Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitnehmerweiterbildung. politische Bildung

 

Leitsatz (redaktionell)

Hinweise des Senats: Parallelverfahren zum Urteil vom 19. Mai 1998 – 9 AZR 396/97 – n.v.

 

Normenkette

AWbG NW § 1

 

Verfahrensgang

LAG Köln (Urteil vom 15.04.1997; Aktenzeichen 13 Sa 4/97)

ArbG Köln (Urteil vom 05.09.1996; Aktenzeichen 6 Ca 605/95)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 15. April 1997 – 13 Sa 4/97 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger fünf Urlaubstage aus 1994 nachzugewähren.

Der Kläger ist bei der Beklagten als Formgestalter beschäftigt. Im Juni 1994 teilte er der Beklagten mit, in der Zeit vom 6. bis 11. November 1994 für die Veranstaltung „Die Regionalentwicklung des Spreewaldes im Spannungsfeld Ökonomie und Ökologie” Bildungsurlaub zu nehmen. Die Beklagte lehnte die Freistellung ab; die Veranstaltung diene weder der beruflichen noch politischen Bildung. Im Einvernehmen mit der Beklagten nahm der Kläger unter Anrechnung auf den Erholungsurlaub an der Veranstaltung teil. Die Beklagte verpflichtete sich, ihm fünf Arbeitstage Urlaub nachzugewähren, wenn rechtskräftig festgestellt wird, daß die umstrittene Veranstaltung als anerkannte berufliche oder politische Weiterbildung gilt.

In der Bildungsbroschüre „Bildungsurlaubsangebote in Nordrhein-Westfalen” war das Seminar wie folgt angekündigt:

Der Spreewald ist eine einzigartige Niederungslandschaft, die als Biosphärenreservat in das ökologische Programm der UNESCO aufgenommen wurde. Der Bildungsurlaub beschäftigt sich mit den Entwicklungsperspektiven dieser Region für Mensch und Natur unter den Aspekten: Land- und Forstwirtschaft, Naturschutz und Arbeitsplatzsicherung.

Der als Träger der Weiterbildung anerkannte Streithelfer führte die Veranstaltung nach folgendem Programm durch:

Sonntag:

Anreise

15.00–16.00 Uhr

Quartiernahme

16.00–21.30 Uhr

Einführungsvorträge über Spree und Spreewald

(Die Vorträge werden durch Dias und Folien aufgelockert)

Montag:

09.00–17.00 Uhr

Seminar auf dem Spreewaldkahn

Erläuterungen und Diskussionen beim lautlosen Durchfahren (mit einem handgestakten Spreewaldkahn)

  • des Erlenhochwaldes mit Erläuterungen zum Thema Forstwirtschaft
  • des Wiesenspreewaldes mit Erläuterungen zum Thema Landwirtschaft (Gründlandbewirtschaftung, Rinderhaltung usw.)
  • der besiedelten Spreewalddörfer Lehde und Leipe mit Erläuterungen zum Thema: „Ein Leben mit dem Kahn” und der Überlebenschance von 15 Kleinbauern.

Insgesamt wird auch auf dieser Fahrt das Thema: „Wasser – das Lebenselexier für Spree und Spreewald einschließlich der Hauptstadt Berlin” umfassend behandelt.

19.00–21.30 Uhr

Videos in gekürzter Form über Natur im Spreewald/Biosphärenreservat und über das Leben der Spreewälder

Dienstag:

Die Regionalentwicklung im Spannungsfeld Ökonomie – Ökologie

09.00–10.00

Uhr Die wirtschaftliche Situation der Spreewaldregion

11.00–12.30 Uhr

Die Landwirtschaft und die Erhaltung bzw. Pflege der Kulturlandschaft; Grünlandbewirtschaftung; Gemüseanbau

14.00–15.30 Uhr

Die Landwirtschaft in den Spreewalddörfern Lehde und Leipe; manuelle Bewirtschaftung, Suche nach Überlebenschancen

16.00–17.30

Uhr Die Forstwirtschaft

19.00–20.00

Uhr Video mit Auswertung „Ein Leben mit dem Kahn”

Mittwoch:

09.00–17.00

Uhr Exkursion mit dem Fahrrad, 50–60 km quer durch den Spreewald, mit

  • Besichtigung des Braunkohletagebaues Seese-Ost
  • Grundwasserabsenkungen und ihre Auswirkungen auf die Spree, den Spreewald und Berlin
  • Abbau des Deckgebirges
  • Abbau der Braunkohle
  • Renaturierte ehemalige Tagebaugebiete

19.00–20.30

Uhr Seminar: Grundwasserdefizit im Einzugsgebiet der Spree mit rund 12 Milliarden Kubikmeter?

Was passiert bei spontaner Einstellung der Tagebaue und der Kraftwerke?

Was muß bei der Entwicklung der Gesamtregion beachtet werden? (Erhalt der Landschaft, Menschen und Arbeit, Wasser).

Donnerstag:

Die Spreewaldregion in Grenzen von Peitz/Cottbus bis zum Neuendorfer See (rund 80 km lang und 30 km breit) mit den Städten und Dörfern mit insgesamt rund 200.000 Einwohnern; mit den wirtschaftlichen Potentialen und den wirtschaftlichen Problemen.

09.00–10.30

Uhr Grundsatzreferat zu den vorgenannten Themen

11.00–17.00

Uhr Busrundfahrt zu den wichtigsten Anlaufpunkten:

  • Peitz mit seinen großen Fischteichen und dem Kraftwerk Jänschwalde, sowie Tagebaue Cottbus-Nord und Jänschwalde;
  • Cottbus – Metropole der Niederlausitz und der westlich angrenzende Spreewald mit dem Branitzer-Park
  • die Tagebaue am Südrand des Spreewaldes (offener Tagebau Seese-Ost zum Abriß geräumtes Dorf „Plündern verboten”),
  • Lübben – die Nahtstelle zwischen dem Ober- und Unterspreewald;
  • das Seengebiet im östlichen Teil des Unterspreewaldes
  • der Unterspreewald mit seinen Anlaufpunkten Schlepzig (Agrarhistorisches Museum), Leipsch, Großwasserburg

Freitag:

09.00–12.00

Uhr Auswertungsseminar mit schriftlicher Erarbeitung von Vorschlägen und Vorstellungen, die zur postitiven Entwicklung der Region beitragen können.

Abreise

Zusätzlicher Programmpunkt war am Donnerstagabend der Besuch einer dreistündigen Posiumdiskussion „Naturschutz Großprojekt – eine Chance für den Spreewald”. Leiter des Seminars war der Dipl.-Ing. für Wasserwirtschaft und Leiter der Regionalbüros Spreewald der Europäischen Union K. Weitere Referenten waren u.a. neben der Betriebsleiterin eines ortsansässigen Unternehmens ein Referatsleiter des Biosphärenreservats und der Geschäftsführer und Dipl.-Argraringenieur einer Argrargenossenschaft.

Der Kläger und der Streithelfer haben geltend gemacht, das Seminar habe der politischen und beruflichen Weiterbildung des Klägers gedient. Sie haben zuletzt beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger weitere fünf Urlaubstage aus 1994 wegen Teilnahme an der Bildungsveranstaltung „Die Regionalentwicklung des Spreewaldes im Spannungsfeld Ökonomie und Ökologie” in der Zeit vom 6. November 1994 bis 11. November 1994 zu gewähren;

hilfsweise demgegenüber,

  1. festzustellen, daß die Beklagte verpflichtet war, den Kläger für die Zeit vom 6. November 1994 bis 11. November 1994 wegen Teilnahme an der Bildungsveranstaltung „Die Regionalentwicklung des Spreewaldes im Spannungsfeld Ökonomie und Ökologie” nach § 1 Abs. 2 AWbG NRW freizustellen;

    äußerst hilfsweise,

  2. die Beklagte zu verurteilen, den Kläger für eine weitere einwöchige Arbeitnehmerweiterbildung zusätzlich zu dem Weiterbildungsanspruch aus dem laufenden Kalenderjahr freizustellen;

    hilfsweise dazu,

  3. festzustellen, daß dem Kläger für die Zeit vom 6. November 1994 bis 11. November 1994 Weiterbildungsurlaub nach dem AWbG zustand.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der zugelassenen Revision erstrebt die Beklagte die Wiederherstellung des Urteils des Arbeitsgerichts.

 

Entscheidungsgründe

I. Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat nach der mit der Beklagten getroffenen Vereinbarung einen Anspruch auf Gewährung von fünf Tagen Erholungsurlaub. Denn die Beklagte hat sich hierzu für den Fall verpflichtet, daß die von ihm besuchte Veranstaltung der politischen oder der beruflichen Weiterbildung dient. Diese Voraussetzung ist erfüllt; die Veranstaltung galt als anerkannt im Sinne von § 9 Satz 1 AWbG; sie diente der politischen Weiterbildung im Sinne von § 1 Abs. 2 AWbG.

1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats dient eine Veranstaltung dem Ziel der politischen Weiterbildung, wenn das Verständnis der Arbeitnehmer für gesellschaftliche, soziale und politische Zusammenhänge verbessert werden soll, und die in einem demokratischen Gemeinwesen anzustrebende Mitsprache in Staat, Gesellschaft und Beruf gefördert wird. Dazu ist erforderlich, daß nach dem didaktischen Konzept der Veranstaltung sowie der zeitlichen und sachlichen Ausrichtung der einzelnen Lerneinheiten das Erreichen dieses Ziels uneingeschränkt ermöglicht wird (BAG Urteile vom 15. Juni 1993 – 9 AZR 411/89 – AP Nr. 5 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW; vom 9. Mai 1995 – 9 AZR 185/94BAGE 80, 94 = AP Nr. 14 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW; vom 24. Oktober 1995 – 9 AZR 433/94BAGE 81, 185 = AP Nr. 16 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW). Unter diesen Voraussetzungen hat der Senat Seminare zur Umweltschutzpolitik als politische Weiterbildung auch dann beurteilt, wenn sie sich beispielhaft mit den Verhältnissen einer bestimmten Region in Deutschland befassen (vgl. Urteile vom 24. August 1993 – 9 AZR 240/90BAGE 74, 99 = AP Nr. 9 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW; vom 5. Dezember 1995 – 9 AZR 666/94

BAGE 81, 328 = AP Nr. 22 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW). Von dieser Rechtsprechung ist das Landesarbeitsgericht zu Recht ausgegangen.

2. Das Landesarbeitsgericht hat den aus der Rechtsprechung des Senats übernommenen Begriff politische Weiterbildung zutreffend angewandt. Auf seiner Grundlage ist es rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gekommen, daß das didaktische Konzept der vom Streithelfer durchgeführten Veranstaltung darauf abzielte, die Teilnehmer am Beispiel der Spreewaldregion für ein Hauptproblem der gegenwärtigen Diskussion zu sensibilisieren, nämlich den Umweltschutz, und sie zu motivieren, sich mit den Interessenkonflikten zu befassen, die sich aus dem Verhältnis von Naturschutz und Eingriffen in die Natur einerseits und den Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Existenz der Menschen und die sozialen Folgewirkungen andererseits ergeben. Es hat das Veranstaltungsthema „Die Regionalentwicklung des Spreewaldes im Spannungsfeld zwischen Ökonomie und Ökologie” gewürdigt und die vermittelten Bildungsinhalte auf der Grundlage der behandelten Themen erörtert. Revisionsrechtliche Bedenken bestehen hiergegen nicht.

3. Die Revision rügt, aus dem Veranstaltungsprogramm ergebe sich nicht die vom Landesarbeitsgericht angenommene Zielsetzung. Die Veranstaltung habe überwiegend landeskundliche, geologische und biologische Kenntnisse vermittelt.

Die Revision verkennt, daß die Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs der politischen Weiterbildung in der Revisionsinstanz nur der eingeschränkten Prüfung unterliegt, ob der Rechtsbegriff selbst verkannt, Denkgesetze verletzt oder wesentliche Umstände bei der Bewertung übersehen worden sind (ständige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts vgl. Urteil v. 29. Oktober 1997 – 5 AZR 624/96 – BB 1998, 903, m.w.N.). Die Revision zeigt einen derartigen Fehler im Urteil des Landesarbeitsgerichts nicht auf. Sie übersieht, daß nach den bindenden Feststellungen des Landesarbeitsgerichts (§ 561 ZPO) die Exkursionen durch Referate vor- und nachbereitet sowie jeweils von Erläuterungen und Diskussionen begleitet worden sind, die den Bezug zwischen Natur, Wirtschaft, Gesellschaft, Arbeitsplätze und Politik herstellten. Es kann daher nicht beanstandet werden, wenn das Landesarbeitsgericht zu der Auffassung gelangt ist, daß die Exkursionen nicht dem Freizeitvergnügen oder der körperlichen Ertüchtigung dienten, sondern sinnvoll in das didaktische Konzept eingebettet waren. Gegen diese tatsächlichen Feststellungen hat die Beklagte keine beachtlichen Verfahrensrügen nach § 554 Abs. 3 Nr. 3 b ZPO erhoben. Die Revision ersetzt im Ergebnis die Beurteilung des Landesarbeitsgerichts durch eine eigene Beurteilung. Das genügt nicht.

4. Entgegen der Rüge der Beklagten konnte das Landesarbeitsgericht für seine Entscheidung auch auf die ergänzenden Erläuterungen des Streithelfers zurückgreifen und die im Rechtsstreit überreichten Arbeitsunterlagen des Klägers berücksichtigen. Dem Arbeitnehmer ist es nach der Rechtsprechung des Senats nicht verwehrt, die Voraussetzungen des Bildungsurlaubs darzulegen und im Streitfall nachzuweisen (BAG Urteil vom 9. Mai 1995 – 9 AZR 185/94BAGE 80, 94 = AP Nr. 14 zu § 1 BildungsurlaubsG NRW).

II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Düwell, Bott, Reinecke, R. Schmidt, H. Kranzusch

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1254620

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