Entscheidungsstichwort (Thema)

Vergütung von Reisezeiten für Fortbildungsveranstaltungen

 

Normenkette

TVG § 1 Tarifverträge: Eisen und Stahl; Manteltarifvertrag in der Eisen- undStahlindustrie von Nordrhein-WestfalenNiedersachsenBremenDillenburgNiederscheiden und Wissen (MTV Stahl) § 5 Nr. 1; BAT § 17 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Urteil vom 08.07.1994; Aktenzeichen 15 Sa 698/94)

ArbG Düsseldorf (Urteil vom 25.02.1994; Aktenzeichen 8 Ca 9152/93)

 

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 8. Juli 1994 – 15 Sa 698/94 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die Vergütung von Reisezeiten, die durch die Teilnahme des Klägers an einem Wochenseminar anfielen.

Der Kläger ist seit dem 1. September 1989 bei der Beklagten gegen ein monatliches Bruttogehalt von 4.188,– DM als mathematisch-technischer Assistent/Programmierer beschäftigt. Auf sein Arbeitsverhältnis findet kraft Tarifbindung der Manteltarifvertrag in der Eisen- und Stahlindustrie von Nordrhein-Westfalen, Niedersachen und Bremen, Dillenburg, Niederschelden und Wissen vom 15. März 1989 (MTV Stahl) Anwendung. § 5 MTV Stahl lautet auszugsweise wie folgt:

„Reisezeit, Rufbereitschaft

1. Notwendige Reisezeit, die über die regelmäßige tägliche Arbeitszeit hinausgeht, wird bis zu vier Stunden kalendertäglich mit dem zuschlagsfreien Verdienst bezahlt.

An arbeitsfreien Tagen des Arbeitnehmers wird angeordnete Reisezeit bis zu acht Stunden kalendertäglich ohne Zuschläge vergütet.

Fällt die angeordnete Reisezeit auf einen Sonntag oder einen gesetzlichen Feiertag, so sind neben der Vergütung die hierfür vorgesehenen Zuschläge zu bezahlen.

…”

Der Kläger wendet bei seiner Arbeit die Programmiersprache SAS an. Den Unternehmen, die diese Programmiersprache verwenden, bietet das SAS-Institut jährlich Bildungsseminare an. Die Beklagte leitet die vom SAS-Institut übersandten Seminarprogramme über die Vorgesetzten an die Programmierer weiter. Nach Genehmigung durch ihren Vorgesetzten können die Programmierer an dem von ihnen ausgesuchten Seminar teilnehmen. Die Beklagte stellt sie während dieser Zeit unter Fortzahlung des Gehalts von der Arbeit frei und übernimmt anfallende Fahrt- und Übernachtungskosten.

Der Kläger nahm von Montag, den 25. Oktober 1993, bis Freitag, den 29. Oktober 1993, an einem Seminar des SAS-Instituts in Heidelberg teil. Die Beklagte besorgte dem Kläger eine Fahrkarte der Deutschen Bundesbahn sowohl für die Hinfahrt nach Heidelberg am Sonntag, den 24. Oktober 1993, als auch für die Rückfahrt am 29. Oktober 1993 und reservierte für ihn ab 24. Oktober 1993 ein Hotelzimmer. Mit Schreiben vom 7. Juli 1993 teilte sie dem Kläger mit:

„…

Veranstalter: SAS Seminar:

Anwendungsentwicklung mit Screen

Control Language Termin:

25.10.1993 – 29.10.1993

Seminarort:

Heidelberg

Als Anlagen erhalten Sie folgende Unterlagen:

Teilnehmerkarte bzw. Einladung/Anmeldebestätigung Programm Seminarbeurteilung Kopie Anweisung des Reisekostenvorschusses Kopie der Fahr-/Flugkartenanforderung – die Fahr-/Flugkarte wird Ihnen vom Reisebüro zugeschickt. Hotelreservierung Sonstiges

Sollten Sie an der Veranstaltung nicht teilnehmen können, bitten wir um sofortige telefonische Information und um Rückgabe der Unterlagen.

Nach der Veranstaltung reichen Sie uns bitte Ihre Reisekostenabrechnung und die ausgefüllte Seminarbeurteilung ein.

Wichtiger Hinweis:

Im Rahmen von Dienstreisen dürfen Taxis nur bei Dringlichkeit oder bei schlechten Verkehrbedingungen benutzt werden. In Zweifelsfällen bitten wir Sie, sich bei Ihrem Vorgesetzten ausdrücklich die Genehmigung zur Taxibenutzung vor Antritt der Dienstreise einzuholen.

…”

Der Kläger reiste am Sonntag, den 24. Oktober 1993, in der Zeit von 14.00 Uhr bis 18.00 Uhr an und am Freitag, den 29. Oktober 1993, in der Zeit von 16.00 Uhr bis 20.00 Uhr zurück. Er hat von der Beklagten verlangt, daß sie ihm die Reisezeiten von insgesamt acht Stunden mit je 26,34 DM brutto vergütet und ihm für die vier Stunden Reisezeit am Sonntag einen 70 %igen Zuschlag zahlt.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Fahrt zu dem Seminar sei eine Dienstreise gewesen. Die Anreise am Sonntag sei notwendig gewesen, weil ein Reisebeginn am Montag um 4.30 Uhr bei einem Veranstaltungsbeginn um 9.30 Uhr unzumutbar gewesen wäre.

Der Kläger hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 284,48 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag seit dem 3. Januar 1994 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat die Auffassung vertreten, die Voraussetzungen des § 5 MTV Stahl seien nicht erfüllt. Die Fahrt zu dem Seminar sei weder als Dienstreise anzusehen noch notwendig gewesen oder angeordnet worden. Die Teilnahme am Seminar habe nicht zur geschuldeten Arbeitsleistung gehört. Den Arbeitnehmern habe es freigestanden, das Weiterbildungsangebot der Beklagten anzunehmen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und die Berufung zugelassen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Mit ihrer Revision möchte die Beklagte die Abweisung der Klage erreichen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet. Dem Kläger steht nach § 5 Nr. 1 MTV Stahl der geltend gemachte Vergütungsanspruch einschließlich des Sonntagszuschlags zu.

1. Das Landesarbeitsgericht hat die für die Seminarteilnahme aufgewandte Fahrzeit zu Recht als Reisezeit im Sinne des § 5 Nr. 1 MTV Stahl angesehen.

a) § 5 Nr. 1 MTV Stahl spricht zwar im Gegensatz zu anderen Tarifverträgen nicht von Dienstreisen. Regelungszweck und Tarifsystematik erfordern aber, wie das Landesarbeitsgericht richtig erkannt hat, eine einschränkende Auslegung. § 3 MTV Stahl regelt die Verteilung der regelmäßigen Arbeitszeit, § 4 MTV Stahl die Arbeitszeitverteilung gemäß Stahlnovelle, § 6 MTV Stahl die Mehr-, Spät-, Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit. Zwischen diesen Arbeitszeitregelungen befindet sich § 5, der sich in Nummer 1 mit der Reisezeit und in Nummer 2 mit der Rufbereitschaft befaßt. Daraus ergibt sich, daß zwischen den von § 5 Nr. 1 MTV Stahl erfaßten Reisen und der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung zumindest ein enger Zusammenhang bestehen muß. § 5 Nr. 1 MTV Stahl erweitert die Vergütungspflicht auf Reisen, die einer zu entlohnenden Tätigkeit dienen.

b) Ob § 5 Nr. 1 MTV Stahl den im öffentlichen Dienst und teilweise auch in der Privatwirtschaft gebräuchlichen Dienstreisebegriff übernommen hat oder weiter gefaßt ist, kann offen bleiben. Im vorliegenden Fall ist die Seminarreise zumindest wegen des vorausgegangenen eigenen Verhaltens der Beklagten wie eine Dienstreise zu behandeln.

aa) Dienstreisen dienen der Erledigung von Dienstgeschäften. Zu den Dienstgeschäften gehören nicht nur die vertraglich geschuldeten Arbeitsleistungen. Auch die Teilnahme an einer Fortbildungsveranstaltung kann jedenfalls dann ein Dienstgeschäft sein, wenn sie ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers liegt.

bb) Im vorliegenden Fall nahm der Kläger an einer Schulung teil, die sich mit der von der Beklagten verwandten Programmiersprache befaßte. Sie vermittelte dem Kläger Kenntnisse, die er für seine arbeitsvertragliche Programmiertätigkeit benötigte. Ob er diese Kenntnisse auch durch Eigenstudium oder auf sonstige Weise erwerben konnte, wie die Beklagte behauptet, kann dahingestellt bleiben.

Die Beklagte hat nicht nur die Fahrkarten besorgt, die Hotelzimmer reserviert und die Arbeitsvergütung während des Seminars weitergezahlt, sondern in ihrem Schreiben vom 7. Juli 1993 die Fahrt zu dem Seminar ausdrücklich als Dienstreise bezeichnet und dem Kläger entsprechende Verhaltenshinweise gegeben. Daran muß sich die Beklagte festhalten lassen.

Auf ihre Mitteilung vom 29. Juli 1992 kann sie sich demgegenüber nicht berufen. Darin zitierte die Beklagte einen Kommentar, wonach die Zeit, die der Arbeitnehmer für Hin- und Rückreise aufwendet, um an einer auswärtigen Seminarveranstaltung teilzunehmen, keine Reisezeit im Sinne des Tarifvertrages sei, weil die Teilnahme an einer derartigen Veranstaltung regelmäßig nicht zur Erledigung von Dienstgeschäften erfolge und auch nicht angeordnet werde. Diese allgemeine Mitteilung befaßte sich nur damit, wie in der Regel „regelmäßig”) die Teilnahme an Schulungsveranstaltungen nach Auffassung der Beklagten zu behandeln sei. Das Schreiben vom 7. Juli 1993 betraf dagegen den konkreten Einzelfall. Die Beklagte sah in einer bestimmten Fahrt ausdrücklich eine Dienstreise. Soweit die Beklagte die Reise zu dem Seminar nunmehr anders bewertet, handelt es sich um ein mit dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) nicht zu vereinbarendes widersprüchliches Verhalten.

2. Die Grundvergütung kann der Kläger für die Reisezeit schon deshalb verlangen, weil die jeweils vierstündige Hin- und Rückfahrt notwendig war, um den Seminarort zu erreichen. Dem Kläger steht nach § 5 Nr. 1 in Verb. mit § 7 Nr. 1.2.7 MTV Stahl auch ein Zuschlag von 70 % für die Reisezeit am Sonntag zu. Die Beklagte kann nicht geltend machen, die Anreise am Sonntag sei weder notwendig noch angeordnet gewesen.

a) Die Anreise am Sonntag ist auch dann notwendig, wenn es dem Arbeitnehmer nicht zuzumuten ist, erst am darauffolgenden Montag anzureisen. Zu Recht hat das Landesarbeitsgericht angenommen, daß vom Kläger nicht erwartet werden konnte, am Tage des Veranstaltungsbeginns um 4.30 Uhr eine vierstündige Fahrt anzutreten und anschließend an dem Seminar mit der gebotenen Konzentration teilzunehmen.

b) Im vorliegenden Fall kann offen bleiben, ob der Arbeitgeber nach § 5 Nr. 1 MTV Stahl die Sonntagsfahrt angeordnet haben muß. Wenn § 5 Nr. 1 MTV Stahl eine derartige zusätzliche Voraussetzung enthält, ist sie ähnlich wie bei Überstundenvorschriften weit auszulegen (vgl. u.a. BAGE 66, 154, 163 = AP Nr. 7 zu § 3 BAT, zu B II 1 der Gründe, zur Anordnung von Überstunden nach § 17 BAT). Danach genügt jedenfalls eine stillschweigende Anordnung oder eine unmißverständliche Genehmigung der Sonntagsfahrt. Im vorliegenden Fall hat die Beklagte selbst die Fahrkarte für die Anreise am Sonntag bestellt und bereits ab Sonntag eine Hotelunterkunft für den Kläger gebucht. Mit diesem Verhalten hat sie die Anreise am Sonntag zumindest genehmigt.

3. Der Zinsanspruch ergibt sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 BGB.

 

Unterschriften

Dr. Heither, Kremhelmer, Bepler, Schmidt, Oberhofer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI952022

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