Entscheidungsstichwort (Thema)

Wortgleiche Regelungen in Parallel-Tarifverträgen. Ausschluß des tarifvertraglichen Anspruchs auf Arbeitgeberzuschuß zum Unterhaltsgeld nach § 44 AFG bei Vorliegen eines Sozialplans

 

Leitsatz (amtlich)

  • Stimmt ein Tarifvertrag, dessen Geltungsbereich auf den Bezirk eines Landesarbeitsgerichts beschränkt ist, in einem Regelungsbereich (hier: Zuschüsse des Arbeitgebers zu Unterhalts- und Kurzarbeitergeld) mit mindestens einem in einem anderen Landesarbeitsgerichtsbezirk geltenden Tarifvertrag wörtlich überein und weisen beide Tarifverträge auch im übrigen keine für eine Auslegung unter Berücksichtigung des jeweiligen Regelungszusammenhangs erheblichen Unterschiede auf, so sind diese Tarifverträge für die Anwendung von § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG jeweils einem über den Bezirk eines Landesarbeitsgerichts hinaus geltenden Tarifvertrag gleich zu achten.
  • Grundsätzliche Bedeutung i.S.v. § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG kann auch ein um die Auslegung eines außer Kraft getretenen Tarifvertrages geführter Rechtsstreit haben. Hierfür kommt es darauf an, ob nicht nur in Einzelfällen noch weitere Auseinandersetzungen um die auszulegende Tarifnorm geführt werden oder zu erwarten sind.
  • Die Frist für die Einlegung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision durch das Landesarbeitsgericht wird nicht in Gang gesetzt, wenn das anzufechtende Urteil nicht ordnungsgemäß zugestellt worden ist oder sich seine ordnungsgemäße Zustellung nicht aus den Gerichtsakten nachweisen läßt.
 

Normenkette

ArbGG § 72 Abs. 2 Nr. 1, § 72a Abs. 1 Nr. 2; ArbGG Abs. 2; Tarifvertrag über Kündigungsschutz und Qualifizierung für die sächsische Metall- und Elektroindustrie vom 18. Juli 1990 §§ 4-6; ZPO § 187 Abs. 2, §§ 195, 212, 212a, 270 Abs. 1, § 317

 

Verfahrensgang

Sächsisches LAG (Urteil vom 20.08.1992; Aktenzeichen 1 Sa 115/92 D)

KreisG Dresden (Urteil vom 26.02.1992; Aktenzeichen 12 Ca 876/91)

 

Tenor

Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers wird die Revision gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Chemnitz vom 20. August 1992 – 1 Sa 115/92 – zugelassen.

 

Tatbestand

I. Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger für die Zeit vom 1. Juli 1991 bis zum 31. Januar 1992 Anspruch auf Zuschuß zu dem nach § 44 Abs. 2 AFG bezogenen Unterhaltsgeld hat.

Der Kläger war von Anfang 1987 bis zum 30. Juni 1991 bei der Beklagten als Konstrukteur beschäftigt. Entsprechend einem Sozialplan vom 15. April 1991 hat der Kläger eine Abfindung i.H.v. 2.060,00 DM erhalten. Seit März 1991 nimmt er an einer beruflichen Fortbildungsmaßnahme teil. Er hat die Auffassung vertreten, nach dem am 18. Juli 1990 für die sächsische Metall- und Elektroindustrie abgeschlossenen Tarifvertrag über Kündigungsschutz und Qualifizierung bei Umstrukturierungs- und betriebsorganisatorischen Maßnahmen i.S.d. AFG (TVKQ) habe er gegenüber der Beklagten Anspruch auf Zuschuß zu dem nach § 44 AFG bezogenen Unterhaltsgeld. Diesen Anspruch hat er mit seiner Klage geltend gemacht. Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt, da der Tarifvertrag den Anspruch auf Zuschuß zum Unterhaltsgeld für den Fall ausschließe, daß bereits eine Abfindung aufgrund eines Sozialplans gezahlt worden sei.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich der Kläger mit seiner auf grundsätzliche Bedeutung der Sache und auf die Divergenz zu einem Urteil eines Bezirksgerichts gestützten Nichtzulassungsbeschwerde.

 

Entscheidungsgründe

II. Die form- und fristgemäß eingelegte und begründete Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

1. Die am 5. Januar 1993 beim Bundesarbeitsgericht eingegangene Nichtzulassungsbeschwerde ist rechtzeitig eingelegt worden. Eine ordnungsgemäße Zustellung des anzufechtenden Urteils, welche die für die Einlegung der Nichtzulassungsbeschwerde in § 72a Abs. 2 Satz 1 ArbGG vorgeschriebene Frist in Gang gesetzt hätte, ist nämlich zumindest nicht nachweisbar. Das Urteil bedurfte nach §§ 317, 270 Abs. 1 ZPO der Zustellung von Amts wegen. Diese war entweder nach §§ 212, 195 ZPO zu beurkunden oder nach § 212a ZPO gegen Empfangsbekenntnis vorzunehmen. Den Akten des Berufungsgerichts kann nicht entnommen werden, daß das eine oder das andere geschehen ist. Der in diesen Akten auf der Rückseite des letzten Blatts des Urteils enthaltene Gummistempel “Zustellung obigen Urteils erfolgte von Amts wegen … am 3. Dezember 1992” ist zum Beweis einer ordnungsgemäßen Zustellung schon deshalb nicht geeignet, weil er nicht unterschrieben ist.

Der Zustellungsmangel ist auch nicht geheilt. Zwar gibt der Beschwerdeführer an, daß ihm das Urteil zugegangen sei, allerdings erst am 8. Dezember 1992. Nach § 187 Abs. 2 ZPO kann der tatsächliche Zugang den Mangel einer formgerechten Zustellung oder das Fehlen ihrer Beweisbarkeit nicht heilen, wenn durch die Zustellung eine Notfrist in Gang gesetzt werden soll. Um eine solche handelt es sich aber im Fall des § 72a Abs. 2 Satz 1 ArbGG. Im übrigen wäre diese Frist gewahrt.

2. Der Kläger hat die nach seiner Meinung fehlerhafte Auslegung des TVKQ durch das Landesarbeitsgericht gerügt.

a) Zwar umfaßt der Geltungsbereich des TVKQ nur das Gebiet des Freistaats Sachsen und erstreckt sich damit nicht, wie in § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG gefordert, über den Bereich des Landesarbeitsgerichts Chemnitz hinaus.

Der Auffassung des Klägers, insoweit sei auf die bis zum 30. Juni 1992 in Sachsen bestehenden drei Bezirksgerichte abzustellen, weil Gegenstand des Rechtsstreits Ansprüche aus einem davor liegenden Zeitraum seien, ist nicht zu folgen. Für die Beurteilung der Frage, ob der Geltungsbereich eines Tarifvertrags sich über den Bezirk eines Landesarbeitsgerichts hinaus erstreckt, kommt es vielmehr auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde an. Dies folgt aus dem Zweck der Vorschrift, die der Einheitlichkeit der Rechtsprechung dient und daher die Nichtzulassungsbeschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung auf Streitigkeiten über solche Tarifverträge beschränkt, deren einheitliche Auslegung nur durch das Bundesarbeitsgericht und nicht durch ein Landesarbeitsgericht bewirkt werden kann, weil sie auch außerhalb von dessen Bezirk gelten. Fällt aber durch die Zusammenlegung von Gerichtsbezirken der gesamte Geltungsbereich eines Tarifvertrages in die Zuständigkeit eines einzigen Landesarbeitsgerichts, so besteht keine Notwendigkeit mehr, nach § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG den Weg zum Bundesarbeitsgericht zu eröffnen.

b) Der im vorliegenden Fall entscheidungserhebliche TVKQ ist aber für die Anwendung von § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG einem bezirksübergreifenden Tarifvertrag gleich zu achten. Nach der Rechtsprechung des Senats kommt eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift auf Tarifverträge in Betracht, die zwar nur für den Bezirk eines Landesarbeitsgerichts gelten, aber für bestimmte Regelungsbereiche (z.B. Gehalt, Kündigungsfristen, Urlaub, Gratifikationen) mit den in anderen Landesarbeitsgerichtsbezirken geltenden Tarifverträgen wörtlich übereinstimmen (BAG Beschlüsse vom 15. Oktober 1980 – 4 AZN 269/80 – AP Nr. 10 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz; vom 29. September 1982 – 4 AZN 329/82 – AP Nr. 15 zu § 72a ArbGG 1979; vom 9. Dezember 1987 – 4 AZN 527/87 – n.v.). Unter dieser Voraussetzung kann die Auslegung einer Tarifnorm aus diesem Regelungsbereich nämlich unmittelbare Bedeutung für die Auslegung der entsprechenden Tarifnorm in dem anderen Tarifvertrag gewinnen.

So verhält es sich im vorliegenden Fall. Es ist davon auszugehen, daß eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts über die Voraussetzungen, unter denen nach § 5 Abs. 2 TVKQ wegen Bestehens eines Sozialplans Ansprüche auf Zuschuß zum Unterhaltsgeld entfallen, auch für die Auslegung der außerhalb des Bezirks des Landesarbeitsgerichts Chemnitz geltenden wortgleichen Tarifnormen klärend wirken und damit zur Beilegung von Auseinandersetzungen beitragen wird. Der TVKQ stimmt nämlich in den hier maßgeblichen §§ 4, 5 und 6, die den Zuschuß zum Unterhalts- und Kurzarbeitergeld, den Ausschluß von Doppelbelastungen und die Laufzeit regeln, zumindest mit dem für Berlin-Brandenburg abgeschlossenen Parallel-Tarifvertrag, dessen Geltungsbereich die Bezirke der Landesarbeitsgerichte Berlin und Brandenburg erfaßt, wörtlich überein. Darüber hinaus sind die beiden Tarifverträge auch in ihren sonstigen Bestimmungen, von wenigen hier bedeutungslosen Abweichungen abgesehen, identisch. Insoweit sind daher für die Auslegung der hier maßgeblichen Bestimmungen auch aus dem jeweiligen Gesamtzusammenhang der beiden Tarifverträge keine unterschiedlichen Gesichtspunkte zu erwarten.

Auf die weitgehende Wortgleichheit des TVKQ mit weiteren, in den Bezirken anderer Landesarbeitsgerichte geltenden Parallel-Tarifverträge kommt es danach nicht mehr an. Da es nach § 72a Abs. 1 Nr. 2 ArbGG genügt, wenn der Geltungsbereich des Tarifvertrags den Bezirk eines Landesarbeitsgerichts überschreitet, muß für eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift eine wortgleiche Tarifregelung ausreichen, die zumindest in einem anderen Landesarbeitsgerichtsbezirk als demjenigen des streitgegenständlichen Tarifvertrages gilt.

c) Die Nichtzulassungsbeschwerde genügt auch den nach ständiger Rechtsprechung des Senats (BAGE 32, 203, 208; 228, 232 = AP Nr. 1 und 2 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz) bestehenden Erfordernissen, daß dargelegt wird, welche fallübergreifende, abstrakte Interpretation tariflicher Rechtsbegriffe das Landesarbeitsgericht vorgenommen hat, und daß diese nach Auffassung des Klägers fehlerhaft ist. Der Kläger hat insoweit hinreichend ausgeführt, daß das Landesarbeitsgericht als Regelung über den Ausgleich oder die Milderung wirtschaftlicher Nachteile i.S.v. § 5 TVKQ alle Arten von Leistungen i.S.d. § 112 BetrVG verstanden habe, während nach Auffassung des Klägers § 5 TVKQ nur dann Ansprüche ausschließt, wenn die ihnen zugrundeliegende Tarifbestimmung denselben Gegenstand hat wie eine betriebliche Regelung.

3. Die Rechtssache hat auch grundsätzliche Bedeutung. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist die grundsätzliche Bedeutung immer dann zu bejahen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von einer klärungsfähigen und klärungsbedürftigen Rechtsfrage abhängt und diese Klärung entweder von allgemeiner Bedeutung für die Rechtsordnung ist oder wegen ihrer tatsächlichen Auswirkungen die Interessen der Allgemeinheit oder eines größeren Teils der Allgemeinheit berührt (BAGE 32, 203, 210 = AP Nr. 1 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz; BAG Beschluß vom 18. August 1987 – 1 AZN 260/87 – AP Nr. 33 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz). Dabei kann das Außerkrafttreten eines Tarifvertrages nicht generell die grundsätzliche Bedeutung eines um die Auslegung dieses Tarifvertrags geführten Rechtsstreits ausschließen. Die Bedeutung der in diesem Rechtsstreit ergehenden Entscheidung hängt vielmehr auch davon ab, ob noch weitere Auseinandersetzungen um die auszulegende Tarifnorm geführt werden oder zu erwarten sind (vgl. BSG Urteile vom 25. Januar 1985 – 12 BK 41/84 – Die Beiträge 1985, 126 f.; vom 21. Dezember 1987 – 1 BA 123/87 – n.v.). Hierbei genügt es freilich nicht, wenn diese nur in Einzelfällen in Betracht kommen; vielmehr müssen von der Tarifnorm noch zahlreiche Sachverhalte betroffen sein, die mit dem Sachverhalt des entschiedenen Falles vergleichbar sind (Beschlüsse des Senats vom 23. September 1981 – 4 AZN 346/81 – AP Nr. 20 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz; vom 20. Oktober 1982, BAGE 40, 254, 256 = AP Nr. 24 zu § 72a ArbGG 1979 Grundsatz; vom 10. März 1993 – 4 AZN 517/92 – zur Veröffentlichung vorgesehen).

Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Der Kläger hat unwidersprochen vorgetragen, daß zu den hier maßgeblichen Bestimmungen des TVKQ sowie zu den gleichlautenden Bestimmungen der in anderen Landesarbeitsgerichtsbezirken geltenden Parallel-Tarifverträge eine Vielzahl gleichgelagerter Gerichtsverfahren anhängig seien. Angesichts dessen und der großen Anzahl von Arbeitsverhältnissen, die den auszulegenden Tarifnormen unterlegen haben, kann davon ausgegangen werden, daß die Entscheidung über die Revision für zahlreiche vergleichbare Sachverhalte rechtliche Bedeutung haben wird.

 

Unterschriften

Schaub, Schneider, Dr. Wißmann, Dr. Reinfeld, Hecker

 

Fundstellen

Haufe-Index 845825

BAGE, 4

BB 1993, 1434

NZA 1993, 849

AP, 0

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