Entscheidungsstichwort (Thema)

Bezugnahme auf Zuwendungs-TV. Auslegung. Befristung

 

Leitsatz (redaktionell)

  • Eine Regelung, die Arbeitnehmer, die im gesamten Kalenderjahr nicht in einem, sondern in mehreren Arbeitsverhältnissen von demselben Arbeitgeber beschäftigt wurden, von einer Zuwendung ausschließt, verstößt gegen das Verbot der Diskriminierung befristet beschäftigter Arbeitnehmer in § 4 Abs. 2 TzBfG.
  • Die Verlängerung eines Vertrages ist nur während seiner Laufzeit möglich, andernfalls liegt der Neuabschluss eines befristeten Vertrages vor.
  • Die Auslegung einer arbeitsvertraglichen Bezugnahmeklausel kann ergeben, dass auf die im Zeitpunkt des Vertragsschlusses (statt auf die bei Beginn des Arbeitsverhältnisses geltenden) Tarifverträge Bezug genommen wird.
 

Normenkette

BGB §§ 133, 145, 147 Abs. 2, §§ 157, 305c Abs. 2; TVG § 4 Abs. 2; GewO § 105 S. 1; TV Zuwendung Ang-O §§ 1-2

 

Verfahrensgang

Sächsisches LAG (Urteil vom 02.05.2005; Aktenzeichen 3 Sa 924/04)

ArbG Leipzig (Urteil vom 08.10.2004; Aktenzeichen 3 Ca 3432/04)

 

Tenor

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob dem Kläger für das Jahr 2003 eine Zuwendung nach dem Tarifvertrag über eine Zuwendung für Angestellte vom 10. Dezember 1990 idF des Tarifvertrages zur Änderung der Zuwendungstarifverträge (Ost) vom 31. Januar 2003 (TV Zuwendung Ang-O) zusteht.

Der Kläger ist seit dem 1. Januar 2003 auf Grund mehrerer nach § 57a Abs. 1 Satz 1, § 57b Abs. 1 Satz 2 und Satz 4 HRG befristeter Arbeitsverträge beim Beklagten als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig tätig. Ein vom Rektor der Universität Leipzig am 30. Juli 2002 und von dem nicht tarifgebundenen Kläger am 6. August 2002 unterzeichneter Dienstvertrag der Parteien sah eine Befristung des Arbeitsverhältnisses bis zum 31. Dezember 2003 vor. Am 9. August 2002 schlossen die Parteien einen weiteren schriftlichen Dienstvertrag für die Zeit vom 1. Januar 2003 bis zum 30. Juni 2003 und vereinbarten, dass dieser Dienstvertrag an die Stelle des Vertrages vom 30. Juli/6. August 2002 tritt. Ein dritter Dienstvertrag für die Zeit vom 1. Juli 2003 bis zum 31. Dezember 2003 wurde vom Rektor der Universität Leipzig am 20. Juni 2003 und vom Kläger am 10. Juli 2003 unterzeichnet.

§ 6 dieser Dienstverträge regelt jeweils:

“Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich, soweit nichts anderes in diesem Vertrag vereinbart, für die Dauer der Mitgliedschaft des Freistaates Sachsen in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) nach dem Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften – (BAT-O) und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der TdL jeweils geltenden Fassung. Bei einem Austritt des Freistaates Sachsen aus der TdL gelten diese Tarifverträge statisch weiter. Außerdem finden die von dem Freistaat Sachsen abgeschlossenen sonstigen einschlägigen Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung Anwendung.”

Der Beklagte gehört der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) an. Diese kündigte mit einem Schreiben vom 25. Juni 2003 ua. den TV Zuwendung Ang-O fristgerecht zum 30. Juni 2003. In § 1 dieses Tarifvertrages heißt es:

“§ 1

Anspruchsvoraussetzungen

(1) Der Angestellte erhält in jedem Kalenderjahr eine Zuwendung, wenn er

1. am 1. Dezember im Arbeitsverhältnis steht und nicht den ganzen Monat Dezember ohne Vergütung zur Ausübung einer entgeltlichen Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit beurlaubt ist und

2. seit dem 1. Oktober ununterbrochen als Angestellter, Arbeiter, Beamter, Richter, Soldat auf Zeit, Berufssoldat, Arzt im Praktikum, Auszubildender, Praktikant, Schüler/Schülerin in der Krankenpflege, Kinderkrankenpflege oder Krankenpflegehilfe oder Hebammenschülerin/Schüler in der Entbindungspflege im öffentlichen Dienst gestanden hat

oder

im laufenden Kalenderjahr insgesamt sechs Monate bei demselben Arbeitgeber im Arbeitsverhältnis gestanden hat oder steht und

3. nicht in der Zeit bis einschließlich 31. März des folgenden Kalenderjahres aus seinem Verschulden oder auf eigenen Wunsch ausscheidet.

…”

Am 7. Oktober 2003 schlossen die Parteien einen Dienstvertrag für die Zeit vom 1. Januar 2004 bis zum 31. Dezember 2004 ab. In § 3 dieses Vertrages heißt es ua., dass der gekündigte TV Zuwendung Ang-O keine Anwendung finde. Mit Änderungsvertrag vom 13. Januar 2004 vereinbarten die Parteien rückwirkend zum 1. Januar 2004, dass § 3 des Dienstvertrages vom 7. Oktober 2003 durch folgende Regelung ersetzt wird:

“Das Arbeitsverhältnis bestimmt sich, soweit nichts anderes in diesem Vertrag vereinbart ist, für die Dauer der Mitgliedschaft des Freistaates Sachsen in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) nach dem Tarifvertrag zur Anpassung des Tarifrechts – Manteltarifliche Vorschriften – (BAT-O) und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der TdL jeweils geltenden Fassung. Bei einem Austritt des Freistaates Sachsen aus der TdL gelten diese Tarifverträge statisch weiter. Außerdem finden die von dem Freistaat Sachsen abgeschlossenen sonstigen einschlägigen Tarifverträge in der jeweils geltenden Fassung Anwendung.”

Der Kläger hat ohne Erfolg vom Beklagten für das Jahr 2003 die Zahlung einer Zuwendung nach dem TV Zuwendung Ang-O in rechnerisch unstreitiger Höhe von 1.764,42 Euro verlangt.

Der Kläger hat gemeint, das Arbeitsverhältnis sei vor der Kündigung des TV Zuwendung Ang-O durch die Tarifgemeinschaft deutscher Länder begründet worden. Bei der Vereinbarung, das Arbeitsverhältnis über den 30. Juni 2003 hinaus bis zum 31. Dezember 2003 fortzusetzen, handele es sich um die Verlängerung und nicht um die Neubegründung eines Arbeitsverhältnisses. In § 6 der Dienstverträge für das Jahr 2003 sei der TV Zuwendung Ang-O jeweils wirksam in Bezug genommen worden. Die Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 TV Zuwendung Ang-O seien erfüllt.

Der Kläger hat beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 1.764,42 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 2. Dezember 2003 zu zahlen.

Der Beklagte hat zu seinem Klageabweisungsantrag die Auffassung vertreten, in dem vom Kläger am 10. Juli 2003 unterzeichneten Dienstvertrag für die Zeit vom 1. Juli 2003 bis zum 31. Dezember 2003 sei die Anwendung des zum 30. Juni 2003 gekündigten TV Zuwendung Ang-O nicht vereinbart worden. Mit diesem Vertrag sei ein neues Arbeitsverhältnis im Nachwirkungszeitraum begründet und nicht das vorhergehende verlängert worden. Durch die Gleichstellungsabrede in § 6 des Vertrages seien nur die zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses am 10. Juli 2003 gültigen Tarifbestimmungen einbezogen worden. Schließlich seien die tariflichen Anspruchsvoraussetzungen für die Zahlung der Zuwendung nicht erfüllt.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte sein Ziel der Klageabweisung weiter. Der Kläger beantragt, die Revision des Beklagten zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten hat keinen Erfolg. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht erkannt, dass dem Kläger die beanspruchte Zuwendung zusteht.

I. Das Landesarbeitsgericht hat zusammengefasst angenommen, die Bezugnahme in § 6 des Dienstvertrages für die Zeit vom 1. Juli 2003 bis zum 31. Dezember 2003 umfasse den zum 30. Juni 2003 gekündigten TV Zuwendung Ang-O. Zwar sei dieser Dienstvertrag erst am 10. Juli 2003 mit der Unterzeichnung durch den Kläger und damit im Nachwirkungszeitraum zustande gekommen. Jedoch sei durch diesen Vertrag kein neues Arbeitsverhältnis der Parteien begründet worden. Vielmehr hätten die Parteien eine Verlängerung des Arbeitsverhältnisses über den 30. Juni 2003 hinaus bis zum 31. Dezember 2003 vereinbart. Es sei nur die Vertragslaufzeit geändert worden. Mangels einer Änderung anderer Arbeitsbedingungen sei von einer Begründung des Arbeitsverhältnisses vor Beginn des Nachwirkungszeitraums auszugehen.

II. Diese Ausführungen sind nicht frei von Rechtsfehlern. Sie halten jedoch im Ergebnis den Angriffen der Revision stand.

1. Der Anspruch des Klägers auf die Zuwendung für das Jahr 2003 folgt aus § 1 Abs. 1 TV Zuwendung Ang-O. Entgegen der Auffassung des Beklagten erfüllt der Kläger die vergangenheitsbezogenen Anspruchsvoraussetzungen dieser Tarifbestimmung. Er stand am 1. Dezember 2003 nicht nur seit dem 1. Oktober 2003 ununterbrochen als Angestellter des Beklagten im öffentlichen Dienst (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 1. Alt. TV Zuwendung Ang-O), sondern hat auch im Kalenderjahr 2003 insgesamt sechs Monate beim Beklagten und damit demselben Arbeitgeber im Arbeitsverhältnis gestanden (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 2. Alt. TV Zuwendung Ang-O). Entgegen der Auffassung des Beklagten ist es für die Erfüllung der vergangenheitsbezogenen Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs. 1 TV Zuwendung Ang-O ohne Bedeutung, ob der Angestellte in dem Kalenderjahr, für das die Zulage zu zahlen ist, in einem oder befristungsrechtlich in mehreren Arbeitsverhältnissen beschäftigt war. Dies wird nicht nur aus der Regelung in § 1 Abs. 1 Nr. 2 1. Alt. TV Zuwendung Ang-O deutlich, wonach es genügt, dass der Angestellte seit dem 1. Oktober ununterbrochen als Angestellter, Arbeiter, Beamter, Richter, Soldat auf Zeit, Berufssoldat, Arzt im Praktikum, Auszubildender, Praktikant, Schüler/Schülerin in der Krankenpflege, Kinderkrankenpflege oder Krankenpflegehilfe oder Hebammenschülerin/Schüler in der Entbindungspflege im öffentlichen Dienst gestanden hat. Eine Regelung, die Angestellte, die im gesamten Kalenderjahr nicht in einem, sondern in mehreren Arbeitsverhältnissen von demselben Arbeitgeber beschäftigt wurden, von der Zuwendung ausschlösse, verstieße auch gegen das Verbot der Diskriminierung befristet beschäftigter Arbeitnehmer in § 4 Abs. 2 TzBfG. Auch die zukunftsbezogene Anspruchsvoraussetzung ist erfüllt. Der Kläger ist nicht in der Zeit bis einschließlich März 2004 aus seinem Verschulden oder auf eigenen Wunsch ausgeschieden (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 TV Zuwendung Ang-O).

2. Rechtsfehlerhaft hat das Landesarbeitsgericht angenommen, dass die Parteien mit dem Dienstvertrag für die Zeit vom 1. Juli 2003 bis zum 31. Dezember 2003 ihre Vertragsbeziehungen nicht auf eine neue Grundlage gestellt, sondern unter Beibehaltung der übrigen Arbeitsbedingungen nur die Vertragslaufzeit geändert und damit das vor Beginn des Nachwirkungszeitraums begründete Arbeitsverhältnis verlängert haben. Die Verlängerung eines Vertrages ist nur während seiner Laufzeit möglich, andernfalls liegt der Neuabschluss eines befristeten Vertrages vor (st. Rspr., vgl. BAG 18. Januar 2006 – 7 AZR 178/05 – EzA TzBfG § 14 Nr. 26, zu I 1a der Gründe; 19. Oktober 2005 – 7 AZR 31/05 – EzA TzBfG § 14 Nr. 23, zu 2a der Gründe; 25. Mai 2005 – 7 AZR 286/04 – EzA TzBfG § 14 Nr. 19, zu II 2a der Gründe; vgl. zu § 1 Abs. 1 BeschFG 1996: 19. Februar 2003 – 7 AZR 648/01 –, zu I 1 der Gründe; 26. Juli 2000 – 7 AZR 51/99 – BAGE 95, 255, 259). An einer Änderung der Vertragslaufzeit vor Ablauf der Laufzeit fehlt es. Der Kläger hat den Dienstvertrag für die Zeit vom 1. Juli 2003 bis zum 31. Dezember 2003 erst am 10. Juli 2003 und damit nach der Beendigung des vorhergehenden Vertrages unterzeichnet mit der Folge, dass die wechselseitigen Rechte und Pflichten der Parteien erneut vereinbart werden mussten (BAG 26. Juli 2000 – 7 AZR 51/99 – aaO). Die Annahme des Landesarbeitsgerichts, wonach der Vertrag erst mit dessen Unterzeichnung durch den Kläger am 10. Juli 2003 zustande gekommen ist, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

3. Das Landesarbeitsgericht hat zu Recht erkannt, dass die Bezugnahme in § 6 des vom Kläger am 10. Juli 2003 unterzeichneten Dienstvertrages auf tarifliche Vorschriften die Bestimmungen des TV Zuwendung Ang-O erfasst hat.

a) Bei der Bezugnahmeklausel in § 6 des vom Kläger am 10. Juli 2003 unterzeichneten Dienstvertrages handelt es sich nicht um individuelle, sondern um sog. typische Willenserklärungen (BAG 15. Dezember 2005 – 4 AZR 536/04 – EzA TVG Bezugnahme auf Tarifvertrag Nr. 32, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; 1. August 2001 – 4 AZR 129/00 – BAGE 98, 293, 299). Der Beklagte hat die Formulierungen in dieser Vertragsbestimmung in einer Vielzahl von Fällen für Angestellte verwendet. Die Auslegung sog. typischer Willenserklärungen durch das Berufungsgericht ist in der Revisionsinstanz in vollem Umfang nachprüfbar (st. Rspr., vgl. BAG 3. Mai 2006 – 10 AZR 310/05 – DB 2006, 1499, zu B I 1a der Gründe; 13. März 2003 – 6 AZR 698/01 –, zu 1 der Gründe; 19. Januar 2000 – 5 AZR 637/98 – BAGE 93, 212, 215; 16. Februar 2000 – 4 AZR 14/99 – BAGE 93, 328, 338, jeweils mwN). Dieser uneingeschränkten Überprüfung hält die Auslegung der Bezugnahmeklausel durch das Landesarbeitsgericht stand.

b) Gemäß § 157 BGB sind Verträge so auszulegen, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Dabei ist nach § 133 BGB der wirkliche Wille des Erklärenden zu erforschen und nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften. Bei der Auslegung sind alle tatsächlichen Begleitumstände der Erklärung zu berücksichtigen, die für die Frage von Bedeutung sein können, welchen Willen der Erklärende bei seiner Erklärung gehabt hat und wie die Erklärung von ihrem Empfänger zu verstehen war (BAG 3. Mai 2006 – 10 AZR 310/05 – DB 2006, 1499, zu B I 1b der Gründe; 26. September 2002 – 6 AZR 434/00 – AP BBiG § 10 Nr. 10 = EzA BBiG § 10 Nr. 6, zu I 3 der Gründe; 12. Juni 2002 – 10 AZR 323/01 – EzA BetrVG 1972 § 112 Nr. 110, zu II 1b der Gründe). Danach hat der Beklagte dem Kläger am 20. Juni 2003 ein Arbeitsverhältnis für die Zeit vom 1. Juli 2003 bis zum 31. Dezember 2003 angeboten, das sich ua. nach den Vorschriften des TV Zuwendung Ang-O bestimmen sollte. Die Parteien sind sich einig, dass der Kläger das Vertragsangebot des Beklagten vom 20. Juni 2003 am 10. Juli 2003 noch innerhalb der Annahmefrist des § 147 Abs. 2 BGB angenommen hat.

aa) Nach § 6 Satz 1 des Arbeitsvertrages der Parteien vom 10. Juli 2003 bestimmt sich das Arbeitsverhältnis, soweit in diesem Vertrag nichts anderes vereinbart ist, für die Dauer der Mitgliedschaft des Beklagten in der TdL nach dem BAT-O und den diesen ergänzenden, ändernden oder ersetzenden Tarifverträgen in der für den Bereich der TdL jeweils geltenden Fassung. Darüber, dass diese Bezugnahmeklausel den TV Zuwendung Ang-O erfasst hätte, wenn dieser nicht oder erst während der Vertragslaufzeit gekündigt worden wäre, besteht kein Streit.

bb) Bei der Auslegung der Bezugnahmeklausel ist auf den Zeitpunkt der Abgabe des Vertragsangebots abzustellen. Es sind alle tatsächlichen Begleitumstände zu berücksichtigen, die für die Frage von Bedeutung sein können, welchen Willen der Beklagte bei Abgabe des Vertragsangebots (§ 145 BGB) am 20. Juni 2003 gehabt hat und wie dieses vom Kläger zu verstehen war. Der Wortlaut des Vertragsangebots des Beklagten vom 20. Juni 2003 zwingt nicht zu der Annahme, dass die von der Bezugnahmeklausel erfassten Tarifverträge nur dann Anwendung finden sollten, wenn sie bei Beginn des Arbeitsverhältnisses am 1. Juli 2003 noch nicht abgelaufen waren. Die Bezugnahmeklausel in § 6 Satz 1 des Arbeitsvertrages spricht von “der für den Bereich der TdL jeweils gültigen Fassung” und nicht davon, dass die in Bezug genommenen Tarifverträge nur dann Anwendung finden, wenn sie bei Beginn des Arbeitsverhältnisses am 1. Juli 2003 noch gelten. Der Wortlaut der Bezugnahmeklausel lässt die Auslegung zu, dass sich das Arbeitsverhältnis nach dem TV Zuwendung Ang-O und den anderen in Bezug genommenen, zum Zeitpunkt der Abgabe des Vertragsangebots am 20. Juni 2003 gültigen Tarifverträgen bestimmen sollte, ungeachtet einer späteren Kündigung dieser Tarifverträge; die tariflichen Vorschriften allerdings nicht statisch idF des Tarifvertrages vom 31. Januar 2003 zur Änderung der Zuwendungstarifverträge (Ost) Anwendung finden sollten, sondern dynamisch “in der für den Bereich der TdL jeweils gültigen Fassung”.

cc) Für dieses Verständnis spricht, dass der Beklagte sein Vertragsangebot am 20. Juni 2003 und damit vor der Kündigung des TV Zuwendung Ang-O durch die TdL am 25. Juni 2003 abgegeben hat. An diesem Tag bestimmte sich der Anspruch auf eine Zuwendung nach dem TV Zuwendung Ang-O idF vom 31. Januar 2003. Die Kündigung dieses Tarifvertrages durch die TdL erfolgte erst mit einem Schreiben vom 25. Juni 2003. Selbst wenn der Beklagte bei der Abgabe des Vertragsangebots am 20. Juni 2003 bereits Kenntnis von der bevorstehenden Kündigung des Tarifvertrages zum 30. Juni 2003 gehabt haben sollte, folgte daraus nichts anderes. Da das vom Kläger angenommene Vertragsangebot des Beklagten vom 20. Juni 2003 im Gegensatz zur Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag der Parteien vom 7. Oktober 2003 keine Regelung enthielt, nach der der TV Zuwendung Ang-O keine Anwendung finden sollte, konnte und durfte der Kläger das Angebot so verstehen, dass sich das Arbeitsverhältnis nach den zum Zeitpunkt der Abgabe des Vertragsangebots gültigen tariflichen Bestimmungen richten sollte.

c) Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach sich die Nachwirkung eines Tarifvertrages nach § 4 Abs. 5 TVG nicht auf Arbeitsverhältnisse erstreckt, die erst im Nachwirkungszeitraum begründet werden, steht dem Auslegungsergebnis nicht entgegen.

aa) Finden kraft Tarifgebundenheit der Arbeitsvertragsparteien oder auf Grund arbeitsvertraglicher Bezugnahme die Rechtsnormen eines Tarifvertrages auf ein Arbeitsverhältnis Anwendung, gelten nach Ablauf des Tarifvertrages seine Rechtsnormen gemäß § 4 Abs. 5 TVG weiter, bis sie durch eine andere Abmachung ersetzt werden. Die gesetzlich angeordnete Nachwirkung knüpft allein an den Ablauf des Tarifvertrages an und enthält keine Einschränkung auf Arbeitsverhältnisse kraft beiderseitiger Organisationszugehörigkeit tarifgebundener Parteien (BAG 17. Januar 2006 – 9 AZR 41/05 – NZA 2006, 923, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; 27. November 1991 – 4 AZR 211/91 – BAGE 69, 119). Sinn und Zweck dieser Nachwirkungsregelung ist es, bis zu einer solchen Änderung den Rechtszustand zu erhalten und damit dem tariflichen Ordnungsprinzip Rechnung zu tragen (BAG 24. November 1999 – 4 AZR 666/98 – BAGE 93, 34, 39). Arbeitsverhältnisse sollen nach Beendigung eines Tarifvertrages nicht inhaltsleer werden oder durch dispositives Gesetzesrecht ergänzt werden müssen.

bb) Das Bundesarbeitsgericht verneint allerdings in ständiger Rechtsprechung eine normative Wirkung von Tarifregelungen nach § 4 Abs. 5 TVG, wenn das Arbeitsverhältnis erst während der Nachwirkungszeit begründet wird (vgl. 6. Juni 1958 – 1 AZR 515/57 – BAGE 6, 90; 29. Januar 1975 – 4 AZR 218/74 – BAGE 27, 22; 3. Dezember 1985 – 4 ABR 60/85 – BAGE 50, 258; 7. November 2001 – 4 AZR 703/00 – BAGE 99, 283; 11. Juni 2002 – 1 AZR 390/01 – BAGE 101, 288). Die Begründung eines Arbeitsverhältnisses im Nachwirkungszeitraum schließt es aber nicht aus, dass die Arbeitsvertragsparteien die abgelaufenen Tarifbestimmungen einzelvertraglich in Bezug nehmen. Dies ist insbesondere bei abgelaufenen Vergütungstarifverträgen (vgl. BAG 27. Januar 1987 – 1 ABR 66/85 – BAGE 54, 147, 159) nicht ungewöhnlich, kommt aber auch bei Manteltarifverträgen und sonstigen Tarifverträgen vor. Arbeitgeber und Arbeitnehmer können den Inhalt des Arbeitsvertrages frei vereinbaren, soweit nicht zwingende gesetzliche Vorschriften, Bestimmungen eines anwendbaren Tarifvertrages oder einer Betriebsvereinbarung entgegenstehen (§ 105 Satz 1 GewO). Machen die Arbeitsvertragsparteien von der Möglichkeit Gebrauch zu vereinbaren, dass die Vorschriften eines abgelaufenen Tarifvertrages Anwendung finden oder treffen sie in Kenntnis des Ablaufs eines Tarifvertrages davon abweichende, individuelle Abmachungen, ist das Arbeitsverhältnis nicht inhaltsleer.

cc) Anders verhielte es sich, wenn entsprechend der Rechtsauffassung des Beklagten Bezugnahmeklauseln so auszulegen wären, dass die Anwendung der in Bezug genommenen Tarifverträge voraussetzt, dass diese noch nicht abgelaufen sind, wenn das Arbeitsverhältnis in Vollzug gesetzt wird. Das Arbeitsverhältnis würde bei Ablauf der in Bezug genommenen Tarifverträge vor diesem Zeitpunkt je nach der Regelungsdichte dieser Tarifverträge mehr oder weniger inhaltsleer und müsste durch dispositives Gesetzesrecht ergänzt werden. Ohne Bedeutung ist, dass im Entscheidungsfall “nur” der TV Zuwendung Ang-O nach der Vereinbarung der Bezugnahmeklausel gekündigt wurde. Wäre für die Frage der Nachwirkung eines abgelaufenen Tarifvertrages entsprechend der Auffassung des Beklagten nicht der Zeitpunkt der Abgabe des vom Kläger angenommenen Vertragsangebots des Beklagten, sondern der Zeitpunkt des Vollzugs des Arbeitsverhältnisses maßgebend, könnte für den Ablauf eines Mantel- oder Vergütungstarifvertrages nichts anderes gelten als für den Ablauf eines Zuwendungstarifvertrages. Durch die Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag haben der Beklagte und der Kläger deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sich das Arbeitsverhältnis jedenfalls bis zu einem Austritt des Beklagten aus der TdL und der Beendigung der in Bezug genommenen Tarifverträge gerade nicht nach den gesetzlichen Bestimmungen richten sollte. Diese an Sinn und Zweck der Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag der Parteien orientierte Auslegung steht der Annahme entgegen, das Arbeitsverhältnis bestimme sich nicht nach den Vorschriften des TV Zuwendung Ang-O, weil dieser Tarifvertrag vor dem 1. Juli 2003 abgelaufen sei.

4. Da eine am Wortlaut und an Sinn und Zweck der Bezugnahmeklausel orientierte Auslegung zu einem klaren Auslegungsergebnis führt, kann auf die Unklarheitenregel des § 305c Abs. 2 BGB nicht zurückgegriffen werden (vgl. BAG 17. Januar 2006 – 9 AZR 41/05 – NZA 2006, 923, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen; 9. November 2005 – 5 AZR 128/05 – AP BGB § 305c Nr. 4 = EzA BGB 2002 § 305c Nr. 3, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen). Bei Ausschöpfung der anerkannten Auslegungsmethoden verbleiben keine Zweifel, dass die Bezugnahmeklausel die Vorschriften des abgelaufenen TV Zuwendung Ang-O erfasst hat.

 

Unterschriften

Dr. Freitag, Marquardt, Brühler, Großmann, Bittelmeyer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1627954

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