Entscheidungsstichwort (Thema)

Auswirkung der Unvereinbarkeit des § 622 Abs 2 BGB mit Art 3 GG

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Wenn streitig ist, zu welchem Zeitpunkt ein Arbeitsverhältnis durch eine ordentliche Kündigung des Arbeitgebers beendet worden ist und diese Entscheidung von der Anwendung der verfassungswidrigen Vorschrift des § 622 Abs 2 BGB oder einer tariflichen Bestimmung abhängt, die ohne eigenständige Regelung § 622 Abs 2 BGB nur deklaratorisch übernommen hat, dann ist der Rechtsstreit bis zur gesetzlichen Neuregelung des § 622 Abs 2 BGB, längstens jedoch bis zum 30. Juni 1993 oder bis zu einer vorherigen normativen tariflichen Neuregelungen auszusetzen (im Anschluß an BVerfG Beschluß vom 30. Mai 1990, 1 BvL 2/83, BVerfGE 82, 126 = AP Nr 28 zu § 622 BGB und BAG Urteil vom 28.2.1985, 2 AZR 403/83 = BAGE 49, 21 = AP Nr 21 = AP Nr 21 zu § 622 BGB sowie Beschluß vom 12. Dezember 1985 - 2 AZR 596/84 - AP Nr 22 zu § 622 BGB).

2. Diese Rechtsfolge ergibt sich unabhängig von Art 20 Abs 2 Satz 2 GG bereits aus der Bindung (§ 31 Abs 1 BVerfGG) aller Gerichte an den Tenor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (aaO), das § 622 Abs 2 BGB nicht für nichtig, sondern für "unvereinbar" mit Art 3 GG erklärt und deswegen die Kompetenz zur Neuregelung dem Gesetzgeber übertragen hat.

 

Orientierungssatz

1. Hinweise des Senats: "Vergleiche auch Urteil des Senates vom 21. März 1991 - 2 AZR 616/90 - sowie Teilurteil vom 21. März 1991 - 2 AZR 323/84 -, jeweils zur Veröffentlichung bestimmt."

2. Siehe auch den vorausgegangenen Aussetzungsbeschluß des Senats vom 28.1.1988, 2 AZR 296/87 = AP Nr 24 zu § 622 BGB.

 

Verfahrensgang

LAG Hamm (Entscheidung vom 26.06.1986; Aktenzeichen 10 Sa 133/86)

ArbG Münster (Entscheidung vom 07.11.1985; Aktenzeichen 2 Ca 96/85)

 

Gründe

A. Der am 2. Juni 1929 geborene Kläger war seit dem 1. Juli 1976 bei der Beklagten zuletzt als Maurer mit einem Stundenlohn von 15,42 DM brutto beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien findet kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit der Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe vom 3. Februar 1981 (BRTV-Bau) in den Fassungen vom 10. Mai 1983, 20. Oktober 1983 und 26. September 1984 Anwendung. In allen Fassungen dieses BRTV wird in § 12 Ziffer 1.2 die verlängerte Kündigungsfrist für ältere Arbeitnehmer mit längerer Betriebszugehörigkeit wie folgt geregelt:

"Hat das Arbeitsverhältnis in demselben Betrieb

oder Unternehmen fünf Jahre bestanden, so erhöht

sich die Kündigungsfrist für den Arbeitgeber auf

einen Monat zum Monatsende,

hat es zehn Jahre bestanden, so erhöht sich die

Kündigungsfrist für den Arbeitgeber auf zwei Mo-

nate zum Monatsende,

hat es zwanzig Jahre bestanden, so erhöht sich

die Kündigungsfrist für den Arbeitgeber auf drei

Monate zum Ende eines Kalendervierteljahres.

Bei der Berechnung der Beschäftigungsdauer werden

Zeiten, die vor Vollendung des 35. Lebensjahres

liegen, nicht berücksichtigt.

Zeiten unterbrochener Betriebszugehörigkeit wer-

den zusammengerechnet, wenn die Unterbrechung

nicht vom Arbeitnehmer veranlaßt wurde und wenn

sie nicht länger als sechs Monate gedauert hat."

Mit Schreiben vom 27. Dezember 1984, dem Kläger zugegangen am 28. Dezember 1984, hat die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers wegen fehlender Einsatzmöglichkeit zum 31. Januar 1985 gekündigt.

Der Kläger hat Klage auf Feststellung erhoben, daß das Arbeitsverhältnis durch diese Kündigung nicht zum 31. Januar 1985 aufgelöst worden sei, sondern zu unveränderten Arbeitsbedingungen fortbestehe und weiter beantragt, die Beklagte zu verurteilen, ihn zu unveränderten Arbeitsbedingungen weiterzubeschäftigen. Zur Begründung hat er vorgetragen, die Kündigung sei sozial nicht gerechtfertigt. Es sei zumindest davon auszugehen, daß in entsprechender Anwendung das AngKSchG vom 9. Juli 1926 zu berücksichtigen sei und das Arbeitsverhältnis beim Vorliegen von Kündigungsgründen frühestens zum 30. April 1985 beendet worden sei. Noch in der ersten Instanz hat der Kläger seine Klage auf die frühere Beklagte zu 2), die O Hoch-Tief-Stahlbetonbau, erweitert. Das Arbeitsgericht hat die Klage gegen beide Beklagten abgewiesen. Hinsichtlich der jetzigen Beklagten, der früheren Beklagten zu 1), hat es ausgeführt, die Kündigung sei betriebsbedingt, weil bei der Beklagten seit Dezember 1984 keine Maurerarbeiten mehr angefallen seien. Der Auffassung des Klägers, die Kündigungsfrist richte sich nach dem AngKSchG, könne nicht gefolgt werden. Mit der Berufung hat der Kläger seine Klage nur noch gegen die jetzige Beklagte weiterverfolgt, und zwar mit dem eingeschränkten Antrag auf Feststellung, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 27. Dezember 1984 nicht zum 31. Januar, sondern erst zum 30. Juni 1985 beendet worden sei.

Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der Revision hat der Kläger zunächst in erster Linie den Antrag verfolgt, das Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über den Vorlagebeschluß des ArbG Ludwigshafen vom 7. Oktober 1983 - 4 Ca 1266/83 - auszusetzen und hilfsweise weiter die Feststellung begehrt, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung nicht zum 31. Januar, sondern erst zum 30. Juni 1985 beendet worden sei.

Der Senat hat durch Beschluß vom 28. Januar 1988 (- 2 AZR 296/87 - AP Nr. 24 zu § 622 BGB) den Rechtsstreit bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in den Normenkontrollverfahren 1 BvL 2/83, 1 BvL 9/84, 1 BvL 10/84, 1 BvL 3/85, 1 BvL 11/89, 1 BvL 12/89, 1 BvL 13/89, 1 BvL 4/90 und 1 BvR 764/86 ausgesetzt.

Durch den Tarifvertrag zur Änderung des BRTV-Bau vom 27. April 1990 ist mit Wirkung vom 1. Mai 1990 § 12 Ziff. 1.2 Satz 2 dahin geändert worden, daß die Zahl "35" durch die Zahl "25" ersetzt worden ist.

Das Bundesverfassungsgericht hat durch Beschluß vom 30. Mai 1990 (BVerfGE 82, 126 = AP Nr. 28 zu § 622 BGB) wie folgt entschieden:

"§ 622 Abs. 2 BGB ist mit dem allgemeinen Gleich-

heitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) unvereinbar, soweit

hiernach die Kündigungsfristen für Arbeiter kür-

zer sind als für Angestellte."

Der Kläger hat daraufhin die Fortsetzung des Verfahrens beantragt und seinen Hilfsantrag weiterverfolgt. Er ist der Auffassung, die tarifliche Kündigungsregelung enthalte, wie sich aus dem Änderungstarifvertrag vom 27. April 1990 ergebe, einen eigenständigen Regelungsinhalt und keine nur deklaratorische Verweisung auf die gesetzliche Rechtslage. Der Senat habe nunmehr zu entscheiden, ob diese tarifliche Differenzierung zwischen Angestellten und Arbeitern verfassungswidrig sei oder nicht. Treffe dieses zu, so folge daraus eine gewisse Automatik für die Anwendung der für die Angestellten geltenden Regelungen. Wenn der Senat die längere, aus verfassungsrechtlichen Gründen aber zu kurz befundene Fristenregelung gänzlich aufhebe, so wäre diese Entscheidung ebenfalls verfassungswidrig. Normziel sei nicht die Aufhebung der Angestelltenregelung, sondern mangels sachlicher Differenzierung die Anpassung der Regelung für gewerbliche Arbeitnehmer an die der Angestellten. Der Senat könne keine eigene Regelung "erfinden", da dies gegen die Tarifautonomie verstieße. Es bleibe deswegen keine andere Wahl, als die Regelung für Angestellte auch für die gewerblichen Arbeitnehmer anzuwenden. Eine Aussetzung bis zur gesetzlichen Neuregelung des § 622 BGB komme im Verhältnis zu den Tarifvertragsparteien nicht in Betracht. Es könne zudem nicht davon ausgegangen werden, daß eine neue gesetzliche Regelung diejenige des BRTV-Bau ohne weiteres ersetze.

Demgegenüber geht die Beklagte davon aus, die tarifliche Regelung sei nicht verfassungswidrig, weil den autonomen Tarifvertragsparteien mindestens die Gestaltungsfreiheit einzuräumen sei, die das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber belassen habe. Sie hält deshalb an ihrem Antrag fest, ohne weitere Aussetzung nunmehr abschließend zu entscheiden und die Revision zurückzuweisen. An der vom Kläger begehrten Feststellung des längeren Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses hat er insoweit auch ein wirtschaftliches Interesse als davon die Höhe des anteiligen 13. Monatseinkommens für 1985 abhängt.

B. Der Rechtsstreit ist bis zur gesetzlichen Neuregelung des § 622 Abs. 2 BGB, jedoch längstens bis zum 30. Juni 1993 auszusetzen.

I. Wie der Senat bereits im Beschluß vom 28. Januar 1988 (aaO, unter 2 c der Gründe) eingehend dargelegt hat, enthält § 12 Ziffer 1.2 BRTV-Bau jedenfalls in der bis zum 30. Juni 1985 geltenden Fassung keine eigenständige tarifliche Regelung der Kündigungsfristen im Baugewerbe, sondern nur eine deklaratorische Verweisung auf § 622 Abs. 2 Satz 2 BGB.

1. Diese Auffassung hat der Senat in zwei Urteilen vom 4. Oktober 1990 (- 2 AZR 699/85 - und - 2 AZR 700/85 - n.v.) mit der Begründung bestätigt, es sei den Tarifvertragsparteien allein darum gegangen, im Tarifvertrag eine vollständige Darstellung der gesetzlichen Regelung im Interesse der Klarheit und Übersichtlichkeit deklaratorisch in den Tarifvertrag aufzunehmen.

2. An dieser Würdigung hält der Senat schon deswegen fest, weil der weitere Änderungsvertrag vom 27. April 1990, aus dem der Kläger nunmehr eine konstitutive Bedeutung der tariflichen Regelung herzuleiten versucht, auf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers, durch die das Arbeitsverhältnis spätestens zum Ablauf des 30. Juni 1985 beendet worden ist, nicht anzuwenden ist.

a) Als Tarifbeginn haben die Tarifvertragsparteien im genannten Änderungsvertrag den 1. Mai 1990 vereinbart und sie haben die darin enthaltene Änderung weder ausdrücklich noch aus den Umständen ersichtlich rückwirkend in Kraft gesetzt.

Wenn ein Tarifvertrag nach dem Willen der Tarifpartner rückwirkende Kraft haben soll, dann muß ein solcher Rückwirkungswille deutlich zum Ausdruck kommen (BAG Urteile vom 5. März 1957 - 1 AZR 420/56 - AP Nr. 1 zu § 1 TVG Rückwirkung und vom 21. Juli 1988 - 2 AZR 527/87 - AP Nr. 10 zu § 1 TVG Rückwirkung). Insbesondere hinsichtlich der Änderung des § 12 Ziff. 1.2 Satz 2 BRTV-Bau hätte es eines eindeutig verlautbarten Rückwirkungswillens der Tarifparteien bedurft, weil mehrere Formen der Nachwirkung denkbar gewesen wären: Die Tarifpartner hätten die Anrechnung von Zeiten der Betriebszugehörigkeit ab dem 25. Lebensjahr auf alle vor oder bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgesprochenen Kündigungen erstrecken können oder - entsprechend Art. 3 des Änderungsgesetzes zu § 622 BGB vom 26. Juni 1990 (BGBl I, 1206 f.) - nur auf diejenigen vor dem 1. Mai 1990 ausgesprochenen Kündigungen, bei denen noch ein Rechtsstreit über den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses anhängig ist.

b) Da sich dem Änderungsvertrag vom 27. April 1990 keine eindeutige Regelung über eine Rückwirkung entnehmen läßt, greift der Grundsatz ein, nach dem Tarifverträge im Zweifel nur die zur Zeit des Inkrafttretens des Tarifvertrages bestehenden Arbeitsverhältnisse der tarifgebundenen Parteien beherrschen, sofern die Tarifgebundenheit sowohl zum Zeitpunkt des Inkrafttretens wie zu dem des Abschlusses des Tarifvertrages bestanden hat (BAG Urteil vom 20. Juni 1958 - 1 AZR 245/57 - AP Nr. 2 zu § 1 TVG Rückwirkung).

c) Es kann deswegen dahingestellt bleiben, ob der Änderung des § 12 BRTV-Bau durch den Vertrag vom 27. April 1990 überhaupt die Bedeutung einer konstitutiven Regelung zukommt. Es geht vorliegend auch nicht darum, ob die Regelung der Grundfristen für die Kündigung von Arbeitern in § 12 BRTV-Bau normative Wirkung entfaltet.

II. Die für die Kündigung des Klägers vorgesehene, der gegenwärtigen verfassungswidrigen gesetzlichen Rechtslage des § 622 Abs. 2 BGB entsprechende Frist von einem Monat zum Monatsende ist nicht anwendbar, weil die Verkürzung gegenüber der für Angestellte geltenden längeren Frist nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (aaO) mit Art. 3 GG unvereinbar ist. Diese vom Bundesverfassungsgericht festgestellte Unvereinbarkeit begründet die Notwendigkeit der vom Senat beschlossenen Aussetzung (ebenso Koch, NZA 1990, 50, 51 f.; Stahlhacke/Preis, Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis, 5. Aufl., Rz 376 - 378).

1. Im Anschluß an die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. November 1982 (BVerfGE 62, 256 = AP Nr. 16 zu § 622 BGB), nach der es mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, bei der Berechnung der für die verlängerten Kündigungsfristen maßgeblichen Beschäftigungsdauer eines Arbeiters Zeiten nicht zu berücksichtigten, die vor Vollendung des 35. Lebensjahres liegen, hat der Senat die insoweit verfassungswidrige Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 2. Halbsatz BGB weiterhin vorläufig mit folgender Maßgabe angewendet:

Wenn die vom Arbeitnehmer angegriffene Kündigung dem Grunde nach gerechtfertigt ist, kann im Beendigungsstreit nur durch Teilurteil festgestellt werden, daß das Arbeitsverhältnis jedenfalls nicht vor Ablauf der Frist beendet worden ist, die sich aus der Beschäftigungszeit nach Vollendung des 35. Lebensjahres ergibt. Da die Festlegung des endgültigen Zeitpunktes der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht möglich war, mußte der Rechtsstreit im übrigen bis zur gesetzlichen Neuregelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB ausgesetzt werden (BAGE 49, 21 = AP Nr. 21 zu § 622 BGB; Beschluß des Senats vom 12. Dezember 1985 - 2 AZR 596/84 - AP Nr. 22 zu § 622 BGB; zuletzt Beschluß vom 25. Januar 1990 - 2 AZR 398/89 - n.v.).

2. Für diese Lösung des Senates waren insbesondere folgende Überlegungen maßgebend:

a) Das Bundesverfassungsgericht hat den unterschiedlichen Beginn der anrechenbaren Wartezeiten für Arbeiter und Angestellte nicht für nichtig, sondern (nur) als mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar d.h. für verfassungswidrig erklärt. Es liegt deswegen insoweit keine Gesetzeslücke vor, die durch Richterrecht ausgefüllt werden könnte und dürfte. Eine für verfassungswidrig erklärte Vorschrift ist vielmehr in Fällen dieser Art in einer verfassungskonformen Weise vorläufig weiter anzuwenden. Auch eine Vorschrift, die vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt worden ist, darf zwar grundsätzlich nicht mehr angewandt werden. Eine volle oder teilweise weitere Anwendung der verfassungswidrigen Normen kommt aber ausnahmsweise dann in Betracht, wenn es insbesondere aus Gründen der Rechtssicherheit erforderlich ist, die verfassungswidrige Regelung für eine Übergangszeit bestehen zu lassen, weil sonst ein Zustand eintreten würde, der von der verfassungsgemäßen Ordnung noch weiter entfernt wäre als der bisherige Zustand. Eine solche Ausnahmesituation, die eine vorübergehende weitere Anwendung der für verfassungswidrig erklärten Norm geradezu unabweisbar macht, bestand hinsichtlich § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB aber nur insoweit, als in Bestandsstreitigkeiten, bei denen es bei an sich wirksamer Kündigung nur um den "richtigen" Beendigungszeitpunkt ging, nicht bis zur gesetzlichen Regelung jede gerichtliche Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung unterbleiben konnte und durfte. Andererseits durfte aber die deswegen gebotene vorläufige weitere Anwendung der genannten Vorschriften nicht dazu führen, eine unvermeidbare endgültige Entscheidung über eine offene Rechtslage zu treffen, die den älteren Arbeitnehmern die Aussicht genommen hätte, an einer günstigeren Neuregelung durch den Gesetzgeber teilzunehmen.

b) Wie der Senat betont hat, stellte diese vorläufige Weiteranwendung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB einen Kompromiß dar zwischen den Bedürfnissen der Praxis, Bestandsstreitigkeiten auch in diesen Fällen möglichst zügig zu entscheiden und dem rechtsstaatlichen Gebot, keine rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidungen zu treffen, durch die noch vom Gesetzgeber zu bestimmende Rechtspositionen der Betroffenen unabänderlich beeinträchtigt werden konnten.

c) Dieses Verständnis des Senates von den Folgen und Auswirkungen einer gesetzlichen Vorschrift, deren Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz vom Bundesverfassungsgericht festgestellt worden ist, hat der Gesetzgeber bestätigt, indem er in Art. 3 des Änderungsgesetzes vom 26. Juni 1990 (BGBl I, 1206 ff.) die Änderung des Beginns der Wartezeiten für Arbeiter auch auf Kündigungen erstreckt hat, über deren Wirksamkeit noch ein Rechtsstreit anhängig ist.

3. Diese Grundsätze gelten entsprechend auch für die Konsequenzen, die sich aus dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (aaO) ergeben.

a) Das Bundesverfassungsgericht hat sich aus folgenden Gründen darauf beschränkt, § 622 Abs. 2 BGB nicht für nichtig, sondern (nur) als mit Art. 3 GG unvereinbar zu erklären:

Wenn eine Norm mit der Verfassung nicht im Einklang stehe, sei sie grundsätzlich für nichtig zu erklären (§ 82 Abs. 1 in Verb. mit § 78 Abs. 1 BVerfGG). Das gelte jedoch dann nicht, wenn sich ein Verfassungsverstoß aus dem Zusammenwirken mehrerer Vorschriften ergebe und eine Korrektur auf verschiedene Weise vorgenommen werden könne. In einer solchen Lage müsse sich das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich darauf beschränken, die diskriminierende Bestimmung als unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären. Die verfassungswidrige Vorschrift dürfe dann bis zur Neuregelung von staatlichen Stellen nicht mehr angewandt werden. Der Gesetzgeber sei verpflichtet, die Rechtslage unverzüglich mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen. Die Gerichte müßten anhängige Verfahren, bei denen die Entscheidung von der verfassungswidrigen Norm abhänge, aussetzen, bis eine Neuregelung in Kraft trete.

b) Da der Senat nach § 31 BVerfGG an die Feststellung der Unvereinbarkeit von § 622 Abs. 2 BGB mit Art. 3 GG, die bewußt unterlassene Feststellung der Nichtigkeit dieser Vorschrift und die diese Entscheidung tragende Begründung gebunden ist, die aus der Deduktion des Gerichts nicht hinwegzudenken ist, ohne daß sich das Ergebnis, das durch den Tenor bestimmt wird, ändern würde (vgl. Maunz/Schmidt-Bleibtreu /Klein/Ulsamer, BVerfGG, § 31 Rz 16), scheiden sowohl eine unveränderte weitere Anwendung des § 622 Abs. 2 BGB in der gegenwärtigen Fassung als auch eine "verfassungskonforme" Auslegung oder Fortbildung dieser Vorschrift aus.

aa) Die Notwendigkeit zur Aussetzung bis zur gesetzlichen Neuregelung ergibt sich unabhängig von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG bereits aus dem Tenor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das die Kompetenz zur Neuregelung dem Gesetzgeber und nicht den Gerichten übertragen hat. Es fehlt demgemäß - jedenfalls zur Zeit - an einer Gesetzeslücke, die im Wege der Rechtsfortbildung durch die Gerichte für Arbeitssachen geschlossen werden könnte und dürfte (insoweit im Ausgangspunkt zutreffend Hanau, DB 1991, 40 und Buchner, NZA 1991, 41, 44).

bb) Es ist zwar im verfassungsrechtlichen Schrifttum streitig, ob die Entscheidungspraxis des Bundesverfassungsgerichts dann, wenn eine Nichtigkeitserklärung in die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers eingreifen würde, die Unvereinbarkeit der diskriminierenden Norm an Stelle der Nichtigkeit der verfassungswidrigen Regelung mit dem Grundgesetz festzustellen, "angreifbar" ist (vgl. Ipsen, JZ 1983, 41 ff., m.w.N.; ders. Rechtsfolgen der Verfassungswidrigkeit von Norm und Einzelakt, S. 107 ff., 217 ff.). Das kann auf sich beruhen, weil jedenfalls die Gerichte als Verfassungsorgane sich in diese verfassungsrechtliche Diskussion nicht einschalten und insbesondere die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht als sozialpolitisch verfehlt oder verfassungsrechtlich bedenklich werten können, ohne sich über die Bindungswirkung und den Grundsatz der Gewaltenteilung hinwegzusetzen. Es ist deswegen auch verfehlt, zu bezweifeln, ob die "Anordnung des Bundesverfassungsgerichts, die Verfahren, die von der Anwendung des § 622 Abs. 2 BGB abhängen, bis zur gesetzlichen Neuregelung auszusetzen", für die Gerichte für Arbeitssachen bindend ist (vgl. Kraushaar, BB 1990, 1764, 1766). Diese "Verpflichtung" ergibt sich für die Gerichte bereits aus der bindenden verfassungsrechtlichen Interpretation durch das Bundesverfassungsgericht, die es ihnen verwehrt, andere Auslegungsmöglichkeiten für verfassungsgemäß zu halten (vgl. Maunz u.a., aaO, § 31 Rz 22). Alle Lösungsversuche, die auf der Annahme einer Gesetzeslücke beruhen, ersetzen im Ergebnis die Feststellung der Unvereinbarkeit durch die allein dem Bundesverfassungsgericht (Art. 100 GG) vorbehaltene Feststellung der Nichtigkeit einer gesetzlichen Norm wegen eines Verstoßes gegen die Grundrechtsordnung.

Sowohl die Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Mai 1990 (aaO) als auch der Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) stehen dem Bestreben entgegen, allgemein oder etwa beim Fehlen eines besonderen vermögensrechtlichen Interesses an der Feststellung des begehrten längeren Fortbestandes des Arbeitsverhältnisses (so Hanau, aaO, S. 41 f.) bis zur gesetzlichen Neuregelung die Regelungskompetenz des Gesetzgebers vorwegzunehmen und durch richterliche Rechtsfortbildung entweder die Vorschriften des AngKSchG auf die Kündigung älterer Arbeiter zu übertragen oder durch eine "vermittelnde Zwischenlösung" die Grundfristen auf die bei Angestellten vertraglich mögliche Verkürzung von vier Wochen zum Monatsschluß zu verlängern oder es bei fehlendem vermögensrechtlichen Interesse vorerst bei den kürzeren Fristen des § 622 Abs. 2 BGB für die älteren Arbeiter zu belassen (so u.a. Hanau, aaO).

Da das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber auch für die Vergangenheit einen Gestaltungsspielraum eingeräumt hat, ist zudem eine völlige Angleichung der Kündigungsfristen für ältere Arbeiter an diejenigen, die für ältere Angestellte gelten, nicht der einzige Weg zur Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes. Wie auch Buchner (aaO, 45) vielmehr zutreffend einräumt, hält das Bundesverfassungsgericht erkennbar für in der Vergangenheit liegende Sachverhalte geringere Verbesserungen der Rechtsstellung der älteren Arbeiter, durch die sie nicht voll den Angestellten gleichgestellt werden, noch für verfassungskonform. Auch diese Würdigung des Bundesverfassungsgerichts unterliegt nicht der Überprüfung und Korrektur durch den Senat. Die These, für die Vergangenheit sei nur eine einheitliche Regelung der Kündigungsfristen für ältere Arbeiter und Angestellte verfassungskonform, kann von den Gerichten für Arbeitssachen jedenfalls deswegen nicht aufgegriffen werden, weil sie unvereinbar mit dem Tenor und den tragenden Entscheidungsgründen des Bundesverfassungsgerichts ist. Das Bundesverfassungsgericht hätte § 622 Abs. 2 BGB für nichtig erklärt, wenn es dieser Auffassung gefolgt wäre.

cc) Auch eine ergänzende Vertragsauslegung macht die Aussetzung des Verfahrens bis zur gesetzlichen Neuregelung des § 622 Abs. 2 BGB nicht entbehrlich (a.A. Kraushaar, aaO, 1767). Soweit es um die Grundfristen geht, mag es zwar dem mutmaßlichen Willen des Arbeitgebers bzw. der Arbeitgeberverbände entsprechen, sich bei der Kündigung eines Arbeiters statt an die verfassungswidrige Frist des § 622 Abs. 2 BGB an die für Angestellte mögliche kürzeste Frist zu halten. Es ist aber eine Unterstellung anzunehmen, auch der beteiligte Arbeiter bzw. die Gewerkschaften als Tarifpartner wären bei Kenntnis der Verfassungswidrigkeit stets oder auch nur in der Regel bereit gewesen, sich mit der für Angestellte zulässigen Mindestfrist zu begnügen. Es wird vielmehr eher dem wohlverstandenen Interesse des Arbeiters entsprechen, auf der Einhaltung verfassungskonformer Kündigungsfristen zu bestehen. Seine Aussicht auf eine Verbesserung des zeitlichen Kündigungsschutzes durch eine gesetzliche Neuregelung darf ihm nicht durch eine ergänzende Vertragsauslegung genommen werden, die einseitig am mutmaßlichen Willen des Arbeitgebers ausgerichtet ist. Diese Überlegungen gelten entsprechend für eine ergänzende Vertragsauslegung, soweit es um die verlängerten Kündigungsfristen für ältere Arbeiter geht. Insoweit ist es eine reine Unterstellung zu Lasten der Arbeitgeber bzw. ihrer Verbände, ohne weiteres anzunehmen, sie wären bereit gewesen, den Arbeitern die Fristen nach dem AngKSchG einzuräumen.

c) Da vorliegend wegen der nur deklaratorischen Übernahme durch die Tarifvertragsparteien über die gesetzliche Kündigungsfrist in der gegenwärtigen Fassung des § 622 Abs. 2 BGB zu entscheiden ist, hat sich der Senat im Tenor darauf beschränkt, das Verfahren bis zur gesetzlichen Neuregelung auszusetzen. Wie jedoch zur Klarstellung zu bemerken ist, entfällt der Grund für die Aussetzung auch dann, wenn die Tarifvertragsparteien im Baugewerbe vorher die Fristen für die Kündigung älterer Arbeiter neu regeln. Auch dann ist das vorliegende Verfahren fortzusetzen und unter Berücksichtigung der Grundsätze, die der Senat im Urteil vom 21. März 1991 (- 2 AZR 616/90 - zur Veröffentlichung bestimmt) für die Vereinbarkeit tariflicher Kündigungsfristen mit Art. 3 GG aufgestellt hat, erneut zu überprüfen, zu welchem Zeitpunkt das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien beendet worden ist.

Hillebrecht Triebfürst Bitter

Timpe Dr. Roeckl

 

Fundstellen

Haufe-Index 437728

BAGE 67, 357-367 (LT1-2)

BAGE, 357

BB 1991, 1785-1787 (LT1-2)

DB 1991, 1884-1886 (LT1-2)

EBE/BAG 1991, 131-133 (LT1-2)

NZA 1991, 8011-803 (LT1-2)

RzK, I 3b 9 (LT1-2)

AP § 622 BGB (LT1-2), Nr 30

AR-Blattei, ES 1010.5 Nr 28a (LT1-2)

AR-Blattei, Kündigung V Entsch 28a (LT1-2)

EzA § 622 nF BGB, Nr 32 (LT1-2)

MDR 1991, 1071-1072 (LT1-2)

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