Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsfolge der Verletzung eines Mitbestimmungsrechts

 

Leitsatz (redaktionell)

Hinweise des Senats:

Parallelsache zu 1 AZR 326/90

 

Normenkette

BetrVG § 87 Abs. 1 Nr. 10, § 77 Abs. 3; Eingangssatz § 87 Abs. 1; BGB §§ 611, 242

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Urteil vom 29.03.1990; Aktenzeichen 3 Sa 906/89)

ArbG Darmstadt (Urteil vom 02.03.1989; Aktenzeichen 2 Ca 531/88)

 

Tenor

1. Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 29. März 1990 – 3 Sa 906/89 – aufgehoben.

2. Der Rechtsstreit wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der seit dem 15. Juni 1982 als Arbeiter bei der Beklagten beschäftigte Kläger verlangt Bezahlung nach dem ab 1. April 1988 gültigen, aber nicht für allgemeinverbindlich erklärten Lohntarifvertrag für das Baugewerbe.

Die Beklagte ist ein Unternehmen des Baugewerbes und nicht Mitglied eines Arbeitgeberverbandes des Baugewerbes. Sie beschäftigt etwa 130 Arbeitnehmer, die sie regelmäßig entsprechend den Lohntarifen des Baugewerbes bezahlt. Nur soweit die Beklagte mit den Leistungen bestimmter Arbeitnehmer nicht zufrieden gewesen ist, hat sie diese von den Lohnerhöhungen ausgenommen. Den Betriebsrat ihres Betriebes hat sie nicht beteiligt, weil sie solche Entscheidungen ausschließlich individualrechtlich versteht. Im Jahre 1986 hat sie 15 von insgesamt 141 Arbeitnehmern, im Jahre 1987 6 von insgesamt 130 und 1988 11 von 130 Arbeitnehmern von der freiwilligen Übernahme der Tariflohnerhöhungen ausgenommen.

Die Beklagte beanstandete auch die Leistungen des Klägers und nahm ihn deshalb von der sonst gewährten Tariflohnerhöhung ab 1. April 1988 aus; sie zahlte ihm wie bisher 16,51 DM brutto in der Stunde.

Der Kläger hat mit Schreiben vom 5. Juli 1988 auch für sich die Lohnerhöhung ab 1. April 1988 verlangt und seine Ansprüche für Mai 1988 mit 92,72 DM angegeben. Er hat die Auffassung vertreten, unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung müsse er an der Lohnerhöhung teilhaben. Außerdem habe die Beklagte Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats bei der betrieblichen Lohngestaltung verletzt. Auch der Ausschluß einzelner Arbeitnehmer von Lohnerhöhungen sei mitbestimmungspflichtig. Der Verstoß gegen Mitbestimmungsrechte dürfe auch individualrechtlich keinen Bestand haben.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zur Zahlung von 92,72 DM brutto nebst 4 % Zinsen seit 30. September 1988 zu verurteilen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Zur Begründung hat sie vorgetragen, zum Ausschluß des Klägers von der allgemeinen Lohnerhöhung habe sie sich nach sorgfältiger Prüfung und verantwortungsbewußter Abwägung der beiderseitigen Interessen entschieden, weil dieser seit etwa zwei Jahren nur noch etwa 50 % der normalen Arbeitsleistung seiner Kollegen erbringe. Seine Arbeitsmenge bleibe auch deutlich unter den Arbeitszeitrichtwerten, die von der IG Bau, Steine, Erden und dem Arbeitgeberverband im Jahre 1976 festgelegt worden seien, obwohl diese infolge zwischenzeitlicher Steigerung der Arbeitsproduktivität als völlig überholt betrachtet würden.

Der Kläger sei wegen fehlender Kooperationsbereitschaft und seiner unvertretbar geringen Arbeitsleistung wiederholt ohne Erfolg eindringlich ermahnt worden. Das Absehen von einer Lohnerhöhung sei deshalb sachlich begründet.

Entgegen der Auffassung des Klägers habe sie auch nicht das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG verletzt. Sie habe bei der Entscheidung über die Weitergabe der Tariflohnerhöhungen keine abstrakt-generellen Grundsätze zur Lohnfindung festgelegt. Es habe sich um Einzelfallregelungen gehandelt, da sie lediglich besondere, den jeweiligen Arbeitnehmer betreffende Umstände berücksichtigt habe. Daß die einzelne Maßnahme auf einer bestimmten Wertvorstellung beruhe, begründe nicht deren kollektivrechtlichen Charakter. Im übrigen könne sich der geltend gemachte Anspruch noch nicht daraus ergeben, daß sie gegen Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats verstoßen habe.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, während der Kläger um Zurückweisung der Revision bittet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Landesarbeitsgericht.

I. Die formellen Rügen der Beklagten haben keinen Erfolg.

1. Das gilt zunächst für die Rüge, der Tatbestand des angefochtenen Urteils sei in sich widerspruchsvoll. Die Beklagte ist der Auffassung, sie habe entgegen dem Tatbestand des angefochtenen Urteils die Nichtberücksichtigung des Klägers bei der allgemeinen Lohnerhöhung nicht nur mit Leistungsmängeln begründet, sondern u.a. auch mit fehlender Motivation des Klägers und Unzumutbarkeit einer Lohnerhöhung im individuellen Fall. Diese Rüge ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht konnte die Begründung der Nichtberücksichtigung des Klägers bei der allgemeinen Lohnerhöhung verkürzt zusammenfassen, da es sich auf den Akteninhalt im übrigen bezogen hat.

Der Tatbestand des angefochtenen Urteils ist entgegen der Ansicht der Beklagten auch nicht dadurch widersprüchlich, daß das Landesarbeitsgericht formuliert:”Den Betriebsrat ihres Betriebes hat sie nicht beteiligt, weil sie solche Entscheidungen ausschließlich individualrechtlich versteht.” Das Landesarbeitsgericht hat nämlich ausdrücklich auf das Urteil des Arbeitsgerichts Bezug genommen. Danach ist unstreitig, daß die Beklagte den Betriebsrat über die Vorgehensweise bei der Übernahme der Tariflohnerhöhungen jeweils informiert hat und der Betriebsrat untätig geblieben ist.

2. Wenn das Landesarbeitsgericht im Schweigen des Betriebsrats auf diese bloße Information der Beklagten keine Regelungsabrede sieht, liegt darin entgegen der Meinung der Beklagten nicht eine Verletzung des rechtlichen Gehörs oder ein Mangel der Vollständigkeit der Entscheidungsgründe. Allein der Umstand, daß sich das Landesarbeitsgericht mit der Bewertung eines tatsächlichen Vorgangs durch die Beklagte nicht ausdrücklich auseinandersetzt, läßt nicht den Schluß zu, daß das Landesarbeitsgericht diesen rechtlichen Gesichtspunkt vollständig außer acht gelassen hat.

II. Die Revision ist aber begründet, weil das Landesarbeitsgericht zu Unrecht angenommen hat, aus der Verletzung des Mitbestimmungsrechts nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG ergebe sich ein individualrechtlicher Anspruch, der vorher noch nicht bestanden habe.

1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Anspruch des Klägers sei nach § 611 BGB begründet. Nach dem zugrundeliegenden unstreitigen Sachverhalt könne zwar nicht festgestellt werden, daß die Parteien die Lohntarifverträge des Baugewerbes übereinstimmend arbeitsvertraglich vereinbart hätten, da die Beklagte bei vergangenen Tariflohnerhöhungen die Arbeitnehmer mit erheblichen Minderleistungen von der betrieblichen Lohnanpassung entsprechend den Lohntarifverträgen ausgenommen habe. Möglicherweise stehe dem Kläger der geltend gemachte Anspruch auch unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung nicht zu, da die unterschiedliche Arbeitsleistung ein sachlicher Grund für eine differenzierende Entlohnung sein könne.

Trotz der von der Beklagten behaupteten Leistungsminderung bestehe vorliegend aber der Klageanspruch, weil anderenfalls gegenüber dem Kläger ohne Sanktion bleiben würde, daß die Beklagte bei ihrer Entscheidung, bestimmte Arbeitnehmer von der Übernahme der Tariflohnerhöhung auszunehmen, nicht gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG den bei ihr gebildeten Betriebsrat beteiligt habe. Ein Verstoß gegen ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats wirke sich individualrechtlich aus, wenn die individuelle Maßnahme auf einer Umgehung des Mitbestimmungsrechts beruhe. Die Beklagte habe den Betriebsrat bei der kollektiven Festlegung der Grundsätze der betrieblichen Lohnfindung beteiligen müssen. Auch generell durchgesetzte Überlegungen, wie im allgemeinen betriebliche Löhne festgelegt, erhöht, oder weshalb bestimmte Arbeitnehmer von allgemeinen betrieblichen Lohnerhöhungen ausgenommen werden, seien Entlohnungsgrundsätze im Sinne von § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Die Entscheidung der Beklagten, den Kläger von der sonst allgemein gewährten Lohnerhöhung auszuschließen, beruhe auf einem solchen Entlohnungsgrundsatz, nämlich der Entscheidung, nur solche Arbeitnehmer in den Genuß der Lohnerhöhung kommen zu lassen, die ein durch die Beklagte allein bestimmtes Leistungsbild erfüllten. Nur wenn die Beklagte und der bei ihr bestehende Betriebsrat eine Leistungsminderung als einen Grund für einen völligen oder teilweisen Ausschluß von allgemeinen betrieblichen Lohnerhöhungen normiert hätten, wäre die Behauptung der Beklagten über die Leistungsminderung des Klägers erheblich gewesen.

2. Der Senat hat diesen Ausführungen des Landesarbeitsgerichts nicht folgen können. Das Landesarbeitsgericht hat nicht deutlich genug zwischen der fehlerhaften Beteiligung des Betriebsrats bei der Lohngestaltung nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG und den Rechtsfolgen der fehlerhaften Beteiligung für das einzelne Arbeitsverhältnis unterschieden.

a) Dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats steht nicht der Tarifvorrang entgegen. Nach der Senatsentscheidung vom 24. Februar 1987 (BAGE 54, 191 = AP Nr. 21 zu § 77 BetrVG 1972) gilt im Verhältnis von § 77 Abs. 3 zu § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG das sogenannte Vorrangprinzip. § 77 Abs. 3 BetrVG bildet danach keine Schranke neben § 87 Abs. 1 Eingangssatz BetrVG. Das Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 BetrVG wird nur ausgeschlossen, wenn die Angelegenheit für den Arbeitgeber bindend durch Tarifvertrag bereits geregelt ist. Nach den Feststellungen des Landesarbeitsgerichts gilt für den Betrieb der Beklagten kein Lohntarifvertrag.

b) Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend angenommen, die Verteilungsentscheidung des Arbeitgebers über die Lohnerhöhung nach generellen Gesichtspunkten sei mitbestimmungspflichtig.

Der Betriebsrat hat insoweit ein Mitbestimmungsrecht nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG. Danach hat der Betriebsrat bei Fragen der betrieblichen Lohngestaltung, insbesondere der Aufstellung von Entlohnungsgrundsätzen und der Einführung und Anwendung von neuen Entlohnungsmethoden sowie deren Änderung mitzubestimmen. Die Beteiligung des Betriebsrats in diesem Bereich soll den Arbeitnehmer vor einer einseitig an den Interessen des Unternehmens orientierten Lohngestaltung schützen. Es geht um die Angemessenheit und Durchsichtigkeit des innerbetrieblichen Lohngefüges. Die innerbetriebliche Lohngerechtigkeit soll durch die Mitbestimmung des Betriebsrats gewährleistet werden (Senatsurteil vom 26. Juli 1988 – 1 AZR 54/87 – AP Nr. 6 zu § 87 BetrVG 1972 Provision; BAGE 46, 182 = AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang; BAGE 50, 313 = AP Nr. 5 zu § 87 BetrVG 1972 Tarifvorrang; BAGE 57, 309 = AP Nr. 33 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, m.w.N.). Dagegen hat der Betriebsrat kein Mitbestimmungsrecht über die Höhe des Entgelts (ständige Rechtsprechung seit dem Senatsbeschluß vom 22. Januar 1980, BAGE 32, 350 = AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung).

Der Betriebsrat hat daher ein Mitbestimmungsrecht bei der Festlegung abstrakt-genereller (kollektiver) Grundsätze zur Lohnfindung, nicht aber bei der Festsetzung des einzelnen Gehalts. Deshalb hat er auch nicht mitzubestimmen bei der individuellen Gehaltserhöhung. Bei der einzelvertraglichen Festsetzung der Gehälter fehlt es an einem kollektiven Tatbestand, hier geht es gerade nicht um die Festlegung abstrakt-genereller Grundsätze für die Lohnfindung. § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG unterwirft die Festlegung der Höhe des einzelnen Arbeitsentgelts und damit auch die Festlegung der Gehaltserhöhung nach individuellen Gesichtspunkten gerade nicht dem Mitbestimmungsrecht (Beschluß des Senats vom 21. August 1990 – 1 ABR 72/89 – zu II 3 a der Gründe, betreffend die Mitbestimmung bei der Gehaltserhöhung von AT-Angestellten, n.v.).

c) Im vorliegenden Falle, in dem für den Betrieb der Beklagten kein Lohntarifvertrag Anwendung findet, kann nichts anderes gelten als bei der Mitbestimmung bei der Vergütung von AT-Angestellten. Danach gehört zur Ausgestaltung des Entlohnungsgrundsatzes die Aufstellung des Entgeltsystems mit allen seinen Einzelheiten sowie die Bildung und Umschreibung der Gehaltsgruppen nach Tätigkeitsmerkmalen oder anderen Kriterien (vgl. Wiese, GK-BetrVG, 4. Aufl., § 87 Rz 678; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 3. Aufl., § 87 Rz 441; von Friesen, DB 1980, Beilage Nr. 1, S. 8 f.; Reuter, Vergütung von AT-Angestellten und betriebsverfassungsrechtliche Mitbestimmung, 1979, S. 40 ff.; Wiedemann, In memoriam Sir Otto Kahn-Freund, 1980, S. 343, 355 ff.).

Daher unterliegt dem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auch die Aufstellung von Kriterien, die ausschlaggebend dafür sein sollen, welche Arbeitnehmer – generell – von Lohnerhöhungen ausgenommen werden sollen.

d) Das Landesarbeitsgericht hat auch zutreffend entschieden, daß der Arbeitgeber das Mitbestimmungsrecht nicht dadurch ausschließen kann, daß er dem Regelungsbedürfnis entsprechende einzelvertragliche Vereinbarungen trifft. Das entspricht der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluß vom 30. Januar 1990 – 1 ABR 2/89 – AP Nr. 41 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmt, zu II 1 c aa) der Gründe, m.w.N.). Gerade dann, wenn in einem Betrieb die Lohnerhöhungen an Arbeitnehmer ohne jede abstrakt-generelle Regelung allein aufgrund individueller Absprache gezahlt werden, fehlt es an jeglichen Grundsätzen zur Lohnfindung; es sind weder Entlohnungsgrundsätze noch Vergütungsmethoden vorhanden (vgl. für Zulagen BAG, aaO). Im Rahmen eines solchen undurchsichtigen innerbetrieblichen Lohngefüges kann dessen Angemessenheit nicht gesichert werden. Die Mitbestimmung in diesem Bereich soll den Arbeitnehmer aber gerade vor einer nur einseitig an den Interessen des Unternehmens orientierten oder willkürlichen Lohngestaltung schützen (BAGE 32, 350, 362 = AP Nr. 3 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu B II 2 c der Gründe).

e) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ergibt sich aber vorliegend aus der Verletzung des Mitbestimmungsrechts noch kein Anspruch auf Zahlung der Lohnerhöhung. Bei den Rechtsfolgen unterbliebener Mitbestimmung ist zwischen den betriebsverfassungsrechtlichen Rechtsfolgen und den Rechtsfolgen im Arbeitsverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu unterscheiden (vgl. Heither, DB 1991, 700, 701, unter B I 4).

Im Beschluß vom 16. September 1986 – GS 1/82 – (BAGE 53, 42 = AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972) hat der Große Senat unter C III 4 der Gründe dargelegt, daß die Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung bzw. die Theorie der notwendigen Mitbestimmung entwickelt worden ist, um zu verhindern, daß der Arbeitgeber dem Einigungszwang mit dem Betriebsrat durch Rückgriff auf arbeitsvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten ausweicht. Die Rechtsunwirksamkeit von arbeitsvertraglichen Maßnahmen und Abreden soll eine Sanktion dafür sein, daß der Arbeitgeber das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verletzt hat. Derjenige, der sich betriebsverfassungswidrig verhält, soll sich Dritten (den Arbeitnehmern) gegenüber nicht auf die Verletzung berufen können mit dem Ziel, sich so seiner vertraglich eingegangenen Verpflichtungen zu entledigen. Dementsprechend ist die Unwirksamkeitsfolge einer Maßnahme die geeignete Sanktion, wenn der Arbeitgeber bei einer belastenden Maßnahme ein Mitbestimmungsrecht verletzt hat.

In Übereinstimmung mit den Ausführungen im Beschluß des Großen Senats und entsprechend der ständigen Rechtsprechung insbesondere auch des Ersten Senats hat der Dritte Senat in dem Urteil vom 26. April 1988 – 3 AZR 168/86 – (BAGE 58, 156, 165 = AP Nr. 16 zu § 87 BetrVG 1972 Altersversorgung, zu II 5 a der Gründe, m.w.N.) entschieden, daß die Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats bei der Aufstellung einer neuen schlechteren Leistungsordnung zur Folge hat, daß der zur Durchsetzung dieser neuen schlechteren Leistungsordnung ausgesprochene Widerruf von Zusagen durch den Arbeitgeber gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern individualrechtlich unwirksam ist. Die tatsächlich durchgeführte Mitbestimmung ist Wirksamkeitsvoraussetzung für Maßnahmen zum Nachteil des Arbeitnehmers. Die Maßnahmen können ohne Zustimmung des Betriebsrats nicht verbindlich durchgeführt werden.

Nach der Rechtsprechung des Ersten, Fünften und Dritten Senats hat der Betriebsrat nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG auch mitzubestimmen, wenn der Arbeitgeber allgemeine Richtlinien erläßt, nach denen bei einer größeren Zahl von Mitarbeitern „jederzeit widerrufliche Zulagen” widerrufen werden sollen. Erläßt der Arbeitgeber solche Richtlinien, ohne den Betriebsrat zu beteiligen, ist der auf diesen Richtlinien beruhende Widerruf unwirksam (BAG Urteil vom 17. Dezember 1980 – 5 AZR 570/78 – AP Nr. 4 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung und BAGE 39, 277 = AP Nr. 12 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung).

Das Landesarbeitsgericht will zu Unrecht dieser Rechtsprechung den allgemeinen Grundsatz entnehmen, daß „ein Verstoß gegen ein Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats auch individualrechtlich keinen Bestand hat, wenn die einzelne individuelle Maßnahme auf einer Umgehung eines Mitbestimmungsrechts beruht” (S. 8 des Urteils).

Das Landesarbeitsgericht hat übersehen, daß in den angeführten Entscheidungen nur ausgesprochen worden ist, daß die unter Verletzung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats einseitig vom Arbeitgeber getroffenen Maßnahmen insoweit unwirksam sind, wie „dadurch Ansprüche der Arbeitnehmer vereitelt oder geschmälert” werden (BAG Urteil vom 17. Dezember 1980, aaO, zu 3 der Gründe). Sowohl bei dem Widerruf von Zulagen als auch bei dem Widerruf von Zusagen der betrieblichen Altersversorgung bestanden Ansprüche bzw. Anwartschaften von Arbeitnehmern, die unter Verletzung von Mitbestimmungsrechten durch einseitige Maßnahmen des Arbeitgebers beseitigt werden sollten. Im vorliegenden Fall bestand ein entsprechender Anspruch des Klägers vor Ausübung der vom Arbeitgeber mitbestimmungswidrig getroffenen Maßnahme gerade nicht. Der Kläger hatte gerade keinen Anspruch auf Lohnerhöhung. Es ist also zu fragen, ob aus der Verletzung von Mitbestimmungsrechten des Betriebsrats sich ein individualrechtlicher Anspruch ergeben kann, der zuvor noch nicht bestanden hatte. Diese Frage hat der Senat bisher nicht entschieden. Im Urteil vom 9. Juli 1985 – 1 AZR 631/80 – (AP Nr. 16 zu § 75 BPersVG, zu II 2 der Gründe) ist die Frage offen geblieben. Sie ist zu verneinen, da es keinen rechtlichen Anknüpfungspunkt dafür gibt, wie sich aus der Verletzung von Mitbestimmungsrechten ein vertraglicher Erfüllungsanspruch eines Arbeitnehmers ergeben soll. Dem Grundsatz, daß Maßnahmen unwirksam sind, mit denen unter Verletzung von Mitbestimmungsrechten bestehende Ansprüche von Arbeitnehmern beseitigt werden sollen, kann nicht entnommen werden, daß bei Verletzung eines Mitbestimmungsrechts Ansprüche entstehen, die bisher nicht bestanden und auch bei Beachtung des Mitbestimmungsrechts nicht entstanden wären.

3. Der Rechtsstreit ist noch nicht zur Entscheidung reif. Deshalb war er an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 565 ZPO).

a) Das Landesarbeitsgericht hat zu prüfen, ob der geltend gemachte Anspruch des Klägers nach dem Gleichbehandlungsgrundsatz begründet ist. Der Gleichbehandlungsgrundsatz ist auch bei freiwilligen Lohn bzw. Gehaltserhöhungen anzuwenden, soweit diese auf einer allgemeinen Regelung des Arbeitgebers beruhen. Soweit Lohnerhöhungen die Leistung der Arbeitnehmer anerkennen sollen, kann vertragswidriges Fehlverhalten oder eine erhebliche Minderleistung eine Ausnahme sachlich rechtfertigen (Urteil des Siebten Senats vom 11. September 1985 – 7 AZR 371/83 – AP Nr. 76 zu § 242 BGB Gleichbehandlung, zu IV 2 der Gründe). Das Landesarbeitsgericht hat hierzu noch die erforderlichen Feststellungen zu treffen.

b) Die Beklagte kann sich insoweit nicht darauf berufen, daß die Einheitsregelung hinsichtlich der betrieblichen Lohnerhöhung unter Verletzung des Mitbestimmungsrechts des Betriebsrats zustande gekommen ist. Die vertraglichen Ansprüche der begünstigten Arbeitnehmer sind wirksam (vgl. Beschluß des Großen Senats vom 16. September 1986 – GS 1/82BAGE 53, 42, 73 = AP Nr. 17 zu § 77 BetrVG 1972, zu C III 4 der Gründe). Sofern der Anspruch des Klägers unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgrundsatzes begründet ist, braucht der Kläger auch eine Schmälerung seines Anspruchs nicht deshalb hinzunehmen, weil die Beklagte den Umfang des Leistungsvolumens der betrieblichen Gehaltserhöhung allein bestimmt und sich bei Einbeziehung weiterer Arbeitnehmer der Umfang verändern würde. Der Arbeitgeber kann insoweit nicht frei entscheiden, als er bei seiner Regelung den Gleichbehandlungsgrundsatz verletzt hat, da er in einem solchen Falle schon individualrechtlich zu einer Ausweitung seines Leistungsvolumens verpflichtet ist (Otto, Anm. zum Beschluß des Großen Senats vom 16. September 1986, EzA § 77 BetrVG 1972 Nr. 17, unter II 5).

Dementsprechend war der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

 

Unterschriften

Dr. Kissel, Matthes, Dr. Weller, K.-H. Janzen, Heisler

 

Fundstellen

Dokument-Index HI915987

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