Entscheidungsstichwort (Thema)

Wahlanfechtung. Betriebsbegriff. Wählbarkeit gekündigter Arbeitnehmer

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Wählbarkeit eines gekündigten Arbeitnehmers bleibt erhalten, wenn seiner vor der Wahl erhobenen Kündigungsschutzklage nach Durchführung der Betriebsratswahl stattgegeben wird.

2. Verkennt der Wahlvorstand die Wählbarkeit eines gekündigten Arbeitnehmers, der eine Vorschlagsliste anführt und schließt er deswegen die Vorschlagsliste von der Betriebsratswahl aus, liegt darin ein Verstoß gegen wesentliche Vorschriften über die Wählbarkeit. Der Verstoß kann im Anfechtungsverfahren geltend gemacht werden.

 

Normenkette

BetrVG §§ 1, 4, 7-8, 19

 

Verfahrensgang

LAG Baden-Württemberg (Beschluss vom 24.08.1995; Aktenzeichen 4 TaBV 1/95)

ArbG Stuttgart (Beschluss vom 27.07.1994; Aktenzeichen 22 BV 110/94)

 

Tenor

Die Beschwerde des Betriebsrats und der Beteiligten zu 3) und 4) gegen den Beschluß des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg vom 24. August 1995 – 4 TaBV 1/95 – wird zurückgewiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer Betriebsratswahl.

Die Antragstellerin ist eine im Betrieb der Beteiligten zu 3) und 4) vertretene Gewerkschaft. Die Beteiligte zu 3) ist in fünf sogenannte Divisionen gegliedert. Sitz der Division Süd ist D. bei Stuttgart. Diese Division wird von den Beteiligten zu 3) und 4) als gemeinsamer Betrieb geführt, dem 16 sogenannte Dienstsitze zugeordnet sind. Dazu gehört auch der 220 Kilometer entfernt gelegene Dienstsitz G. bei München, dem mehr als 5 wahlberechtigte Arbeitnehmer angehören.

Vom 15. bis 16. April 1994 wurde in D. für die Division Süd und für die ihr zugeordneten Dienstsitze eine gemeinsame Betriebsratswahl durchgeführt. Von dieser Wahl war die Liste der antragstellenden Gewerkschaft durch Beschluß des Wahlvorstands wegen fehlender Wählbarkeit des Listenführers ausgeschlossen. Diesem Arbeitnehmer war nach Erteilung eines Hausverbots vom 2. November 1992 mit Zustimmung des Betriebsrats am 6. November 1992 und am 2. Juli 1993 jeweils fristlos gekündigt worden. Seine dagegen erhobenen Kündigungsschutzklagen hatten nach Durchführung der streitigen Wahl Erfolg.

Das am 16. April 1994 bekanntgegebene Ergebnis der Betriebsratswahl hat die antragstellende Gewerkschaft am 2. Mai 1994 angefochten. Sie ist der Ansicht gewesen, bei dem Dienstsitz G. handele es sich um einen Betriebsteil im Sinne des § 4 Satz 1 Nr. 1 BetrVG, für den ein eigener Betriebsrat zu wählen gewesen sei. Im übrigen sei ihre Vorschlagsliste zu Unrecht von der Wahl ausgeschlossen worden. Trotz der vor Einleitung des Wahlverfahrens ausgesprochenen außerordentlichen Kündigungen sei ihr Listenführer weiterhin zum Betriebsrat wählbar gewesen.

Die Gewerkschaft hat beantragt,

die am 15./16. April 1994 im Betrieb der Beteiligten zu 3) und 4) durchgeführte Betriebsratswahl für ungültig zu erklären.

Der Betriebsrat und die Beteiligten zu 3) und 4) haben die Zurückweisung des Antrags verlangt.

Das Arbeitsgericht hat die Betriebsratswahl für unwirksam erklärt. Die Beschwerde des Betriebsrats und der Beteiligten zu 3) und 4) hat das Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Rechtsbeschwerde begehren der Betriebsrat und die Beteiligten zu 3) und 4) die Abweisung des Anfechtungsantrags. Die antragstellende Gewerkschaft beantragt die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.

 

Entscheidungsgründe

B. Das Landesarbeitsgericht hat im Ergebnis zu Recht die Betriebsratswahl vom 15./16. April 1994 wegen eines Verstoßes i.S.d. § 19 Abs. 1 BetrVG für unwirksam gehalten. Allerdings hat es die Voraussetzungen verkannt, unter denen ein Betriebsteil nach § 4 Satz 1 Nr. 1 BetrVG als selbständiger Betrieb zu gelten hat und für den demzufolge ein eigener Betriebsrat zu wählen ist (I.). Dennoch erweist sich seine Entscheidung als richtig, weil der Wahlvorschlag einer im Betrieb vertretenen Gewerkschaft zu Unrecht zurückgewiesen worden ist (II.).

I. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung kann dem Wahlanfechtungsbegehren der antragstellenden Gewerkschaft nicht stattgegeben werden. Ob es sich bei dem Dienstsitz G. um einen Betriebsteil i. S. des § 4 Satz 1 Nr. 1 BetrVG handelt, für den ein eigener Betriebsrat zu wählen wäre, läßt sich anhand der bisherigen Feststellungen nicht beurteilen.

1. Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die angefochtene Wahl sei unter Verkennung des Betriebsbegriffs erfolgt. Bei dem Dienstsitz G. handele es sich aufgrund räumlich weiter Entfernung vom Verwaltungssitz D. um einen als selbständigen Betrieb geltenden Betriebsteil i. S. des § 4 Satz 1 Nr. 1 BetrVG, weil dieser Einsatzort organisatorisch abgrenzbar sei. Der Arbeitgeber unterhalte dort ein Büro, welches Ausgangspunkt für die Erbringung der Transportleistungen sei, die dem arbeitstechnischen Zweck des Hauptbetriebs dienten. Unter diesen Voraussetzungen sei eine vor Ort den Einsatz der Arbeitnehmer bestimmende institutionalisierte Leitung für die Erfüllung des Begriffs des Betriebsteils entbehrlich.

2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist ein Betrieb im Sinne des BetrVG eine organisatorische Einheit, innerhalb derer der Unternehmer allein oder zusammen mit den von ihm beschäftigten Arbeitnehmern bestimmte arbeitstechnische Zwecke fortgesetzt verfolgt. Dazu müssen die in einer Betriebsstätte vorhandenen materiellen und immateriellen Betriebsmittel für den oder die verfolgten arbeitstechnischen Zwecke zusammengefaßt, geordnet und gezielt eingesetzt und die menschliche Arbeitskraft von einem einheitlichen Leitungsapparat gesteuert werden (BAG Beschluß vom 29. Mai 1991 – 7 ABR 54/90 – BAGE 68, 67, 71 f. = AP Nr. 5 zu § 4 BetrVG 1972, zu B II 1 der Gründe, m.w.N.). Demgegenüber ist ein Betriebsteil zwar auf den Zweck des Hauptbetriebs ausgerichtet und in dessen Organisation eingegliedert, ihm gegenüber aber räumlich und organisatorisch abgrenzbar. Für ihn ist ein eigener Betriebsrat nur unter den Voraussetzungen des § 4 Satz 1 BetrVG zu wählen. Kennzeichnend für das Vorliegen einer in sich geschlossenen einheitlichen arbeitstechnischen Organisation und damit für das Vorliegen eines abgrenzbaren Betriebsteils ist die jeweilige institutionell gesicherte Leitungsmacht. Dafür ist auch bei räumlich weiter Entfernung erforderlich, daß eine den Einsatz der Arbeitnehmer bestimmende Leitung eingerichtet ist, von der das Weisungsrecht des Arbeitgebers ausgeübt wird (BAG Beschluß vom 20. Juni 1995 – 7 ABR 59/94 – AP Nr. 8 zu § 4 BetrVG 1972, zu B I 2 der Gründe, m.w.N.).

Dementsprechend kann der Einsatzort G. Betriebsteil i. S. des § 4 Satz 1 Nr. 1 BetrVG sein und als selbständiger Betrieb gelten, wenn dort ein den Einsatz der Arbeitnehmer steuernder und Arbeitgeberfunktionen wahrnehmender Leitungsapparat vorhanden ist. Zur Funktion und den Befugnissen des in G. tätigen Managers und der dortigen Ausübung von Arbeitgeberbefugnissen durch den D. Divisionsmanager haben die Beteiligten unterschiedliche Behauptungen aufgestellt, denen das Landesarbeitsgericht aufgrund seines Rechtsstandpunktes aber nicht nachgegangen ist.

II. Einer Aufhebung und Zurückverweisung der Rechtssache an das Landesarbeitsgericht zur Klärung der betriebsverfassungsrechtlichen Zuordnung des Einsatzortes G. bedarf es nicht. Denn auch wenn für die Orte G. und D. ein einheitlicher Betriebsrat zu wählen war, ist dessen Wahl aus anderen Gründen unwirksam. Bei der Wahl ist gegen wesentliche Vorschriften über die Wählbarkeit in einer Weise verstoßen worden, die das Wahlergebnis beeinflussen konnte. Der Wahlvorstand hat zu Unrecht die Vorschlagsliste der antragstellenden Gewerkschaft für ungültig erklärt, weil er die Wählbarkeit des darin aufgeführten Listenbewerbers verkannt hat. Dieser war trotz der vor Einleitung des Wahlverfahrens ausgesprochenen außerordentlichen Kündigungen zum Betriebsrat wählbar.

1. Nach § 8 Abs. 1 Satz 1 BetrVG sind wählbar alle die dem Betrieb seit sechs Monaten angehörenden Wahlberechtigten. Wahlberechtigt sind nach § 7 BetrVG nur die betriebsangehörigen Arbeitnehmer. Die Betriebszugehörigkeit setzt das Bestehen arbeitsvertraglicher Beziehungen und eine tatsächliche Eingliederung in die Betriebsorganisation voraus (BAG Beschluß vom 18. Januar 1989 – 7 ABR 21/88 – BAGE 61, 7, 12 = AP Nr. 1 zu § 9 BetrVG 1972, zu B II 1 b der Gründe, m.w.N.).

2. Diese arbeitsvertraglichen Beziehungen werden mit Zugang der außerordentlichen Kündigung beendet. Der Arbeitnehmer verliert seine Wahlberechtigung und zugleich seine Wählbarkeit, soweit eine Weiterbeschäftigung unterbleibt (Fitting/Kaiser/Heither, BetrVG, 18. Aufl., § 7 Rz 15; § 8 Rz 8).

Das gilt jedoch nicht uneingeschränkt, wenn der gekündigte Arbeitnehmer eine Kündigungsschutzklage nach §§ 13, 14 KSchG erhoben hat. Durch die Erhebung einer Feststellungsklage nach § 13 KSchG bleibt bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens die rechtswirksame Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch die Kündigung und damit auch die Frage der Wählbarkeit ungeklärt. Allein diese Ungewißheit berechtigt den Wahlvorstand nicht dazu, einen gekündigten Arbeitnehmer von der Wahl auszuschließen (Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 8 Rz 10; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 4. Aufl., § 8 Rz 4 f.; Däubler/Kittner/Klebe, BetrVG, 5. Aufl., § 8 Rz 25 f.; Fitting/Kaiser/Heither, BetrVG, 18. Aufl., § 7 Rz 15 f. und § 8 Rz 8; a.A. GK-Kreutz, BetrVG, 5. Aufl., § 8 Rz 18). Vielmehr ist der Gekündigte hinsichtlich seiner Wählbarkeit wie ein Betriebsangehöriger zu behandeln. Andernfalls hätte der Arbeitgeber die Möglichkeit, durch den Ausspruch unberechtigter Kündigungen gegenüber unliebsamen Wahlbewerbern Einfluß auf die Zusammensetzung des Betriebsrats zu nehmen. Das widerspricht dem Sinn und Zweck der Wahlvorschriften des Betriebsverfassungsgesetzes, die eine vom Willen des Arbeitgebers unbeeinflußte Bildung der Arbeitnehmervertretung gewährleisten wollen. Hinzu kommt, daß die Frage der Wählbarkeit gekündigter Arbeitnehmer im Gegensatz zur Frage der Wahlberechtigung dieses Personenkreises im Zeitpunkt der Durchführung der Betriebsratswahl keiner abschließenden Klärung bedarf. Denn stellt sich erst nach der Wahl die Unwirksamkeit der Kündigung heraus, bleibt der Arbeitnehmer bis zum rechtskräftigen Abschluß des Kündigungsverfahrens und bei fehlender tatsächlicher Weiterbeschäftigung an der Amtsausübung gehindert. Er wird durch ein Ersatzmitglied vertreten. Bei negativem Ausgang des Kündigungsschutzverfahrens waren die Voraussetzungen der Wählbarkeit von vornherein nicht gegeben. Die Wahl Dieses Betriebsratsmitglieds ist unwirksam. Das ihn vertretende Ersatzmitglied rückt nach.

3. Im Streitfall hat der Listenführer der antragstellenden Gewerkschaft sein passives Wahlrecht nicht verloren. Die außerordentlichen Kündigungen vom 6. November 1992 und vom 2. Juli 1993 haben sein Arbeitsverhältnis nicht aufgelöst, wie nach Abschluß der Wahl rechtskräftig festgestellt worden ist. Keinen Einfluß auf die Wählbarkeit hat der Umstand, daß er seine ursprünglich gestellten Anträge auf Weiterbeschäftigung in den Kündigungsschutzverfahren nicht aufrechterhalten hat und auch tatsächlich nicht weiterbeschäftigt worden ist. Auch in diesem Fall ist zu erwarten, daß er nach einer für ihn positiven Klärung der arbeitsvertraglichen Beziehungen an seinen bisherigen Arbeitsplatz zurückkehrt und zu einer ordnungsgemäßen Amtsausübung in der Lage ist.

 

Unterschriften

Dörner, Steckhan, Schmidt, Metzinger, Niehues

 

Fundstellen

Haufe-Index 662666

BAGE, 370

JR 1998, 308

NZA 1997, 1245

SAE 1998, 89

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