllner, Arbeitsrecht, 3. Aufl., § 47 IV 5 d, S. 458; Säcker, Gruppenautonomie und Übermachtkontrolle im Arbeitsrecht, 1972, S. 298 Rz 169, alle m.w.N.). Bereits aus dem unterschiedlichen Wortlaut von § 77 Abs. 3 BetrVG und § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG ergibt sich, daß die Mitbestimmungsrechte nach § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG nur entfallen sollen, wenn eine tarifliche Regelung für den Betrieb besteht und nicht schon, wenn eine solche nur üblich ist. § 77 Abs. 3 BetrVG gewährleistet die Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie nämlich nur dadurch, daß er Betriebsvereinbarungen über üblicherweise durch Tarifvertrag geregelte Arbeitsbedingungen untersagt. Darüber, ob Mitbestimmungsrechte entfallen oder nicht, läßt sich aus § 77 Abs. 3 BetrVG nichts entnehmen. Der Senat hat in der Entscheidung vom 24. Februar 1987 eingehend dargelegt, daß nach dem Normzweck des § 87 Abs. 1 BetrVG, das einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers durch eine gleichberechtigte Teilhabe des Betriebsrats an der Entscheidung zu ersetzen, das Mitbestimmungsrecht dann über-flüssig ist, wenn das einseitige Bestimmungsrecht des Arbeitgebers durch Tarifvertrag oder Gesetz beseitigt ist. Dagegen ändert eine tarifliche Regelung in einer an sich mitbestimmungspflichtigen Angelegenheit, die für den Betrieb keine Bindungen erzeugt, nichts an dem einseitigen Bestimmungsrecht des Arbeitgebers. Würde § 77 Abs. 3 BetrVG daher die Mitbestimmungsrechte des § 87 BetrVG schon dann entfallen lassen, wenn die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit nur "üblicherweise" durch Tarifvertrag geregelt ist, würde der durch § 87 Abs. 1 BetrVG bezweckte Schutz der Arbeitnehmer weder durch eine tarifliche Regelung noch durch eine mitbestimmte Regelung erreicht werden. Die in § 87 Abs. 1 BetrVG geregelten Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats, soweit sie materielle Arbeitsbedingungen betreffen, würden weitgehend leerlaufen.

Mit dem Ergebnis, daß § 77 Abs. 3 BetrVG die Mitbestimmungsrechte des § 87 Abs. 1 BetrVG bei Tarifüblichkeit nicht zurücktreten läßt, ist noch nichts darüber gesagt, ob § 77 Abs. 3 BetrVG nicht gleichwohl Betriebsvereinbarungen über mitbestimmungspflichtige Angelegenheiten verbietet. Dafür könnte sprechen, daß Mitbestimmungsrechte auch durch Regelungsabreden wahrgenommen werden können.

Wenn der Senat dennoch die Auffassung vertritt, § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG gelte im Bereich des § 87 Abs. 1 BetrVG allein, so sind hierfür an dem Normzweck von § 87 Abs. 1 BetrVG anknüpfende rechtssystematische Gründe maßgebend gewesen. Die Be-triebsvereinbarung ist das geeignete Instrument, das der Gesetzgeber den Betriebsparteien zur Regelung der mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten zur Verfügung stellt. Im Gegensatz zur Regelungsabrede wirken die Normen einer Betriebsvereinbarung unmittelbar auf das Arbeitsverhältnis der im Betrieb beschäftigten Arbeitnehmer ein, so daß es keiner Umsetzung der vereinbarten Regelung in das Einzelarbeitsverhältnis mehr bedarf. Nur die Normen einer Betriebsvereinbarung gelten unmittelbar und zwingend. Allein mit der Betriebsvereinbarung kann das Mitbestimmungsrecht daher so ausgeübt werden, daß sein Ergebnis nicht noch in das Einzelarbeitsverhältnis übertragen werden muß. Die Tarifautonomie wäre nicht weitergehend geschützt, wenn der Senat der Ansicht gefolgt wäre, das Mitbestimmungsrecht könne nur durch formlose Regelungsabrede wahrgenommen werden, wenn eine materielle Arbeitsbedingung üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt werde. Dagegen wäre es für Arbeitgeber wie Belegschaft fatal, wenn ausgerechnet in den Angelegenheiten, in denen ein echtes Mitbestimmungsrecht in materiellen Angelegenheiten besteht, das Mitbestimmungsrecht nur durch eine Regelungsabrede wahrgenommen werden könnte. Für die Arbeitgeber entfiele die Möglichkeit von ablösenden Betriebsvereinbarungen in mitbestimmungspflichtigen Angelegenheiten bei Tarifüblichkeit. Sie müßten ggf. eine Änderungskündigung gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern aussprechen, obwohl bereits mit dem Betriebsrat eine Einigung erreicht worden ist. Die Arbeitnehmer könnten keine eigenen Rechte geltend machen, wenn der Arbeitgeber sich nicht an eine Regelungsabrede hielte.

Haben also nach der inzwischen gefestigten Rechtsprechung des Senats die Betriebsparteien die mitbestimmungspflichtige Angelegenheit in der Betriebsvereinbarung vom 10. August 1979 regeln dürfen, ist diese wirksam zustande gekommen.

II. Die Betriebsvereinbarung ist auch nicht abgelöst worden durch die vom Landesarbeitsgericht unterstellte Regelungsabrede aus dem Jahre 1983.

Ob Arbeitgeber und Betriebsrat eine Regelungsabrede über die Änderung des Prämienausgangslohns getroffen haben und welche rechtlichen Wirkungen eine solche Regelungsabrede hätte, kann dahingestellt bleiben. Die Betriebsparteien haben nämlich die Betriebsvereinbarung vom 10. August 1979 über die Ausgestaltung des Prämienlohns nie voll beseitigen wollen. Verhandelt haben sie nur darüber, ob der Prämienausgangslohn nach der Betriebsvereinbarung ausnahmslos weiterhin 100 % des geltenden Tariflohns der jeweiligen Lohngruppe entsprechen sollte oder - wie vom Arbeitgeber gewünscht - für das Bauvorhaben S 29 der B in Leverkusen für alle Arbeitnehmer die Lohngruppe 7 zugrunde gelegt werden sollte. Der Arbeitgeber hatte diesen Vorschlag gemacht, um mit einem auf diese Weise zu erreichenden kostengünstigeren Angebot den Auftrag für dieses Neubauvorhaben zu erhalten.

Stand aber nur für dieses Bauvorhaben eine Regelungsabrede über die Veränderung des Prämienausgangslohns in Frage, hat sich schon aus diesem Grunde an dem Prämienausgangslohn auf den anderen Baustellen, insbesondere bei der H in M , nichts geändert.

Darüber hinaus hat der Betriebsrat durch Schreiben vom 30. Juli 1987 die unterstellte Regelungsabrede über die Herabsetzung des Prämienausgangslohns auch gekündigt. Von da an galt die Betriebsvereinbarung auf jeden Fall ohne Einschränkung wieder auf allen Baustellen. Erst nach dieser Kündigung, nämlich von Mai bis August 1988, hat der Kläger als Montagearbeiter auf dem Gelände der H in M gearbeitet.

Ihm steht die geltend gemachte Differenz zwischen erhaltener Prämie nach dem Prämienausgangslohn der Lohngruppe 7 und der für ihn zutreffenden Lohngruppe 8 zu, weil die vom Landesarbeitsgericht unterstellte Regelungsabrede sich ausschließlich auf den Neubau S 29 der B bezog. Selbst wenn die vorübergehende Herabsetzung des Prämienausgangslohns auch für die Baustelle bei der H in M gegolten hätte, wäre der Anspruch des Klägers begründet, weil die Regelungsabrede längst aufgekündigt war und deshalb die Betriebsvereinbarung in der ursprünglichen Fassung ohne Einschränkungen galt, als der Kläger auf der Baustelle in M Montagearbeiten verrichtete.

III. Aus diesem Grunde kann dahingestellt bleiben, ob im Zusammenhang mit einer Regelungsabrede an den Arbeitsbedingungen aufgrund einer bestehenden Betriebsvereinbarung überhaupt etwas geändert werden kann.

1. Der Sechste Senat hat im Urteil vom 27. Juni 1985 (BAGE 49, 151 = AP Nr. 14 zu § 77 BetrVG 1972) entschieden, eine Betriebsvereinbarung könne nicht durch eine Regelungsabrede abgelöst werden.

Der Sechste Senat hat seine Entscheidung damit begründet, eine Regelungsabrede entfalte keine normative Wirkung, sie sei daher gegenüber der Betriebsvereinbarung also eine niederrangige Rechtsquelle. Eine Betriebsvereinbarung als höherrangiges Recht könne daher nicht durch eine inhaltlich gleichlautende Regelungsabrede abgelöst werden.

2. Diese Entscheidung ist allgemein auf Zustimmung gestoßen (Kreutz, GK-BetrVG , § 77 Rz 307; Stege/Weinspach, BetrVG, 6. Aufl., § 77 Rz 39; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 3. Aufl., § 77 Rz 114; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, aaO, § 77 Rz 92 am Ende; Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke/Klebe, BetrVG, 4. Aufl., § 77 Rz 5; Löwisch, BetrVG, 2. Aufl., § 77 Rz 23 und Eich, SAE 1986, 178 in einer Anmerkung zu dieser Entscheidung). Diejenigen, die auf diese Frage näher eingehen, verweisen darauf, das sogenannte Ablösungsprinzip, das auf dem Grundsatz "lex posterior derogat legi priori" beruht, könne nur für identische Wirkungen entfaltende Rechtsgestaltungsmittel zur Anwendung kommen. Da die Regelungsabsprache keine normative Wirkung auf den Inhalt des Arbeitsverhältnisses entfalte, könne durch eine Regelungsabrede auch nicht die normative Wirkung von Inhaltsnormen beseitigt werden. Dem schließt sich der Senat an.

3. Die Betriebsvereinbarung würde aber beendet, wenn in der Regelungsabrede zugleich ein Aufhebungsvertrag über die Betriebsvereinbarung gesehen werden könnte. Damit entfiele noch nicht die normative Wirkung der nach § 77 Abs. 6 BetrVG fortgeltenden Regelung. Beendet wäre nur ihre zwingende Wirkung, so daß sie jetzt durch eine andere - auch einzelvertragliche - Regelung ersetzt werden könnte. Solche einzelvertraglichen "Abreden" könnten hier in der widerspruchslosen Weiterarbeit zu dem geänderten Prämienausgangslohn gesehen werden.

Voraussetzung hierfür wäre, daß eine Betriebsvereinbarung formlos, d.h. auch durch eine Regelungsabrede, aufgehoben werden könnte. Hiergegen bestehen Bedenken. Adomeit (BB 1962, 1246, 1250) und Hess/Schlochauer/Glaubitz (aaO, § 77 Rz 114) haben darauf hingewiesen, daß die in § 77 Abs. 2 BetrVG für den Abschluß der Betriebsvereinbarung vorgesehene Schriftform nicht so sehr im Interesse der beschließenden Partner als vielmehr aus rechtsstaatlichen Erwägungen im Interesse der normunterworfenen Arbeitnehmer festgelegt worden sei, die wissen sollen, welche Arbeitsbedingungen für sie gelten. Deshalb bedürfe die Aufhebung der Betriebsvereinbarung in gleicher Weise der Schriftform wie ihr Abschluß (ebenso Gnade/Kehrmann/Schneider/Blanke, BetrVG, 2. Aufl., § 77 Rz 50; Kreutz, aaO, § 77 Rz 307, nach dem der Aufhebungsvertrag als actus contrarius zur Betriebsvereinbarung ebenfalls der Schriftform des § 77 Abs. 2 BetrVG bedarf). Andere Autoren vertreten mit einem Hinweis auf die Formfreiheit der Kündigung die Ansicht, daß auch der Aufhebungsvertrag nicht der Schriftform bedürfe (Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, aaO, § 77 Rz 55; Dietz/Richardi, aaO, § 77 Rz 138 und Galperin/Löwisch,BetrVG, 6. Aufl., § 77 Rz 64 a).

Der Senat hat diese Frage nicht entscheiden müssen, weil der Klage bereits aus den unter II. näher dargelegten Gründen stattzugeben war.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.

Dr. Kissel Matthes Dr. Weller

Dr. Stadler Schneider

 

Fundstellen

Haufe-Index 437390

BB 1991, 835

BB 1991, 835-837 (LT1-2)

DB 1991, 1229-1230 (LT1-2)

BetrVG, (12) (LT1-2)

BetrAV 1991, 176-177 (LT1-2)

NZA 1991, 426-428 (LT1-2)

RdA 1991, 126

ZTR § 77 BetrVG 1972, Nr 37 (LT1-2)

AP § 77 BetrVG 1972 (demnächst), Nr 48

AP, 0

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