Entscheidungsstichwort (Thema)

Eingruppierung einer Kassiererin in einem Verbrauchermarkt. Eingruppierung Privatwirtschaft

 

Orientierungssatz

  • Der Senat hält an der Auslegung des Begriffs Verbrauchermarkt fest. Danach ist ein Verbrauchermarkt ein Ladengeschäft des Einzelhandels, das eine Verkaufsfläche von mindestens 1.000 qm aufweist, sowohl Nahrungs- und Genußmittel als auch andere Waren des kurz- und mittelfristigen Bedarfs (sog. Non-Food-Bereich) anbietet, vorwiegend als Selbstbedienungsladen geführt wird und verkehrsgünstig mit guter Parkmöglichkeit gelegen ist, zB in Stadtrandlage.
  • Die “Kassierer/in an Verbrauchermarktkassen” stellt ein Regelbeispiel der Gehaltsgruppe III GTV dar. Auf eine weitergehende Prüfung, ob diese Tätigkeit “gehoben” ist oder “selbständig im Rahmen allgemeiner Anweisung ausgeübt wird”, kommt es demnach nicht an.
 

Normenkette

Manteltarifvertrag für die Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer/-innen des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom 13. Januar 1994; Tarifverträge über Gehälter, Löhne, Ausbildungsvergütungen und Sozialzulagen für die Arbeitnehmer/-innen und Auszubildenden des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom 24. Juni 1998 und 5. August 1999

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Urteil vom 01.08.2001; Aktenzeichen 9 Sa 9/01)

ArbG Karlsruhe (Urteil vom 11.01.2000; Aktenzeichen 2 Ca 531/99)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 1. August 2001 – 9 Sa 9/01 – wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten um die zutreffende tarifliche Eingruppierung der Klägerin und sich daraus ergebende Differenzlohnansprüche in rechnerisch unstreitiger Höhe.

Die Klägerin ist seit 1995 als Kassiererin mit monatlich 130 Stunden in dem von der Beklagten betriebenen Einzelhandelsmarkt in B… beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden kraft Vereinbarung der Parteien gemäß § 3 des zwischen ihnen geschlossenen Arbeitsvertrages vom 4. September 1995, geändert am 24. April 1997, beiderseitiger Verbandszugehörigkeit sowie Allgemeinverbindlichkeit der Manteltarifvertrag für die Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer/-innen des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom 13. Januar 1994 (MTV) und die Tarifverträge über Gehälter, Löhne, Ausbildungsvergütungen und Sozialzulagen für die Arbeitnehmer/-innen und Auszubildenden des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom 24. Juni 1998 sowie vom 5. August 1999 Anwendung.

Der MTV lautet auszugsweise:

“§ 10

Entgelte • Allgemeine Bedingungen

1. Die Höhe der Entgelte wird in einem besonderen Tarifvertrag geregelt, der eine Ergänzung dieses Vertrages ist.

§ 11

Einreihung der Arbeitnehmer/-innen in Beschäftigungsgruppen und Lohnstufen

1. Die Angestellten werden in Beschäftigungsgruppen, die gewerblichen Arbeitnehmer/-innen in Lohnstufen eingereiht, die Bestandteile des Gehalts- und Lohntarifvertrages sind.

2. Für die Einreihung des/der Angestellten in eine Beschäftigungsgruppe ist ausschließlich die Art seiner/ihrer Tätigkeit entscheidend. Maßgebend sind die jeder Gruppe vorangestellten Tätigkeitsmerkmale.

Die bei den Beschäftigungsgruppen aufgeführten Beispiele sind weder erschöpfend noch für jeden Betrieb zutreffend.

5. Angestellte mit Tätigkeiten, die nicht in den Beschäftigungsgruppen erwähnt sind, werden in die Gruppe eingereiht, die ihrem Aufgabenkreis am nächsten kommt.

8. Einspruch gegen die Einreihung ist innerhalb eines Zeitraumes von 4 Monaten schriftlich einzulegen. Ist dies nicht rechtzeitig geschehen, so kann ein Anspruch für einen weiter als 3 Monate zurückliegenden Zeitraum nicht geltend gemacht werden.”

Soweit für den vorliegenden Rechtsstreit von Belang, lauten die Tarifverträge über Gehälter, Löhne, Ausbildungsvergütungen und Sozialzulagen für die Arbeitnehmer/-innen und Auszubildenden des Einzelhandels in Baden-Württemberg (GTV) vom 24. Juni 1998 und 5. August 1999 jeweils wie folgt:

“I. Gehälter

1. Beschäftigungsgruppen

Gruppe II

Tätigkeitsmerkmale:

Einfache kaufmännische Tätigkeiten, für die die Tätigkeitsmerkmale einer höheren Beschäftigungsgruppe nicht zutreffen.

Beispiele:

Verkäufer und Verkäuferinnen, Kassierer/-innen mit einfacher Tätigkeit, auch an SB-Kassen, Angestellte am Packtisch mit Kontrolltätigkeit.

Gruppe III

Tätigkeitsmerkmale:

Tätigkeiten, die selbständig im Rahmen allgemeiner Anweisungen ausgeübt werden.

Beispiele:

Erste Verkäufer/-innen (Lagererste). Sortimentskontrollen, Kassierer/-innen mit gehobener Tätigkeit, z.B. an Etagen-, Bereichs-, Regional- und Sammelkassen sowie an Verbrauchermarkt- und sonstigen SB-Kassen.

…”

Die Klägerin erhält Vergütung gemäß Beschäftigungsgruppe II des GTV.

Das Warenangebot des Filialmarktes in B… erstreckt sich auf Nahrungs- und Genußmittel sowie sonstige Waren des kurz- und mittelfristigen Bedarfs, wobei der sogenannte Non-Food-Bereich ca. 40 % der Verkaufsfläche in Anspruch nimmt. Der Markt befindet sich am Ortseingang und bietet die Waren ganz überwiegend zur Selbstbedienung an. Neben einer Metzgerei- und einer Audio-Phone-Abteilung verfügt die Filiale über einen Getränkemarkt und eine Tankstelle. Ferner gehören zum Markt verschiedene Konzessionsbetriebe, darunter eine Bäckerei, ein Feinkostgeschäft, ein Fotogeschäft, ein Blumenladen, ein Textilgeschäft, ein Schuhmarkt und ein Lotto-Toto-Zeitschriftengeschäft.

Die Klägerin ist an einer EDV-gesteuerten Scannerkasse eingesetzt. Werden Waren ausnahmsweise nicht mittels des Scanners erfaßt, muß die jeweilige Preisabrufnummer (PLU-Nummer) bzw. die Warengruppennummer aus einer entsprechenden Liste eingegeben werden. Einmal wöchentlich wird ein Test durchgeführt, bei dem erwartet wird, daß die Kassiererinnen die PLU- und Warengruppennummern von 30 verschiedenen Artikeln auswendig kennen. Durchschnittlich sind sechs Kassiererinnen für täglich zwischen 1.600 und 2.300 Kunden im Einsatz; die Zahlung mittels Scheckkarte erfolgt an Wochenenden bei ca. 80 % der Zahlungsvorgänge. Die Kassiererinnen müssen beim Kassiervorgang eine Kontrolle der Hohlräume gekaufter Gegenstände und der unteren Ablagen auf eventuell versteckte Waren vornehmen.

Mit Schreiben vom 8. Dezember 1998 machte die Klägerin gegenüber der Beklagten Eingruppierung nach Beschäftigungsgruppe III und Zahlung der Differenzvergütung ab Oktober 1998 geltend.

Die Klägerin hat behauptet, die Verkaufsfläche betrage 3.600 qm, und die Auffassung vertreten, es handle sich um einen Verbrauchermarkt im Sinne der Beschäftigungsgruppe III des GTV.

Mit ihrer am 1. September 1999 bei dem Arbeitsgericht Karlsruhe eingegangenen Klage hat sie beantragt,

  • die Beklagte zu verurteilen, an sie 4.313,40 DM brutto nebst 4 % Zinsen aus dem sich ergebenden Nettobetrag aus jeweils 309,40 DM seit dem 1. November 1998, 1. Dezember 1998, 1. Januar 1999, 1. Februar 1999, 1. März 1999, 1. April 1999, 1. Mai 1999, 1. Juni 1999 und dem 1. Juli 1999 sowie aus jeweils 382,20 DM seit dem 1. August 1999, 1. September 1999, 1. Oktober 1999 und 1. November 1999 zu zahlen,
  • festzustellen, daß sie ab dem 1. November 1999 nach der VergGr. III/1 des Tarifvertrages über Gehälter, Löhne, Ausbildungsvergütungen und Sozialzulagen für die Arbeitnehmer/-innen und Auszubildenden des Einzelhandels in Baden-Württemberg zu vergüten ist.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt. Sie hat geltend gemacht, ihre Filiale in B… sei kein Verbrauchermarkt im Sinne des GTV, sondern ein SB-Warenhaus. Dies ergebe sich aus ihrer Größe von 8.411 qm, der Vielzahl von Angeboten, der Preispolitik, den Serviceleistungen und Werbeaktivitäten. Die Klägerin erfülle daher nicht das entsprechende Tätigkeitsbeispiel der Gruppe III des GTV. Sie übe als Kassiererin an einer Scannerkasse lediglich eine einfache Kassierertätigkeit im Sinne der Beschäftigungsgruppe II aus. Die Vertriebsformen insbesondere des großflächigen Einzelhandels hätten in den letzten Jahren eine stürmische Weiterentwicklung erfahren, so daß es gegenwärtig keinen hinreichend definierten Begriff des “Verbrauchermarktes” mehr gebe. Fehle es an einer allgemeingültigen Definition eines in Tarifverträgen verwandten Begriffs als Beispielfall, so sei die Rechtsprechung nicht befugt, eine solche Definition selbst zu schaffen. Der Umstand, daß bereits 93 % der Waren eingescannt werden könnten, habe die Tätigkeit von Kassiererinnen wesentlich vereinfacht. Die Kenntnis von Preisen und Warennummern sei weitestgehend entbehrlich, die Kontrolle der korrekten Auszeichnung ersatzlos entfallen. Durch die Möglichkeit der Scheckkartenzahlungen seien die Kassiervorgänge wesentlich vereinfacht worden. Nach der Auslegung des Tarifvertrages käme es im Rahmen der Gehaltsgruppe III bei allen Kassiererinnen an Kassen in SB-Märkten auf eine gehobene Tätigkeit an. Jegliche andere Auslegung sei sozial ungerecht und willkürlich.

Das Arbeitsgericht hat dem Feststellungsantrag vollständig und dem Zahlungsantrag bis auf einen geringen Teil stattgegeben. Die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg. Mit der Revision begehrt die Beklagte die Abweisung der Klage.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Die Klägerin ist in Beschäftigungsgruppe III des GTV eingruppiert, so daß das Landesarbeitsgericht die Berufung der Beklagten gegen das der Klage im wesentlichen stattgebende Urteil zu Recht zurückgewiesen hat.

  • Das Landesarbeitsgericht hat ausgeführt, die Klägerin erfülle die Tätigkeitsmerkmale der Gruppe III GTV, denn sie sei Kassiererin an Verbrauchermarktkassen. Einer Prüfung der allgemeinen Tätigkeitsmerkmale bedürfe es angesichts der Erfüllung des Tätigkeitsbeispiels nicht. Der Begriff des Verbrauchermarktes sei justitiabel. Da die Tarifvertragsparteien ihn als Tätigkeitsbeispiel benutzt hätten, müsse ihnen der Begriff geläufig gewesen sein. Es bestehe kein Anlaß, von der vom Bundesarbeitsgericht in seiner Entscheidung vom 8. Februar 1984 (– 4 AZR 158/83 – BAGE 45, 121 = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 134) aufgestellten Definition des Verbrauchermarktes abzuweichen. Die Entwicklung neuer Vertriebsformen des Einzelhandels seit dem Urteil des Bundesarbeitsgerichts im Jahre 1984 habe auf die Auslegung des Begriffs “Verbrauchermarkt” keinen Einfluß. Dies ergebe sich auch daraus, daß die Tarifvertragsparteien den Begriff unverändert in die Neufassungen des Gehaltstarifvertrages übernommen hätten. Die für das Vorliegen eines Verbrauchermarktes durch das Bundesarbeitsgericht aufgestellten Voraussetzungen seien erfüllt.
  • Die Revision ist nicht begründet. Sowohl der Feststellungsantrag als auch der Zahlungsantrag der Klägerin sind im vom Arbeitsgericht ausgeurteilten Umfang begründet.

    1. Die Klage ist zulässig. Insbesondere erfüllt der Feststellungsantrag die Voraussetzungen des § 46 Abs. 2 ArbGG iVm. § 256 Abs. 1 ZPO. Die Klägerin hat ein gemäß § 256 Abs. 1 ZPO erforderliches besonderes rechtliches Interesse, das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald feststellen zu lassen. Vorliegend handelt es sich um eine allgemein übliche Eingruppierungsfeststellungsklage, gegen deren Zulässigkeit nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts keine Bedenken bestehen (zB BAG 20. Juni 2002 – 8 AZR 499/01 –). Dies ist nicht nur im Bereich des öffentlichen Dienstes, sondern auch für die Privatwirtschaft anerkannt, denn die Klägerin kann zumindest für die Zukunft, auf die sich die Klage auch erstreckt, ihre Ansprüche nicht beziffern und ist daher insoweit an der Erhebung einer Leistungsklage gehindert (vgl. BAG 23. September 1992 – 4 AZR 30/92 – BAGE 71, 195, 199 = AP BGB § 612 Diskriminierung Nr. 1 = EzA BGB § 612 Nr. 16; 20. April 1988 – 4 AZR 678/87 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Bau Nr. 93; 20. Juni 1984 – 4 AZR 208/82 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Großhandel Nr. 2).

    2. Die Klage ist begründet.

    Der Klägerin steht Arbeitsentgelt nach Beschäftigungsgruppe III des Tarifvertrages über Gehälter, Löhne, Ausbildungsvergütungen und Sozialzulagen für die Arbeitnehmer/-innen und Auszubildenden des Einzelhandels in Baden-Württemberg (GTV) zu, denn sie erfüllt das Tätigkeitsbeispiel der Kassiererin an Verbrauchermarktkassen.

    a) Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Daher ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist. Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben (BAG 21. März 2001 – 10 AZR 41/00 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Einzelhandel Nr. 75 = EzA TVG § 4 Einzelhandel Nr. 43; 19. November 1997 – 10 AZR 249/97 – EzB TVG § 4 Nr. 50). Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden (BAG 21. März 2001 – 10 AZR 41/00 – aaO). Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 16. Mai 1995 – 3 AZR 395/94 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Papierindustrie Nr. 10 = EzA TVG § 1 Auslegung Nr. 29; 20. April 1994 – 10 AZR 276/93 – AP BAT §§ 22, 23 Zulagen Nr. 11).

    b) Die Klägerin ist als Kassiererin tätig. Daß sie ursprünglich gemäß § 2 des Arbeitsvertrages als Auffüllkraft, an der Kasse und im Markt eingestellt worden ist, ist unerheblich, da es für die Eingruppierung nach § 5.1 des Arbeitsvertrages sowie gemäß § 11 Ziff. 2 MTV auf die tatsächlich ausgeübte Tätigkeit ankommt.

    c) Entgegen der Auffassung der Revision handelt es sich bei dem Betrieb in B… um einen Verbrauchermarkt im Sinne des Tarifvertrages.

    aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (8. Februar 1984 – 4 AZR 158/83 – BAGE 45, 121 = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 134; 8. Februar 1984 – 4 AZR 407/83 –)ist der tarifliche Begriff des Verbrauchermarktes der Auslegung zugänglich und damit justitiabel. In den vorbezeichneten sowie einer weiteren Entscheidung aus dem Jahre 1987 (9. Dezember 1987 – 4 AZR 461/87 –)hat es den Begriff des Verbrauchermarktes noch nicht als konkretisierten Rechtsbegriff verstanden, der von den Tarifvertragsparteien in seiner allgemeinen rechtlichen Bedeutung angewendet worden sei, und daraus geschlossen, die Tarifvertragsparteien wollten diesen Begriff so angewendet wissen, wie er im Handelsverkehr und Wirtschaftsleben verstanden werde und damit den Anschauungen der beteiligten Berufskreise und dem Handelsbrauch (§ 346 HGB) entspreche (vgl. zum branchenspezifischen Verständnis eines branchenspezifischen Begriffs auch BAG 21. August 2002 – 4 AZR 223/01 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Krankenkassen Nr. 1). Dabei könne zur weiteren Konkretisierung auf die überwiegende Meinung in den einschlägigen Fachkreisen zurückgegriffen werden, soweit sie im Fachschrifttum festzustellen seien. Nach diesen Grundsätzen sei ein Verbrauchermarkt ein Ladengeschäft des Einzelhandels, das eine Verkaufsfläche von mindestens 1.000 qm aufweise, sowohl Nahrungs- und Genußmittel als auch andere Waren des kurz- und mittelfristigen Bedarfs (sog. Non-Food-Bereich) anbiete, vorwiegend als Selbstbedienungsladen geführt werde und verkehrsgünstig mit guter Parkmöglichkeit gelegen sei, zB in Stadtrandlage (Senat 15. November 2001 – 8 AZR 271/01 –; BAG 8. Februar 1984 – 4 AZR 158/83 – aaO; 8. Februar 1984 – 4 AZR 407/83 –; 9. Dezember 1987 – 4 AZR 461/87 –).

    bb) Es liegt nahe, der seinerzeit vom Bundesarbeitsgericht im Wege der Auslegung entwickelten Definition mittlerweile allgemeine rechtliche Bedeutung beizumessen (hierzu Senat 15. November 2001 – 8 AZR 113/01 –, zu II 2b cc (1) der Gründe). Entgegen der Ansicht der Beklagten hat die Verwendung bzw. Definition des Begriffs “Verbrauchermarkt” im Tarifvertrag und in der Fachliteratur seit den ersten hierzu ergangenen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts im Jahre 1984 keine wesentliche Änderung erfahren (Senat 15. November 2001 – 8 AZR 113/01 –). Unter einem Verbrauchermarkt versteht man nach wie vor einen großen Betrieb des Einzelhandels, in dem Waren großenteils zu Preisen verkauft werden, die unter den sonst im Einzelhandel üblichen liegen (Wahrig Deutsches Wörterbuch 6. Aufl.; Brockhaus/Wahrig Deutsches Wörterbuch 1984 Bd. 6). Zum Teil wird die Definition dadurch ergänzt, daß es sich um ein Einzelhandelsgeschäft mit Selbstbedienung handelt, welches häufig am Ortsrand gelegen ist (Duden Das große Wörterbuch der Deutschen Sprache 2. Aufl. Bd. 8). Die Mindestgröße der Verkaufsfläche wird dabei unterschiedlich angesetzt und beträgt nach der amtlichen Statistik 1.000 qm, nach internationalen Erhebungsverfahren von Panelinstituten 800 qm, nach der Abgrenzung des Europäischen Handelsinstitutes 1.500 qm (Brockhaus Die Enzyklopädie 20. Aufl. Bd. 23)oder mindestens 2.000 qm (Meyers Enzyklopädisches Lexikon 1981 Bd. 24). Teilweise wird bei Betriebsgrößen von über 4.000 qm (Gabler Wirtschafts-Lexikon 13. Aufl.)bzw. 5.000 qm (Brockhaus Die Enzyklopädie aaO)nicht mehr von Verbrauchermärkten, sondern von Selbstbedienungswarenhäusern (SB-Warenhäusern) gesprochen. Auch die verkehrsgünstige Lage mit guter Parkmöglichkeit, die nach dem Bundesarbeitsgericht (8. Februar 1984 – 4 AZR 158/83 – BAGE 45, 121 = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 134; 8. Februar 1984 – 4 AZR 407/83 –)kennzeichnend für den Verbrauchermarkt ist, wird in Teilen der Literatur ebenso als dessen Merkmal angesehen (Brockhaus Die Enzyklopädie aaO; Gabler Wirtschafts-Lexikon 13. Aufl.).

    Die Tarifvertragsparteien in Baden-Württemberg haben – anders als es in Tarifverträgen in anderen Bundesländern, auf die es entgegen der Ansicht der Beklagten für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits nicht ankommt – in den vorliegend anzuwendenden Gehaltstarifverträgen den Begriff des “Verbrauchermarktes”, so wie er vom Bundesarbeitsgericht 1984 verstanden worden ist, weiterhin unverändert und ohne nähere Bestimmungen verwendet. Wenn sie dies in Ansehung einer seit nahezu 15 Jahren unveränderten Auslegung des tariflichen Begriffs durch das Bundesarbeitsgericht so gehandhabt haben, ist davon auszugehen, daß die Tarifvertragsparteien die Auslegung für zutreffend halten. Diese Übung spricht gerade dafür, daß sich die ursprünglich entwickelte Definition als sachlich zutreffend und praktisch brauchbar erwiesen hat. Insbesondere ist nicht anzunehmen, daß die Tarifvertragsparteien eine – nach der Auffassung der Beklagten – mangels Bestimmbarkeit unwirksame Begriffbestimmung wiederholt haben. Das ist auch dann nicht anzunehmen, wenn man den pauschalen Vortrag der Beklagten in der Revisionsbegründungsschrift berücksichtigt, die Tarifvertragsparteien des Einzelhandels wüßten, daß einige Begriffe des GTV nicht handhabbar seien (welche?) und sie seien eben vor den Schwierigkeiten einer Neuregelung gescheitert. Wenn die Tarifvertragsparteien den Begriff des Verbrauchermarktes nicht so verstanden wissen wollten, wie dies das Bundesarbeitsgericht seit 1984 tut, hätten sie zumindest dies klarstellen können, indem sie beispielsweise das Regelbeispiel gestrichen hätten.

    cc) Ein Verbrauchermarkt im Tarifsinne liegt auch dann vor, wenn man eine Gesamtbetriebsfläche von 8.411 qm zugrunde legt, wie dies die Beklagte vorträgt und nicht nur eine Fläche von 3.600 qm. Dem steht die in Teilen der handels- und absatzwirtschaftlichen Literatur vorgenommene Abgrenzung der Verbrauchermärkte gegen die – größeren – SB-Warenhäuser nicht entgegen, wie sich aus der Tarifsystematik ergibt. Der Tarifvertrag führt in den Tätigkeitsbeispielen die Kassierer lediglich in den Gruppen II und III auf, wobei unter Gruppe III die für größere Einheiten (zB Etagen, Bereiche, Regionen oder Verbrauchermärkte) errichteten Kassen fallen. Daraus ist zu schließen, daß die Tarifvertragsparteien eine Gehaltsdifferenzierung nach der Größe der Beschäftigungseinheit nur in einer Stufe vornehmen wollten. Sieht ein Gehaltstarifvertrag Gehaltsdifferenzierungen für gleichartige Tätigkeiten je nach Größe des Beschäftigungsbetriebes (hier: Ladengeschäft oder Verbrauchermarkt) vor und wird diese Differenzierung nur in einer Stufe vorgenommen, so ist die für die höhere Vergütung umschriebene Betriebsgröße regelmäßig im Sinne einer Mindestbestimmung zu verstehen. Die Tätigkeit in noch größeren Verkaufseinheiten (“SB-Warenhaus”) erfüllt dann ohne weiteres die Voraussetzungen der höheren Tarifgruppe, wenn der Tarifvertrag eine weitere Differenzierung nach solchen Kriterien nicht kennt. Hieraus ist nämlich der Wille erkennbar, im Tarifvertrag den Begriff des Verbrauchermarktes hinsichtlich der Betriebsgröße nicht nach oben hin zu begrenzen (so zum entsprechenden Tarifvertrag für Rheinland-Pfalz Senat 15. November 2001 – 8 AZR 113/01 –). Dies entspricht offenbar auch der von der Beklagten intern verwendeten Definition, denn das Wort “Verbrauchermärkte” ist Teil ihrer Firma.

    dd) Die tarifliche Regelung verstößt nicht gegen den Gleichheitssatz nach Art. 3 Abs. 1 GG. Es mag dahinstehen, ob sich die Beklagte zur Abwehr eines Eingruppierungsbegehrens, dh. zur Schlechterstellung der Arbeitnehmer, überhaupt auf einen Gleichheitsverstoß berufen kann, denn selbst wenn dies in Betracht käme, ist die getroffene Regelung nicht gleichheitswidrig. Soweit die Beklagte einen Verstoß darin sieht, daß die ungelernte Einzelhandelskraft, die drei Jahre an einer Kasse zubringt, nach drei Jahren in Beschäftigungsgruppe III GTV eingruppiert sei, während die gelernte Verkäuferin ggf. nach Gehaltsgruppe II zu vergüten sei, so ist dieser Vergleich nicht nachvollziehbar. Im Streitfall kommt es nämlich nur auf eine Tätigkeit in einem Verbrauchermarkt an. Wenn die Tarifvertragsparteien die Kassierertätigkeit, also die Verantwortung für den Kassiervorgang als finanzielle Transaktion, in einem Verbrauchermarkt höher als die reine Verkäufertätigkeit in einem Verbrauchermarkt bewerten, so liegt dies im Rahmen der tariflichen Regelungsfreiheit und ist nicht willkürlich. Genausowenig ist es willkürlich, Kassierertätigkeit in größeren Verkaufseinheiten mit wesentlich verdichteteren Arbeitsvorgängen und hohem Publikumsverkehr höher zu bewerten als Kassierertätigkeit in kleineren Einzelhandelsgeschäften.

    Dem Bundesarbeitsgericht ist es auch verwehrt, die tariflich geregelte Eingruppierung der Klägerin im Hinblick auf die von der Beklagten eingewandte “soziale Ungerechtigkeit” unbeachtet zu lassen. Tarifverträge gelten wie Gesetzesrecht nach § 4 Abs. 1 TVG “zwingend”, eine Überprüfung der Billigkeit und Angemessenheit tariflicher Tätigkeitsbewertungen scheidet deshalb und im Hinblick auf die durch Art. 9 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich geschützte Tarifautonomie aus.

    d) Auf die Frage, ob die Klägerin Tätigkeiten durchführt, die selbständig im Rahmen allgemeiner Anweisungen ausgeübt werden oder ob es sich bei ihren Aufgaben um gehobene Kassierertätigkeit handelt, kommt es nicht an.

    aa) Es entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, daß bei Vergütungsgruppen, in denen allgemein gefaßten Tätigkeitsmerkmalen konkrete Beispiele beigefügt sind, die Erfordernisse der Tätigkeitsmerkmale regelmäßig dann erfüllt sind, wenn der Arbeitnehmer eine den Beispielen entsprechende Tätigkeit ausübt (zB BAG 7. Juli 1999 – 10 AZR 725/98 –). Das hat seinen Grund darin, daß die Tarifvertragsparteien selbst im Rahmen ihrer rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten gewisse häufig vorkommende und typische Aufgaben einer bestimmten Vergütungsgruppe fest zuordnen können (BAG 10. März 1999 – 4 AZR 246/98 –). Soweit die Beklagte meint, ein Rückgriff auf die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale oder eine Abgrenzung zwischen einfacher und gehobener Kassierertätigkeit sei erforderlich, so ist ihr zwar zuzugeben, daß allgemein Tätigkeitsbeispiele, die ihrerseits unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten, im Lichte der Oberbegriffe auszulegen sind. Bei dem Tätigkeitsbeispiel “Kassierer/in in einem Verbrauchermarkt” handelt es sich aber ebenso wie bei Kassiertätigkeit an Etagen-, Bereichs-, Regional- und Sammelkassen nicht um ein unbestimmtes Regelbeispiel. Denn die Tätigkeit in einem Verbrauchermarkt sehen die Tarifvertragsparteien selbst typisierend als “gehobene Tätigkeit” an. Es handelt sich insoweit um ein Beispiel innerhalb eines Regelbeispiels. Unbestimmt wird die Tätigkeit an Verbrauchermarktkassen auch nicht wegen des Nachsatzes “und sonstigen SB-Kassen”. Bei einer Kassierertätigkeit an sonstigen SB-Kassen mag zwar wegen der Verwendung desselben Begriffs in Beschäftigungsgruppe II ein Rückgriff auf die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale bzw. eine Abgrenzung nach einfacher und gehobener Kassierertätigkeit erforderlich sein, die Tätigkeit des/r Kassierer/in in Verbrauchermärkten als Unterfall der Kassierertätigkeit an SB-Kassen wurde dagegen speziell und abschließend geregelt. Das Tätigkeitsmerkmal “an sonstigen SB-Kassen” läuft entgegen der Ansicht der Beklagten infolge dieser Auslegung auch nicht leer, denn es verbleiben immer noch Kassierertätigkeiten an SB-Kassen in Nichtverbrauchermärkten, zB mit einer Verkaufsfläche von unter 1.000 qm.

    bb) Die Anwendung der in § 11 MTV aufgestellten Eingruppierungsgrundsätze führt zu keinem anderen Ergebnis, denn diese stimmen mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen bei der Auslegung der Eingruppierungsregelungen überein (so bereits BAG 9. Dezember 1987 – 4 AZR 461/87 –; 8. Februar 1984 – 4 AZR 158/83 – BAGE 45, 121 = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 134; 8. Februar 1984 – 4 AZR 407/83 – zur gleichlautenden Formulierung im MTV für die Angestellten und gewerblichen Arbeitnehmer des Einzelhandels in Baden-Württemberg vom 1. April 1980). Soweit gemäß dessen Ziff. 2 die jeder Gruppe vorangestellten Tätigkeitsmerkmale maßgebend sind, die bei den Beschäftigungsgruppen aufgeführten Beispiele demgegenüber weder erschöpfend noch für jeden Betrieb zutreffend sind, ist lediglich geregelt, daß die Nichtzugehörigkeit eines Arbeitnehmers zu einem Tätigkeitsbeispiel nicht seine Eingruppierung in die betreffende Gruppe hindert. Nicht jedoch kann der Umkehrschluß gezogen werden, daß die von den Tarifvertragsparteien selbst aufgestellten Tätigkeitsbeispiele nicht maßgeblich sein sollen: In diesem Falle wäre nicht ersichtlich, welchen Regelungsgehalt die Tätigkeitsbeispiele haben sollen. Es ist jedoch nicht anzunehmen, daß die Tarifvertragsparteien eine sinnlose, unpraktikable Regelung getroffen haben (vgl. BAG 16. Mai 1995 – 3 AZR 395/94 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Papierindustrie Nr. 10 = EzA TVG § 1 Auslegung Nr. 29). Auch eine dahingehende Tarifübung, die Tätigkeitsbeispiele bei der Einreihung unberücksichtigt zu lassen, wird von der Beklagten nicht vorgetragen. Sie hält im Gegenteil die von den Vorinstanzen geäußerte Auffassung für zutreffend, nach der die allgemeinen Tätigkeitsmerkmale bei Erfüllung eines Tätigkeitsbeispiels nicht mehr zu prüfen sind.

    e) Die tariflichen Ausschlußfristen sind gewahrt. Die Klägerin hat die vorliegend streitige Eingruppierung und die Zahlung der entsprechenden Differenzvergütung ab dem Monat Oktober 1998 im Dezember 1998 schriftlich geltend gemacht und damit die für den Entgeltanspruch geltende dreimonatige Ausschlußfrist gemäß §§ 11 Ziff. 8, 26 Ziff. 2 MTV eingehalten.

  • Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 ZPO.
 

Unterschriften

Hauck, Dr. Wittek, Laux, Lorenz, Volz

 

Fundstellen

Haufe-Index 966795

DB 2004, 935

ARST 2004, 68

NZA 2003, 992

NJOZ 2003, 2268

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