Entscheidungsstichwort (Thema)

Mittelbare Frauendiskriminierung

 

Normenkette

EWGVtr Art. 119, 177; GG Art. 3; LFZG § 1 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 Nr. 2; ZPO §§ 291, 293

 

Verfahrensgang

LAG Niedersachsen (Urteil vom 05.03.1991; Aktenzeichen 13 Sa 1414/90)

ArbG Oldenburg (Oldenburg) (Urteil vom 03.05.1990; Aktenzeichen 3 Ca 27/90)

 

Tenor

1. Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 5. März 1991 – 13 Sa 1414/90 – wird zurückgewiesen.

2. Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle schuldet.

Die am 13. März 1939 geborene Klägerin ist bei der Beklagten, einem Reinigungsunternehmen, als Gebäudereinigerin beschäftigt. Ihre regelmäßige wöchentliche Arbeitszeit beträgt zehn Stunden bei einem Stundenlohn von 9,20 DM netto. Die Klägerin war vom 23. Oktober bis zum 3. November 1989 arbeitsunfähig erkrankt. Mit ihrer Klage verlangt sie für diesen Zeitraum Lohnfortzahlung in der rechnerisch unstreitigen Höhe von 185,60 DM netto.

Die Klägerin hat geltend gemacht, § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG stehe ihrem Anspruch nicht entgegen. Diese Bestimmung verstoße gegen Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag und sei daher im Streitfalle nicht anzuwenden.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie 185,60 DM netto nebst 4 v. H. Zinsen seit dem 22. Januar 1990 zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat vorgetragen: Die Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG sei objektiv gerechtfertigt. Der Ausschluß geringfügig Beschäftigter aus der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle diene einem notwendigen Ziel staatlicher Sozialpolitik und sei zur Erreichung dieses Zieles geeignet und erforderlich. Zu den geringfügig Beschäftigten im Sinne der Ausnahmevorschrift gehörten insbesondere Frauen, die über ihren Ehemann gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 5 SGB V in der Familienkrankenhilfe mitversichert seien. Sie seien damit durch das Arbeitsverhältnis des Ehemannes finanziell ausreichend abgesichert. Weiter brauchten die geringfügig Beschäftigten keine Sozialversicherungsbeiträge zu leisten. Schließlich müsse berücksichtigt werden, daß § 40 a EStG bei geringfügig Beschäftigten einen Verzicht auf den Lohnsteuerabzug vorsehe und dem Arbeitgeber ermögliche, einen pauschalen Steuersatz abzuführen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die Revision, mit der die Beklagte ihr Ziel der Klageabweisung weiterverfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Der Klägerin steht die verlangte Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 LFZG zu. Ihr Anspruch wird durch § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG nicht ausgeschlossen.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG dürfe trotz Vorliegens seiner Voraussetzungen im Falle der Klägerin nicht angewandt werden, da diese Bestimmung mit dem Lohngleichheitsgebot des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag unvereinbar sei. Der Ausschluß geringfügig beschäftigter Arbeiter von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle stelle eine mittelbare Diskriminierung weiblicher Arbeitnehmer dar, da hiervon weitaus mehr Frauen als Männer betroffen würden. Diese mittelbare Diskriminierung sei auch nicht durch objektive Gründe gerechtfertigt. So könne der Ausschluß geringfügig Beschäftigter von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle nicht damit begründet werden, ihr Einkommen diene nicht der Existenzsicherung. Häufig handele es sich vielmehr um einen für das Auskommen der Familie notwendigen oder sogar unverzichtbaren Zusatzerwerb. Auch der Umstand, daß geringfügig Beschäftigte nicht sozialversicherungspflichtig sind und daß ihr Lohn vom Arbeitgeber pauschal versteuert werden darf, rechtfertige ihren Ausschluß von der Lohnfortzahlung nicht. Die Pauschalversteuerung bringe dem Arbeitnehmer keinen Vorteil. Der Sozialversicherungsfreiheit stünden durch das Fehlen von Kranken- und Arbeitslosenversicherung sogar erhebliche Nachteile gegenüber.

II. Die gegen diese Begründung gerichteten Angriffe der Revision bleiben ohne Erfolg. Dem Landesarbeitsgericht ist darin beizupflichten, daß der Lohnfortzahlungsanspruch der Klägerin trotz deren Beschäftigungsumfangs von nur wöchentlich zehn Stunden nicht durch § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG ausgeschlossen ist, weil diese Bestimmung eine mittelbare Diskriminierung von Frauen bedeutet und infolgedessen wegen Verstoßes gegen das Lohngleichheitsgebot des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag vorliegend nicht angewandt werden darf.

1. Dem Landesarbeitsgericht ist zunächst darin zu folgen, daß eine Vorlage der hier entscheidenden Rechtsfrage an den Europäischen Gerichtshof nicht erforderlich ist. Allerdings haben gemäß Art. 177 Abs. 2 EWG-Vertrag die nicht letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten das Recht und gemäß Art. 177 Abs. 3 EWG-Vertrag die letztinstanzlichen Gerichte die Pflicht, den Europäischen Gerichtshof anzurufen, wenn eine entscheidungserhebliche Norm des Gemeinschaftsrechts auslegungsbedürftig ist. Eine Pflicht zur Vorlage entfällt aber dann, wenn die gleiche Rechtsfrage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (EuGH Urteil vom 6. Oktober 1982 – Rs 283/81 – AP Nr. 11 zu Art. 177 EWG-Vertrag; vgl. auch Dauses, Das Vorabentscheidungsverfahren nach Artikel 177 EWG-Vertrag, 1985, S. 104). Eine Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs hat unmittelbare Bindungswirkung zwar nur für das Ausgangsverfahren, in welchem sie durch Vorlagebeschluß des damit befaßten nationalen Gerichts ergangen ist. Wenn das erkennende Gericht bei seiner Entscheidung jedoch eine vom Europäischen Gerichtshof bereits geklärte Interpretation zugrunde legen will, ist dem Gebot der einheitlichen Anwendung von Gemeinschaftsrecht auch ohne erneute Vorlage Rechnung getragen (vgl. Grabitz, Kommentar zum EWG-Vertrag, Art. 177, Anm. 71). Die Entscheidung darüber, ob eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts auslegungsbedürftig ist, trifft allein das innerstaatliche Gericht. Dieses ist daher auch befugt, eine vom Europäischen Gerichtshof bereits entschiedene Rechtsfrage als geklärt und damit nicht mehr vorlagebedürftig anzusehen.

Die Frage der Vereinbarkeit des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG mit Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag war bereits Gegenstand einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, so daß es einer erneuten Vorlage nicht mehr bedarf. Der Europäische Gerichtshof hat mit Urteil vom 13. Juli 1989 (– Rs 171/88 – AP Nr. 16 zu Art. 119 EWG-Vertrag) entschieden, Art. 119 EWG-Vertrag sei dahin auszulegen, daß er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es den Arbeitgebern gestattet, von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle diejenigen Arbeitnehmer auszunehmen, deren regelmäßige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, der Mitgliedstaat läge dar, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt sei.

2. Diese Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof hat das Landesarbeitsgericht seiner Entscheidung zutreffend zugrunde gelegt.

a) Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag verpflichtet die Mitgliedstaaten, den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anzuwenden und zu gewährleisten. Dieser Grundsatz wird in der Richtlinie 75/117/EWG vom 10. Februar 1975 (Abl. Nr. L 45, 19) noch weiter konkretisiert. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs entfaltet dieser Grundsatz der Lohngleichheit unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten, wenn allein anhand der in der Vorschrift des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag verwendeten Merkmale „gleiche Arbeit” und „gleiches Entgelt” festgestellt werden kann, daß eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vorliegt, ohne daß gemeinschaftliche oder nationale Maßnahmen zur Bestimmung dieser Kriterien erforderlich sind. Insoweit kann sich der betroffene Arbeitnehmer vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag berufen (vgl. EuGHE 1976, 455 = NJW 1976, 2068; EuGHE 1980, 1275 = NJW 1980, 2014; EuGH Urteil vom 11. März 1981 – Rs 69/80 – NJW 1981, 2637; EuGH Urteil vom 31. März 1981 – Rs 96/80 – AP Nr. 2 zu Art. 119 EWG-Vertrag; vgl. auch BAG Urteil vom 14. Oktober 1986, BAGE 53, 161 = AP Nr. 11 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG Urteil vom 14. September 1988 – 4 AZR 351/88 – AP Nr. 24 zu § 23 a BAT; BAG Urteil vom 23. Januar 1990 – 3 AZR 58/88 – DB 1990, 1620; vgl. auch Dauses, a.a.O., S. 9; Schaub, NZA 1984, 73, 74).

b) Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ist Entgelt im Sinne des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag. Unter Entgelt sind nach der Legaldefinition des Art. 119 EWG-Vertrag alle Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer aufgrund des Dienstverhältnisses unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Der Europäische Gerichtshof hat deshalb im Urteil vom 13. Juli 1989 (– RS 171/88 – AP Nr. 16 zu Art. 119 EWG-Vertrag) ausdrücklich den im Krankheitsfalle weiterzuzahlenden Lohn diesem Entgeltbegriff zugeordnet (zu 7 der Gründe).

c) Das Lohngleichheitsgebot des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag verbietet nicht nur solche Diskriminierungen, die sich unmittelbar aus der ausdrücklich nach dem Geschlecht differenzierenden jeweiligen Regelung ergeben. Das Diskriminierungsverbot erstreckt sich vielmehr auch auf solche Regelungen, die zwar geschlechtsneutral formuliert und deshalb auf Frauen und Männer gleichermaßen anzuwenden sind, tatsächlich jedoch aus Gründen, die auf dem Geschlecht oder der Geschlechtsrolle beruhen, wesentlich mehr Frauen als Männer nachteilig betreffen (vgl. EuGH Urteil vom 13. Mai 1986 – Rs 170/84 – AP Nr. 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag; EuGH Urteil vom 31. März 1981 – Rs 96/80 – AP Nr. 2 zu Art. 119 EWG-Vertrag; BAG Urteil vom 14. Oktober 1986, BAGE 53, 161 = AP, a.a.O., mit zustimmender Anm. von Pfarr). Derartige mittelbare Diskriminierungen (vgl. allgemein zu diesem Begriff: Pfarr, NZA 1986, 585) werden ebenfalls von Art. 119 EWG-Vertrag verboten. Eine unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen bedeutet nur dann keine Verletzung des Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag, wenn hierfür objektiv rechtfertigende Gründe bestehen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (EuGH Urteil vom 13. Mai 1986 – RS 170/84 – AP Nr. 10 zu Art. 119 EWG-Vertrag).

3. Vorliegend ist der objektive Tatbestand einer mittelbaren Diskriminierung mit dem Landesarbeitsgericht als erfüllt anzusehen.

a) Durch die gesetzliche Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG wird die Gruppe der geringfügig beschäftigten Arbeiter von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ausgeschlossen. Diese Vorschrift ist zwar geschlechtsneutral formuliert und deshalb unterschiedslos auf Männer und Frauen anzuwenden, in Wirklichkeit aber betrifft der Ausschluß von der Lohnfortzahlung wesentlich mehr Frauen als Männer, wie das Landesarbeitsgericht unter Berufung auf bestimmtes statistisches Quellenmaterial ungerügt festgestellt hat. Daraus – und auch aus anderen statistischen Erkenntnisquellen – ist zu entnehmen, daß der betroffene Frauenanteil über 80 % liegt. So weist die – allgemein zugängliche und daher gemäß § 291 ZPO verwertbare – Mikrozensus-Erhebung von April 1988 aus, daß von 193.000 mit bis zu neun Wochenstunden abhängig Beschäftigten 159.000, d.h. also 82,4 % Frauen sind (Quelle: Hauptergebnisse der Arbeits- und Sozialstatistik 1989, S. 24).

b) Diese nachteiligen Auswirkungen des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG beruhen auf dem Geschlecht bzw. der geschlechtsspezifischen Rolle der Frau. Geringfügige Teilzeitarbeit ist nach wie vor Frauenarbeit, wie die genannten statistischen Erhebungen belegen. Die traditionelle Verteilung der Geschlechtsrollen weist auch heute noch in aller Regel den Frauen die Aufgabenbereiche Erziehung und Haushalt zu. Diese gesellschaftlichen Verhältnisse machen es insbesondere verheirateten Frauen schwer, eine vollberufliche Erwerbstätigkeit mit ihren familiären Belastungen zu vereinbaren. Als Ausweg verbleibt hier häufig nur eine Teilzeitbeschäftigung mit geringer Stundenzahl, da sich wegen der geringen täglichen Arbeitszeit und deren flexibler Lage Erwerbstätigkeit und familiäre Pflichten miteinander in Einklang bringen lassen (vgl. BAG Urteil vom 14. Oktober 1986, BAGE 53, 61 = AP, a.a.O., mit zustimmender Anm. von Pfarr). Die Beweggründe für die Eingehung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse werden weiter auch dadurch deutlich, daß diese Beschäftigungsform ganz überwiegend von verheirateten Frauen genutzt wird. Damit steht aber der hohe Anteil von Frauen an der Gesamtzahl geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer in unmittelbarem Zusammenhang mit der traditionellen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Die bloße Möglichkeit einer umgekehrten Rollenverteilung durch entsprechende Lebensgestaltung der Ehepartner ändert daran nichts. Mag diese Möglichkeit auch nicht mehr unbedingt als nur theoretisch zu bezeichnen sein, wie das Landesarbeitsgericht es annimmt, so könnte sie doch erst dann berücksichtigt werden, wenn sie sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf den Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer auswirkte. Das ist jedoch gegenwärtig nicht der Fall.

4. Geht das Landesarbeitsgericht damit zutreffend von einer mittelbaren Frauendiskriminierung durch § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG aus, so läge nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13. Juli 1989 (– RS 171/88 – AP, a.a.O.) nur dann kein Verstoß gegen Art. 119 EWG-Vertrag vor, wenn der Mitgliedstaat darlegt, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist (insoweit läge ein Rechtfertigungsgrund vor: vgl. BAG Urteil vom 14. Oktober 1906, BAGE 53, 61 = AP, a.a.O.; Pfarr, NZA 1986, 585, 587).

An einer solchen Darlegung fehlt es.

a) Aus den Gesetzgebungsmaterialien zum Lohnfortzahlungsgesetz ergibt sich keine Begründung für die mit der Ausnahmevorschrift des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG verfolgten Ziele des Gesetzgebers. Weder die entsprechenden Entwürfe der Fraktionen von SPD (BT-Drucks. V/3983) und CDU/CSU (BT-Drucks. V/3985) noch der anschließende Bericht des Ausschusses für Arbeit vom 4. Juni 1969 (BT-Drucks. V/4285) enthalten Begründungen für die gewählte Arbeitszeitgrenze. Sachliche Gründe, die die mit dem Ausschluß der Lohnfortzahlungspflicht geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer verbundene mittelbare Diskriminierung rechtfertigen könnten, lassen sich hieraus nicht entnehmen.

b) Entgegen der Auffassung der Revision läßt sich eine Rechtfertigung für den Ausschluß geringfügig beschäftigter Arbeiter von der Lohnfortzahlung auch nicht damit begründen, daß dieser Arbeitnehmerkreis nicht in einem anderen Arbeitnehmern vergleichbaren Maße in den Betrieb eingegliedert und diesem verbunden sei und ihm gegenüber daher die zur Lohnfortzahlung erforderliche Fürsorgepflicht des Arbeitgebers fehle (vgl. Stellungnahme der Bundesregierung vom 9. Januar 1989 in dem Verfahren vor dem EuGH – Rs 171/88 –). Beide Arbeitnehmergruppen unterscheiden sich lediglich durch den Umfang ihrer Arbeitszeit. Im übrigen unterliegen die geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer in gleicher Weise dem Direktionsrecht des Arbeitgebers und bedürfen ebenso dessen Fürsorge. Eine Abhängigkeit der Fürsorgepflicht vom Umfang der Arbeitszeit besteht nicht. So hat auch der Europäische Gerichtshof Erwägungen in dieser Richtung nicht gelten lassen und ausgeführt, hieraus ließen sich keine objektiven Kriterien entnehmen, die außerhalb einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts lägen (Urteil vom 13. Juli 1989 – RS 171/88 – AP, a.a.O., zu 14 der Gründe). Der Bundesregierung ist die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs bekannt. Sie hat sich dazu nicht mehr geäußert. Es bedurfte daher – entgegen der Ansicht der Revision – auch nicht der Einholung einer Stellungnahme, wobei dahinstehen kann, in welcher verfahrensrechtlichen Form dies überhaupt möglich sein könnte.

c) Der Ausschluß geringfügig beschäftigter Frauen von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ist weiter nicht mit einer geringeren Schutzbedürftigkeit dieser Gruppe zu rechtfertigen. Die Revision vertritt hierzu die Auffassung, das Einkommen des geringfügig Beschäftigten könne immer nur einen Zusatzverdienst darstellen, nicht aber der Existenzsicherung einer Familie dienen. Deshalb bestehe kein Bedürfnis für eine Absicherung im Krankheitsfalle und die differenzierende Regelung des Gesetzes sei gerechtfertigt. Diese Argumentation verkennt jedoch die tatsächlichen Gegebenheiten des Arbeitsmarktes. Vielen Arbeitnehmern bleibt als einzige Möglichkeit der Erwerbstätigkeit nur ein Teilzeitarbeitsverhältnis. Solche Arbeitnehmer sind auf diese Art der Beschäftigung zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen und deshalb in gleicher Weise schutzbedürftig wie Vollzeitbeschäftigte. Aber auch bei geringfügig beschäftigten Arbeitnehmern, die anderweitig finanziell abgesichert sind – z.B. durch das Einkommen des Ehepartners oder den Bezug einer Rente –, kann nicht von einer geringeren Schutzbedürftigkeit ausgegangen werden. Allerdings wird in diesen Fällen die mit der geringfügigen Beschäftigung erzielte Vergütung im Regelfall nur einen Zusatzverdienst darstellen. Dennoch ist dieser Zusatzerwerb häufig für das Auskommen der Familie notwendig oder gar unverzichtbar.

Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle nicht vom Grad der Schutzbedürftigkeit des jeweiligen Arbeitnehmers abhängig ist. Das Lohnfortzahlungsgesetz stellt nicht auf die soziale Lage des Arbeitnehmers ab, vielmehr will es dem Arbeitnehmer im Krankheitsfalle für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit dessen bisheriges Einkommen sichern und den Eintritt wirtschaftlicher Nachteile durch die Krankheit verhindern (BAGE 23, 444, 447 – AP Nr. 6 zu § 1 LohnFG).

d) Auch aus der besonderen sozialversicherungsrechtlichen Lage der geringfügig beschäftigten Frauen ergibt sich keine objektive Rechtfertigung ihres Ausschlusses von der Lohnfortzahlung.

Geringfügig Beschäftigte sind gemäß § 7 SGB V nicht krankenversicherungspflichtig. Eine geringfügige Beschäftigung liegt gemäß § 8 Abs. 1 Nr. 1 SGB IV dann vor, wenn sie regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche ausgeübt wird und das Arbeitsentgelt regelmäßig im Monat 1/7 der monatlichen Bezugsgröße im Sinne des § 18 SGB IV (1991: 480,– DM) nicht übersteigt. Darüber hinaus sind geringfügig Beschäftigte auch von der Rentenversicherungspflicht befreit (§ 1228 RVO) und zahlen keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung (§ 169 a Abs. 2 AFG). Sie unterliegen schließlich in steuerrechtlicher Hinsicht der Sonderregelung des § 40 a EStG, wonach der Arbeitgeber eine Pauschallohnsteuer in Höhe von 15 % des Arbeitslohns abführen kann.

Angesichts dieser besonderen Umstände darf aber nicht außer acht, gelassen werden, daß dem Vorteil der Sozialversicherungsfreiheit auch ganz erhebliche sozialversicherungsrechtliche Nachteile gegenüberstehen. Der geringfügig beschäftigte Arbeitnehmer, der keine Sozialversicherungsbeiträge zahlen muß, trägt auf der anderen Seite den Nachteil, daß er die entsprechenden Versicherungsleistungen nicht in Anspruch nehmen kann und demzufolge im Krankheitsfalle keine Leistungen von der Krankenkasse erhält, ganz abgesehen davon, daß er auch keinen Rentenanspruch erwirbt. In Wirklichkeit erweist sich der Ausschluß von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle daher als eine weitere, zusätzliche Benachteiligung geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer.

e) Auch unter Berücksichtigung der historischen Entwicklung des Lohnfortzahlungsrechts läßt sich der Ausschluß geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle nicht rechtfertigen.

Die Gehaltsfortzahlungspflicht des Arbeitgebers im Krankheitsfalle besteht für die Angestellten seit den Notverordnungen des Reichspräsidenten vom 1. Dezember 1930 (RGBl I S. 517, 521) und vom 5. Juni 1931 (RGBl I S. 279, 281). Diese. Regelung sollte die damals notleidenden Krankenkassen während der ersten sechs Wochen einer Krankheit von der Zahlung des Krankengeldes befreien und verlagerte deshalb die Last der Gehaltsfortzahlung auf den Arbeitgeber. Für die Arbeiter wurde die nachhaltige Entlastung der Krankenkassen in den ersten sechs Krankheitswochen erst später – zuletzt durch das Lohnfortzahlungsgesetz vom 27. Juli 1969 – eingeführt. Die Überbürdung der Lohnfortzahlung auf die Arbeitgeber stellte daher ein Mittel der Sozialpolitik dar, das der Gesetzgeber zur Entlastung der Krankenkassen ergriffen hat. Hieraus läßt sich indessen nicht der Schluß ziehen, wenn die Krankenversicherung nicht zur Leistung verpflichtet sei, müsse auch eine Befreiung des Arbeitgebers von der Lohnfortzahlung eingreifen, so daß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG diesem inneren Zusammenhang beider Regelungsbereiche Rechnung trage. Für die Annahme, § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG regele bei geringfügiger Beschäftigung den Ausschluß der Lohnfortzahlungspflicht des Arbeitgebers korrespondierend zur Leistungsfreiheit der Sozialversicherungsträger, ergeben sich weder aus dem Wortlaut noch aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift Anhaltspunkte. Vielmehr spricht sogar gegen einen derartigen Zusammenhang, daß die jeweiligen Regelungen unterschiedliche Bemessungsgrößen voraussetzen. Während in § 8 SGB IV für die Sozialversicherungsfreiheit an eine Arbeitszeitgrenze von 15 Wochenstunden angeknüpft wird, greift der Ausschluß von der Lohnfortzahlung gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG bei einer Grenze von zehn Wochenstunden ein. Eine Abhängigkeit der Lohnfortzahlungsvorschriften von der versicherungsrechtlichen Ausgestaltung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse kann deshalb nicht angenommen werden. Beide Regelungsbereiche sind vielmehr voneinander getrennt.

f) Die fehlende Eignung und Erforderlichkeit der Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG zur Erreichung eines notwendigen sozialpolitischen Ziels wird deutlich, wenn man einen Vergleich anstellt mit den entsprechenden Regelungen für geringfügig beschäftigte Angestellte. Die für Angestellte geltenden Vorschriften der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle (§ 616 BGB, § 63 HGB und § 133 c GewO) enthalten keine dem § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG vergleichbare Einschränkung. Geringfügig beschäftigte Angestellte erhalten in vollem Umfang Entgeltfortzahlung im Krankheitsfalle. Demgegenüber heben die dargestellten sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften nicht auf eine Unterscheidung zwischen Arbeitern und Angestellten ab, sondern lediglich auf den Tatbestand der geringfügigen Beschäftigung. Sie sind deshalb für geringfügig beschäftigte Angestellte in gleichem Maße anwendbar wie für geringfügig beschäftigte Arbeiter. Obwohl also weder im Hinblick auf die soziale Schutzbedürftigkeit noch wegen der sozialversicherungsrechtlichen Behandlung oder des Umfangs von Betriebsbindung und Fürsorgepflicht eine Differenzierung zwischen Angestellten und Arbeitern getroffen werden kann, hat der Gesetzgeber hinsichtlich der Entgeltfortzahlung bei Angestellten eine dem § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG entsprechende Regelung nicht eingeführt. Auch aus diesem Grund kann der Ausschluß der Lohnfortzahlung für geringfügig beschäftigte Frauen gemäß § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG keine zur Erreichung eines sozialpolitischen Ziels erforderliche Regelung sein (vgl. Wissmann, DB 1989, 1922, 1924; Plagemann, EWiR 1990, 181, 182).

g) Soweit schließlich die Revision auf den Aspekt der Erstattung von Lohnfortzahlungskosten durch die Krankenkassen gemäß §§ 10 ff. LFZG verweist, kann sich auch hieraus keine objektive Rechtfertigung der Regelung des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG ergeben. Diese Argumentation verkennt, daß der Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen gemäß § 10 LFZG an die Fortzahlung des Arbeitsentgelts im Krankheitsfalle anknüpft und damit nur eine Rechtsfolge der Lohnfortzahlung darstellt. Sie kann aus diesem Grunde nicht zur Rechtfertigung einer die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle gerade ausschließenden Regelung herangezogen werden.

5. Der Verstoß des § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG gegen Art. 119 EWG-Vertrag hat zur Folge, daß diese Vorschrift im Streitfall nicht angewandt werden darf. Aufgrund der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten führt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts dazu, daß die nationalen Gerichte im Rahmen der bei ihnen anhängigen Verfahren entgegenstehendes innerstaatliches Recht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen haben, ohne daß sie dessen Aufhebung durch den Gesetzgeber oder durch ein Verfassungsgericht abwarten müssen (vgl. EuGHE 1978, 629, 630; EuGH Urteil vom 7. Februar 1991 – Rs 184/89 –; vgl. auch Arbeitsgericht Oldenburg, Vorlagebeschluß vom 5. Mai 1988, NZA 1988, 697, 698; Wissmann, DB 1989, 1922, 1924).

Dem steht nicht entgegen, daß nach Art. 100 GG die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nur vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden kann. Vorliegend geht es um die Frage der Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit unmittelbar anwendbarem europäischem Gemeinschaftsrecht. In derartigen Fällen können die Gerichte über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Art. 119 EWG-Vertrag gemäß der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs selbst entscheiden.

6. Offenbleiben kann, ob § 1 Abs. 3 Nr. 2 LFZG deshalb mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, weil nur für geringfügig beschäftigte Arbeiter der Lohnfortzahlungsanspruch ausgeschlossen wird, nicht aber für entsprechende Angestellte (vgl. Vorlagebeschluß des Senats vom 5. August 1987, BAGE 54, 374 = AP Nr. 72 zu § 1 LohnFG). Einer Vorlage an das Bundesverfassungsgericht bedarf es nicht, weil der Rechtsstreit im Hinblick auf den Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht bereits entscheidungsreif ist.

 

Unterschriften

Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Olderog, Dr. Kalb, Kahler

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1065140

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