Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankheitsbedingte Kündigung

 

Leitsatz (redaktionell)

Hinweise des Senats:

Anschluß an Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. April 1993 – Gms-OGB 1/92 – (ZIP 1993, 1341) unter Aufgabe der Senatsrechtsprechung in den Urteilen vom 20. September 1984 – 2 AZR 73/83 – AP Nr. 1 zu § 28 BGB und vom 30. April 1992 – 2 AZR 548/91 – nicht veröffentlicht.

 

Normenkette

ZPO § 551 Nr. 7, § 552; RechtsprechungseinheitsG § 2 Abs. 1, § 1b

 

Verfahrensgang

LAG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 27.10.1992; Aktenzeichen 7 Sa 348/92)

ArbG Mainz (Urteil vom 29.01.1992; Aktenzeichen 4 Ca 1721/91)

 

Tenor

1. Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. Oktober 1992 – 7 Sa 348/92 – aufgehoben, soweit es die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Mainz vom 29. Januar 1992 – 4 Ca 1727/91 – zurückgewiesen hat.

2. Der Rechtsstreit wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Der Kläger ist staatlich geprüfter Krankenpfleger. Er trat im Juli 1964 in den Dienst des Landes Rheinland-Pfalz ein, das ihn im damaligen Landesalters- und Pflegeheim in H einsetzte. Dort wurde er ab 1. Oktober 1970 als leitender Krankenpfleger mit Bezahlung nach Vergütungsgruppe KR VIII BAT tätig. Das Land Rheinland-Pfalz übertrug das Heim mit Vertrag vom 20. Juli 1984 auf die Beklagte, die mit Wirkung vom 1. August 1984 u. a. den Kläger übernahm. Für das Arbeitsverhältnis gilt der BAT nach wie vor kraft Vereinbarung. Der Kläger ist schwerbehindert (GdB 100 %). Zur Anerkennung als Schwerbehinderter führten zwei Grunderkrankungen des Klägers: morbus Bechterew und Zustand nach Herzinfarkt (1980).

In den Jahren 1985 bis 5. Oktober 1988 hat der Kläger bei der Beklagten nicht gearbeitet. In einem vor dem Arbeitsgericht Mainz (Az 4 Ca 986/88) geschlossenen Vergleich ist geregelt, daß der Kläger am 6. Oktober 1988 die Arbeit in der Werkstatt für Behinderte in H aufnehme; im übrigen bleibe der bisherige Arbeitsvertrag unberührt; die Beklagte werde dafür sorgen, daß im Grundsatz ein Gruppenleiter in der Werkstatt anwesend sei, um im Notfall Hilfestellung zu leisten; der Kläger erhalte die bisherige Vergütung rückwirkend ab 1. Mai 1988.

Der Kläger war – die näheren Daten ergeben sich aus Bescheinigungen der BEK und der Hausärztin des Klägers – in den nachfolgenden Jahren wie folgt arbeitsunfähig erkrankt: 1988 14 Arbeitstage 1989 199 Arbeitstage 1990 77 Arbeitstage 1991 93 Arbeitstage

Im Juni 1990 beantragte die Beklagte bei der zuständigen Hauptfürsorgestelle Mainz die Zustimmung zu einer beabsichtigten Kündigung des Klägers.

Am 31. Juli 1990 wurde der Kläger auf Veranlassung der Beklagten (§ 7 Abs. 2 BAT) amtsärztlich untersucht. In einem Schreiben des Amtsarztes an die Beklagte vom 22. Oktober 1990 heißt es, der Kläger habe zugesagte Unterlagen bisher nicht übersandt; die bei der Untersuchung gewonnenen Daten reichten nicht aus, um eine genaue Prognose für seinen zukünftigen Gesundheitszustand zu stellen; bei allgemeiner Betrachtungsweise sei mit einer deutlichen Besserung wahrscheinlich nicht zu rechnen. Nach zunächst ablehnendem Bescheid der Hauptfürsorgestelle erteilte auf den Widerspruch der Beklagten der Widerspruchsausschuß beim Landesamt für Jugend und Soziales Rheinland-Pfalz, Hauptfürsorgestelle Mainz, mit Bescheid vom 16. September 1991 die Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung des Klägers. Dieser Bescheid wurde der Beklagten am 24. September 1991 zugestellt. Zuvor war den Parteien am 11. September 1991 mündlich die Entscheidung des Widerspruchsausschusses mitgeteilt worden. Daraufhin kündigte die Beklagte (erstmals) mit Schreiben vom 13. September 1991, dem Kläger am 17. September 1991 zugegangen, das Arbeitsverhältnis außerordentlich zum 31. März 1992 auf. Mit Schreiben vom 25. September 1991, dem Kläger am 1. Oktober 1991 zugegangen, kündigte die Beklagte erneut außerordentlich zum 31. März 1992; diese Kündigung soll nach dem (verspäteten) Zugang am 1. Oktober 1991 nach dem Willen der Beklagten zum 30. Juni 1992 gelten. Die Beklagte hat den Kläger bis zum 30. Juni 1992 weiter beschäftigt und vergütet. Der Kläger hat gegen den Widerspruchsbescheid Klage zum Verwaltungsgericht Koblenz erhoben; der Rechtstreit ist derzeit beim OVG Rheinland-Pfalz anhängig.

Die Rechte der Schwerbehindertenvertretung werden bei der Beklagten aufgrund der betrieblichen Mitarbeitervertretungsordnung von der Mitarbeitervertretung ausgeübt. Diese wurde bei der beabsichtigten Kündigung des Klägers beteiligt.

Der Kläger hat geltend gemacht, die erste Kündigung sei schon deshalb unwirksam, weil sie vor förmlicher Zustellung des Bescheides des Widerspruchsausschusses ausgesprochen worden sei. Hierüber herrscht – nach Rücknahme der Anschlußrevision der Beklagten – unter den Parteien auch kein Streit mehr. Für die zweite Kündigung, die allenfalls zum 30. Juni 1992 wirksam werden könne, fehle es am wichtigen Grund. Eine negative Zukunftsprognose bestehe nicht, denn die beiden Grunderkrankungen, auf denen seine Arbeitsunfähigkeitszeiten beruhten, würden künftig nicht zu häufigen und länger dauernden Ausfallzeiten führen. Er habe auch nicht geäußert, künftig nicht mehr arbeiten zu können; dem stehe auch nicht entgegen, daß er Rentenantrag gestellt und den ablehnenden Bescheid erfolglos angefochten habe. Wenn sich die Beklagte hierauf berufe, verstoße sie gegen § 242 BGB, da sein Antrag im Zuge von Verhandlungen über die einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses gestellt worden sei. Auch habe er die Begutachtung durch einen Amtsarzt nicht behindert, nachdem dieser ihn um einen Nachweis gebeten habe, daß er, der Kläger, einen Herzinfarkt durchgestanden habe und an morbus Bechterew leide. Eine Beeinträchtigung des Betriebsablaufs liege schon deshalb nicht vor, weil er bei Fehlen am Arbeitsplatz nicht vertreten worden sei. Die Kostenbelastung könne nicht an der gewährten Lohnfortzahlung gemessen werden, weil er nach dem Arbeitsvertrag Anspruch auf Fortzahlung des Entgelts bis zum Ende der 26. Woche nach Beginn der Arbeitsunfähigkeit habe.

Der Kläger hat in der Revisionsinstanz zuletzt noch beantragt

festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis der Parteien durch die außerordentliche Kündigung der Beklagten vom 25. September 1991 nicht aufgelöst worden sei.

Die Beklagte hat mit ihrem Klageabweisungsantrag geltend gemacht, die Krankheitszeiten des Klägers überstiegen jedes vertretbare Maß. Sie habe an den Kläger seit Oktober 1988 bis Juni 1992 – insoweit unstreitig – 92.568,33 DM an Krankenbezügen bezahlt. Beim Arbeitsgericht sei auch klargestellt worden, daß der Kläger niemals länger als 6 Monate krank gewesen sei, so daß stets Lohnfortzahlung durch sie zu leisten gewesen wäre. Der Arbeitsplatz sei gerade wegen der reduzierten Leistungsfähigkeit des Klägers geschaffen worden, wobei sich in der Folgezeit jedoch gezeigt habe, daß der Kläger auch an diesem Arbeitsplatz nur sporadisch zur Verfügung stehe. Das Arbeitsverhältnis sei jedenfalls aufgrund der zweiten Kündigung wirksam beendet worden.

Das Arbeitsgericht hat festgestellt, daß das Arbeitsverhältnis durch die erste Kündigung der Beklagten vom 13. September 1991 nicht aufgelöst werde, die weitergehende Klage hat es dagegen abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung beider Parteien zurückgewiesen. Das am 27. Oktober 1992 verkündete Urteil des Landesarbeitsgerichts ist ausweislich eines Vermerks seiner Geschäftsstelle vom 13. September 1993 erst am 7. Mai 1993 von allen Richtern unterschrieben zur Geschäftsstelle gelangt. Die Zustellung des Urteils an beide Parteien ist am 10. Mai 1993 erfolgt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet; sie führt zur teilweisen Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung (§ 565 Abs. 2 ZPO).

Der Kläger rügt mit seiner Revision, das Berufungsurteil sei ihm nicht vor dem 10. Mai 1993 und damit erst 6 Monate und 2 Wochen nach seiner Verkündung zugestellt worden; es könne im Hinblick auf seine Versendung am 7. Mai 1990 nicht innerhalb der 5 Monatsfrist – gemeint ist offensichtlich die Frist des § 552 ZPO – zur Geschäftsstelle gelangt sein. Damit sei das Urteil so zu behandeln, als wenn es nicht mit Gründen versehen sei, § 551 Nr. 7 ZPO.

1. Nach der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAGE 38, 55, 57 – 59 = AP Nr. 1 zu § 68 ArbGG 1979; Urteil vom 15. August 1984 – 7 AZR 228/82 – AP Nr. 8 zu § 1 KSchG 1969, zu I der Gründe; BAGE 44, 329 = AP Nr. 82 zu §§ 22, 23 BAT 1975; Senatsurteile vom 20. September 1984 – 2 AZR 73/83 – AP Nr. 1 zu § 28 BGB, zu A der Gründe und vom 30. April 1992 – 2 AZR 548/91 – nicht veröffentlicht) ist ein Urteil erst dann als nicht mit Gründen versehen zu betrachten, wenn zwischen seiner Verkündung und der Zustellung mehr als 1 Jahr liegt; ist die Zeit kürzer, liegt allenfalls dann ein absoluter Revisionsgrund vor, wenn sich aus besonderen Umständen ergibt, daß die Entscheidungsgründe nicht das eigentliche Beratungsergebnis wiedergeben. In der zuletzt genannten Entscheidung vom 30. April 1992 hat der Senat noch ausdrücklich an dieser Rechtsprechung festgehalten.

2. Mit Beschluß vom 27. April 1993 – GmS-OGB 1/92 – (ZIP 1993, 1341) hat der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes entschieden, ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil sei im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO als nicht mit Gründen versehen anzusehen, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen 5 Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden seien.

Der Senat ist zwar an die Entscheidung des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe gemäß § 16 Rechtsprechungseinheitsgesetz nicht gebunden, da er nicht „erkennendes Gericht” im Sinne dieser Vorschrift ist. Er müßte jedoch gemäß § 2 Abs. 1 Rechtsprechungseinheitsgesetz die gleiche Rechtsfrage erneut dem Gemeinsamen Senat zur Entscheidung vorlegen, wenn er von dem Beschluß des Gemeinsamen Senats abweichen will. Dies erscheint nicht angezeigt, da der Gemeinsame Senat seine Entscheidung auch im Hinblick auf die Besonderheiten des arbeitsgerichtlichen Verfahrens (§ 9 Abs. 5 Satz 3 ArbGG), wonach die Einlegung eines Rechtsmittels innerhalb 1 Jahres nach Zustellung der Entscheidung zulässig ist, begründet hat (ab Seite 12 f. des Beschlusses). Auch der Vierte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat durch Urteil vom 4. August 1993 (– 4 AZR 501/92 – zur Veröffentlichung vorgesehen) seine frühere (entgegenstehende) Rechtsprechung aufgegeben und sich ausdrücklich der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe angeschlossen. Auch der Zweite Senat gibt hiermit seine frühere Rechtsprechung auf.

3. Da das Urteil des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz am 27. Oktober 1992 verkündet worden ist, lief die 5-Monats-Frist des auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren geltenden § 552 ZPO (§ 72 Abs. 5 ArbGG) am 27. März 1993 ab. Ausweislich des Schreibens der Geschäftsstelle des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz ist ihr das Urteil erst am 7. Mai 1993 von den ehrenamtlichen Richtern unterschrieben und damit bis dahin noch nicht von allen Richtern unterzeichnet zugeleitet worden. In § 69 ArbGG ist geregelt, daß das Urteil nebst Tatbestand und Entscheidungsgründen von sämtlichen Mitgliedern der Kammer zu unterschreiben ist. Durch die Bezugnahme in § 69 Abs. 1 Satz 2 ArbGG auf § 60 Abs. 4 ArbGG ist ferner bestimmt, könne ein Urteil nicht vor Ablauf von drei Wochen seit der Verkündung vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle übergeben werden, dann sei ausnahmsweise das unterschriebene Urteil ohne Tatbestand und Entscheidungsgründe der Geschäftsstelle zu übergeben und in diesem Fall seien Tatbestand und Entscheidungsgründe alsbald nachträglich anzufertigen und vom Vorsitzenden – im Falle des § 69 ArbGG von sämtlichen Mitgliedern der Kammer – zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übergeben. Da dies nicht geschehen und alsdann auch die 5-Monats-Frist des § 552 ZPO verstrichen ist, ohne daß das Urteil zur Geschäftsstelle gelangt ist, greift die Revisionsrüge des Klägers durch, das Urteil sei wie ein solches ohne Gründe zu behandeln, § 551 Nr. 7 ZPO. Dies führt in Anwendung der Rechtsprechung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe ohne weiteres zur Aufhebung und Zurückverweisung, wie der Gemeinsame Senat am Ende seines Beschlusses ausdrücklich festgehalten hat.

Eine Stellungnahme des Senats zu weiteren Revisionsrügen – wie von der Revision angestrebt – ist nicht nur überflüssig, sondern verfehlt: Es würde sich dabei um rechtlich unerhebliche Ausführungen (orbiter dictum) handeln, an die das Landesarbeitsgericht ohnehin nicht gebunden wäre.

 

Unterschriften

Hillebrecht, Bitter, Bröhl, Engel, Mauer

 

Fundstellen

Dokument-Index HI916008

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