Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsratsvorsitz. Wahlanfechtung

 

Leitsatz (amtlich)

  • Die Wahl eines Betriebsratsvorsitzenden oder seines Stellvertreters ist in entsprechender Anwendung des § 19 BetrVG anfechtbar, wenn bei ihr gegen die Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG, wonach der Betriebsratsvorsitzende und sein Stellvertreter nicht derselben Arbeitnehmergruppe angehören sollen, verstoßen worden ist.
  • Von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG darf nur aus einsichtigen, vernünftigen Gründen abgewichen werden (Anschluß an BAGE 28, 219 = AP Nr. 2 zu § 26 BetrVG 1972).
  • Die bloße funktionale Nähe eines Betriebsratsmitglieds zum Arbeitgeber (hier: Obermeister für mehrere Gewerke) stellt für sich allein keinen einsichtigen, vernünftigen Grund für ein Abweichen von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG dar.
 

Normenkette

BetrVG § 26 Abs. 1 S. 2, §§ 19, 27-28, 38

 

Verfahrensgang

LAG Schleswig-Holstein (Beschluss vom 06.11.1990; Aktenzeichen 2 TaBV 18/90)

ArbG Husum (Beschluss vom 23.05.1990; Aktenzeichen 2 BV 3/90)

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde des Betriebsrats gegen den Beschluß des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein vom 6. November 1990 – 2 TaBV 18/90 – wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Wahl des Beteiligten zu 4) zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden vom 6. April 1990 für unwirksam erklärt wird.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

A. Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit der Wahl des Beteiligten zu 4 zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden.

Die Arbeitgeberin (Beteiligte zu 3) betreibt eine Schiffswerft. In ihrem Betrieb wurde am 29. März 1990 die regelmäßige Neuwahl des Betriebsrates durchgeführt. Der gewählte Betriebsrat (Beteiligter zu 2) setzt sich aus neun Mitgliedern zusammen, nämlich sieben Vertretern der Arbeiter und zwei Vertretern der Angestellten. Nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses durch den Aushang vom 4. April 1990 fand die konstituierende Sitzung des Betriebsrates am 6. April 1990 statt. In dieser Sitzung wurde im ersten Wahlgang der der Gruppe der Arbeiter angehörende Betriebsratsvorsitzende gewählt. Die Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden erfolgte in einem weiteren Wahlgang. Hierfür wurde aus der Gruppe der Angestellten der Antragsteller vorgeschlagen. Er ist im Betrieb der Arbeitgeberin Obermeister für das Gewerk Schiffbau. Ihm sind acht Meister unterstellt. Der Antragsteller wurde nicht zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden gewählt. Vielmehr wurde zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden ein weiteres Mitglied der Gruppe der Arbeiter gewählt, nämlich der Beteiligte zu 4.

Mit seinem am 11. April 1990 eingereichten Antrag ficht der Antragsteller die Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden an.

Er hat geltend gemacht: Nachdem ein Arbeiter zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt worden sei, hätte als stellvertretender Betriebsvorsitzender nicht wiederum ein Arbeiter gewählt werden dürfen. Es hätten keine gewichtigen sachlichen Gründe dafür vorgelegen, von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG abzuweichen, wonach der Betriebsratsvorsitzende und sein Stellvertreter nicht derselben Gruppe der Arbeitnehmer angehören sollen. Derart gewichtige Gründe seien nicht in seiner Stellung als Obermeister im Betrieb der Arbeitgeberin und in den damit verbundenen schlichten Führungsaufgaben zu sehen. Es treffe auch nicht zu, daß er nach der Wahl geäußert habe, er hätte ohnehin für die Aufgabe des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden keine hinreichende Zeit gehabt. Zudem seien die vom Betriebsrat im Laufe des vorliegenden Beschlußverfahrens vorgetragenen Gründe für ein Abweichen von der Sollvorschrift bei der Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden am 6. April 1990 nicht erörtert worden. Dies wäre aber erforderlich gewesen, um das Ermessen für das Abweichen von der Sollvorschrift rechtmäßig ausüben zu können.

Der Antragsteller hat beantragt

festzustellen, daß die am 6. April 1990 durchgeführte Wahl des stellvertretenden Vorsitzenden des Betriebsrates unwirksam ist.

Der Betriebsrat hat beantragt,

den Antrag zurückzuweisen.

Er hält die Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden für rechtmäßig und hat erwidert: Die Arbeiter des Betriebes hätten bereits die vormaligen Betriebsratsmitglieder bedrängt, alles zu unternehmen, damit der Antragsteller nicht in den Betriebsrat gewählt werde. Als Obermeister für das Gewerk Schiffbau ständen dem Antragsteller entsprechende Kompetenzen zu. Er dirigiere acht Meister. Er sei ständiger Gesprächspartner der Geschäftsleitung und beantrage bei ihr Disziplinarmaßnahmen, Abmahnungen, Entlassungen sowie die Entscheidung, ob jemand eingestellt werde oder nicht. Zwar sei der Antragsteller kein leitender Angestellter im Sinne des § 5 Abs. 3 BetrVG; er nehme jedoch derart viele delegierte Arbeitgeberbefugnisse wahr, daß es gerechtfertigt sei, ihn nicht zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden zu wählen. Zudem habe der Antragsteller nach der umstrittenen Wahl selbst geäußert, für die Aufgabe des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden neben seinen sonstigen Aufgaben ohnehin keine hinreichende Zeit zu haben. Aus rechtlichen Gründen bleibe zudem ein Verstoß gegen die Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG, vom hier nicht vorliegenden Fall der Willkür abgesehen, ohne rechtliche Folgen.

Das Arbeitsgericht hat dem Antrag stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat die hiergegen nur vom beteiligten Betriebsrat erhobene Beschwerde zurückgewiesen und die Rechtsbeschwerde zugelassen. Mit seiner Rechtsbeschwerde erstrebt der Betriebsrat weiterhin die Zurückweisung des Antrags. Der Antragsteller beantragt, die Rechtsbeschwerde zurückzuweisen. Die beteiligte Arbeitgeberin und der beteiligte stellvertretende Betriebsratsvorsitzende haben keine Anträge gestellt.

 

Entscheidungsgründe

B. Die Rechtsbeschwerde ist nicht begründet. Das Landesarbeitsgericht hat in der Wahl des Beteiligten zu 4 zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden mit Recht einen Verstoß gegen § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG gesehen, der zur Anfechtbarkeit der Wahl führt.

1. Nach § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG sollen, wenn der Betriebsrat aus Vertretern der Gruppe der Arbeiter und der Gruppe der Angestellten besteht, der Betriebsratsvorsitzende und sein Vertreter nicht derselben Gruppe angehören. Welche Rechtsfolge ein Verstoß gegen diese Sollvorschrift nach sich zieht, hat der Gesetzgeber nicht ausdrücklich geregelt. Hieraus kann jedoch nicht geschlossen werden, eine Verletzung dieser Vorschrift solle sanktionslos bleiben, weil es sich nur um eine Sollvorschrift und nicht um eine absolut zwingende, keine Ausnahme zulassende Mußvorschrift handelt. Auch für Verstöße gegen Mußvorschriften bei betriebsratsinternen Wahlen hat es der Gesetzgeber an einer ausdrücklichen Rechtsfolgenregelung fehlen lassen. Das gilt namentlich für die ebenfalls dem Gruppenschutz dienenden zwingenden Vorschriften § 26 Abs. 2, § 27 Abs. 2 und § 38 Abs. 2 Satz 3 und 4 BetrVG.

Eine besondere Rechtsfolgenregelung bei Verstößen gegen Wahlvorschriften enthält das Gesetz nur in § 19 BetrVG für die Betriebsratswahl selbst, die binnen einer Frist von zwei Wochen seit Bekanntgabe des Wahlergebnisses beim Arbeitsgericht angefochten werden kann. Das bedeutet, daß auch ein Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften grundsätzlich nicht zur Nichtigkeit der Betriebsratswahl führt, sondern sich auf die Wahl nur auswirkt, wenn diese fristgerecht von einem nach § 19 Abs. 2 BetrVG Anfechtungsberechtigten gerichtlich angefochten wird. Aber auch im Falle einer erfolgreichen Wahlanfechtung bleibt der Betriebsrat bis zur Rechtskraft der die Wahl für ungültig erklärenden gerichtlichen Entscheidung mit allen betriebsverfassungsrechtlichen Befugnissen im Amt; die gerichtliche Entscheidung hat rechtsgestaltenden Charakter und wirkt nur für die Zukunft (BAG Beschluß vom 13. März 1991 – 7 ABR 5/90 – EzA § 19 BetrVG 1972 Nr. 29, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung des Gerichts bestimmt). Diese gesetzliche Rechtsfolgenregelung dient der Rechtssicherheit. Mit der betriebsverfassungsrechtlichen Stellung und Bedeutung des Betriebsrates wäre es unvereinbar, wenn die Gültigkeit seiner Wahl immer wieder in Zweifel gezogen werden könnte und es längere Zeit ungewiß bliebe, ob der Betriebsrat überhaupt rechtmäßig amtiert. Deshalb nimmt es der Gesetzgeber im Interesse einer funktionierenden Betriebsverfassung hin, daß auch der unter Verstoß gegen wesentliche Wahlvorschriften gewählte Betriebsrat endgültig im Amt bleibt, wenn die Wahl nicht rechtzeitig angefochten wird, und daß er bei erfolgreicher Anfechtung sein Amt erst mit der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung verliert. Angesichts der Sonderregelung des § 19 BetrVG kann die Nichtigkeit einer Betriebsratswahl, die jederzeit von jedermann geltend gemacht werden könnte, nur bei so schwerwiegenden offensichtlichen Gesetzesverstößen angenommen werden, daß nicht einmal der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl vorliegt. Zugunsten eines aus solchen Wahlen hervorgegangenen Betriebsrates ist ein Vertrauensschutz nicht geboten; vielmehr ist die Wahl von vornherein ungültig, so daß die Gewählten nicht die Rechtsstellung von Betriebsratsmitgliedern erlangen (BAG Beschluß vom 27. April 1976 – 1 AZR 482/75 – AP Nr. 4 zu § 19 BetrVG 1972; BAGE 44, 57, 60 = AP Nr. 10 zu § 19 BetrVG 1972, zu II 2a der Gründe, mit weiteren Nachweisen).

Das Fehlen einer entsprechenden Anfechtungsregelung für betriebsratsinterne Wahlen kann nicht bedeuten, daß ein Gesetzesverstoß bei solchen Wahlen stets und ohne weiteres die Nichtigkeit der Wahl zur Folge haben müßte. Gerade die Wahl des Betriebsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters, um die es hier geht, sind Organisationsakte, die die Funktionsfähigkeit des Betriebsrates erst herstellen. Der Betriebsratsvorsitzende oder im Falle seiner Verhinderung sein Stellvertreter beruft die Sitzungen des Betriebsrats ein, setzt die Tagesordnung fest und leitet die Verhandlung, er hat die Betriebsratsmitglieder zu den Sitzungen rechtzeitig unter Mitteilung der Tagesordnung zu laden (§ 29 Abs. 2 BetrVG); er vertritt den Betriebsrat im Rahmen der von ihm gefaßten Beschlüsse und ist zur Entgegennahme der dem Betriebsrat gegenüber abzugebenden Erklärungen berechtigt (§ 26 Abs. 3 BetrVG). Wäre die Wahl des Vorsitzenden oder seines Stellvertreters bei einem Verstoß gegen Wahlvorschriften ohne weiteres von Anfang an nichtig, so könnte ein fehlerhaft gewählter Vorsitzender keine Betriebsratssitzung einberufen, keine Tagesordnung festsetzen und keine Betriebsratssitzung leiten. Die Arbeit des Betriebsrates wäre in einem solchen Falle weitgehend lahmgelegt. Bei Zweifeln darüber, ob die Wahl unter Verstoß gegen Wahlvorschriften erfolgt ist und ob das Wahlergebnis durch den Verstoß beeinflußt werden konnte, bliebe bis zu einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung in der Schwebe, ob der Gewählte überhaupt berechtigt war, Vorsitzendenfunktionen auszuzüben, und ob die Beschlüsse, die der Betriebsrat in den von ihm unter Festsetzung der Tagesordnung einberufenen Sitzungen gefaßt hat, wirksam sind oder nicht. Ein solcher Schwebezustand, der unter Umständen lange andauern könnte, weil die gerichtliche Geltendmachung der Nichtigkeit nicht an Fristen gebunden ist, wäre mit einer funktionierenden Betriebsverfassung unvereinbar. Die hier erforderliche Rechtssicherheit gebietet es deshalb, die Rechtsfolge der Nichtigkeit der Wahl des Betriebsratsvorsitzenden oder seines Stellvertreters ebenso wie bei der Wahl des Betriebsrates selbst auf besonders krasse Fälle von Gesetzesverstößen zu beschränken, bei denen nicht einmal der Anschein einer dem Gesetz entsprechenden Wahl vorliegt, im übrigen aber in entsprechender Anwendung des § 19 BetrVG nur die fristgebundene Anfechtung beim Arbeitsgericht zuzulassen mit der Folge, daß der fehlerhaft gewählte Betriebsratsvorsitzende oder sein Stellvertreter bis zur Rechtskraft der die Wahl für unwirksam erklärenden gerichtlichen Entscheidung im Amt bleibt. Diese Auffassung hat auch bereits der Erste Senat des Bundesarbeitsgerichts in seinem Beschluß vom 12. Oktober 1976 (BAGE 28, 219 = AP Nr. 2 zu § 26 BetrVG 1972) für den Fall eines Verstoßes gegen die Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG vertreten und dies ebenfalls mit Erfordernissen der Rechtssicherheit begründet. Dem ist das Schrifttum weitgehend gefolgt (Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 16. Aufl., § 26 Rz 46 ff.; Wiese, GK-BetrVG, 4. Aufl., § 26 Rz 25 ff.; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 3. Aufl., § 26 Rz 22; Galperin/Löwisch, BetrVG, 6. Aufl., § 26 Rz 43; Stege/Weinspach, BetrVG, 6. Aufl., § 26 Rz 2a; Blanke in Däubler/Kittner/Klebe/Schneider, BetrVG, 3. Aufl., § 26 Rz 13, 41; a.M. Dietz/Richardi, BetrVG, 6. Aufl., § 26 Rz 11 und Anmerkung zu AP Nr. 2 zu § 26 BetrVG 1972).

Im vorliegenden Falle ist die zweiwöchige Anfechtungsfrist des § 19 Abs. 2 Satz 2 BetrVG gewahrt. Die am 6. April 1990 erfolgte Wahl des Beteiligten zu 4 zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden hat der Antragsteller am 11. April 1990 beim Arbeitsgericht angefochten.

Der Antragsteller ist als Betriebsratsmitglied auch anfechtungsbefugt. Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 BetrVG sind zur Anfechtung einer Betriebsratswahl mindestens drei Wahlberechtigte, eine im Betrieb vertretene Gewerkschaft oder der Arbeitgeber berechtigt. Inwieweit bei einer entsprechenden Anwendung des § 19 BetrVG auf eine betriebsratsinterne Wahl der Kreis der Anfechtungsberechtigten anders gezogen werden müßte, ob insbesondere auch der Arbeitgeber anfechtungsberechtigt wäre, braucht nicht hier entschieden zu werden. Jedenfalls muß bei einer betriebsratsinternen Wahl an die Stelle der Anfechtungsbefugnis von drei wahlberechtigten Arbeitnehmern die Anfechtungsbefugnis eines einzelnen Betriebsratsmitgliedes treten. Die Mindestzahl von drei Wahlberechtigten kann auf betriebsratsinterne Wahlen nicht übertragen werden. Wenn das Gesetz die Wahlanfechtungsbefugnis des einzelnen Wahlberechtigten bei Betriebsratswahlen daran knüpft, daß außer ihm noch mindestens zwei weitere wahlberechtigte Arbeitnehmer die Wahl anfechten, so soll dieses Erfordernis sicherstellen, daß die Wahlanfechtung des einzelnen Arbeitnehmers wirklich ernst zu nehmen ist und der Fortbestand des gewählten Betriebsrats nicht durch eine querulatorische Wahlanfechtung unnötig in der Schwebe gehalten wird (BAGE 61, 125, 131 = AP Nr. 17 zu § 19 BetrVG 1972). Die Gefahr einer querulatorischen Wahlanfechtung ist bei der Anfechtung betriebsratsinterner Wahlen durch Mitglieder des Betriebsrates weitaus geringer, so daß hier die Wahlanfechtung durch ein Betriebsratsmitglied genügen muß. Das ist aber auch deswegen geboten, weil sonst bei kleineren Betriebsräten eine Wahlanfechtung durch eine überstimmte Minderheit von Betriebsratsmitgliedern gar nicht möglich wäre.

2. Das Landesarbeitsgericht hat die Wahlanfechtung auch mit Recht wegen eines Verstoßes gegen § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG durchgreifen lassen.

Bei seiner rechtlichen Würdigung ist das Landesarbeitsgericht zutreffend davon ausgegangen, daß eine Verletzung dieser Sollvorschrift, nach der der Betriebsratsvorsitzende und sein Stellvertreter nicht derselben Arbeitnehmergruppe angehören sollen, nicht erst dann vorliegt, wenn von ihr willkürlich abgewichen wird, sondern schon dann, wenn für die Abweichung keine vernünftigen, einsichtigen Gründe gegeben sind. Das entspricht der Rechtsprechung des Ersten Senats des Bundesarbeitsgerichts (Beschluß vom 12. Oktober 1976, BAGE 28, 219 = AP Nr. 2 zu § 26 BetrVG 1972), der hierzu auf die Bedeutung des sich aus dem Betriebsverfassungsgesetz ergebenden Gruppenprinzips hingewiesen hat, die es nicht zulasse, daß ein Übergehen der Sollvorschrift ohne gewichtige sachliche Gründe sanktionslos bleibe. Dem schließt sich der erkennende Senat an, zumal der Gruppenschutz durch die Novelle zum Betriebsverfassungsgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl. I, S. 2312) noch weiter verstärkt worden ist.

Nachdem im vorliegenden Falle ein Angehöriger der Gruppe der Arbeiter zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt worden war, hätte deshalb von der Wahl eines Mitglieds der Angestelltengruppe zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden nur aus gewichtigen sachlichen Gründen abgesehen werden dürfen. An solchen Gründen fehlt es hier jedoch.

Der Betriebsrat hat als Grund für das Abweichen von der Sollbestimmung des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG geltend gemacht, der der Angestelltengruppe zugehörige Antragsteller komme als stellvertretender Betriebsratsvorsitzender nicht in Betracht, weil er als Obermeister delegierte Arbeitgeberbefugnisse wahrnehme, acht Meister dirigiere und zumindest inhaltlich über Kündigungen und Abmahnungen zu entscheiden habe. Diese Umstände hat das Landesarbeitsgericht mit Recht nicht ausreichen lassen. Daß der Antragsteller eine herausgehobene Vorgesetztenstellung innehat und insoweit Arbeitgeberfunktionen wahrnimmt, stellt für sich allein keinen gewichtigen sachlichen Grund für eine Durchbrechung der Regel des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG dar.

Unstreitig ist der Antragsteller kein leitender Angestellter im Sinne von § 5 Abs. 3 BetrVG, so daß seiner Wahl in den Betriebsrat wegen seiner Funktionen im Betrieb keine rechtlichen Hindernisse entgegenstanden. Die Wahrnehmung von Arbeitgeberfunktionen als Vorgesetzter unterhalb der Ebene der leitenden Angestellten hat keinen Einfluß auf die Zugehörigkeit des betreffenden Angestellten zur vom Betriebsrat repräsentierten Belegschaft und schränkt weder seine Wahlberechtigung noch seine Wählbarkeit zum Betriebsrat ein. Das Gesetz überläßt es vielmehr der Belegschaft selbst, ob sie einem solchen Angestellten trotz seiner herausgehobenen Vorgesetztenstellung zutraut, ihre Interessen wirksam gegenüber dem Arbeitgeber zu vertreten und ihn deshalb in den Betriebsrat wählt. Steht aber die Vorgesetztenstellung des Antragstellers seiner Eignung als Betriebsratsmitglied nicht entgegen und schränkt sie auch seine Rechte und Pflichten als Betriebsratsmitglied nicht ein, so könnte sie eine Durchbrechung des Gruppenprinzips bei der Wahl des Betriebsratsvorsitzenden oder seines Stellvertreters sachlich nur rechtfertigen, wenn sie seine Eignung gerade für die besonderen Aufgaben eines Betriebsratsvorsitzenden in Frage stellen oder einschränken könnte. Das ist hier jedoch nicht ersichtlich. Eine vom Betriebsrat befürchtete Interessenkollision zwischen seiner Stellung als Obermeister und als Betriebsratsmitglied könnte sich zwar bei den Entscheidungen des Betriebsrates selbst ergeben; bei diesen Entscheidungen steht aber jedem Betriebsratsmitglied dasselbe Stimmrecht zu; der Betriebsratsvorsitzende oder sein Stellvertreter haben in diesem Zusammenhang keine herausgehobene Stellung. Der Betriebsratsvorsitzende vertritt den Betriebsrat nur im Rahmen der von ihm gefaßten Beschlüsse, an denen auch der Antragsteller mitzuwirken berechtigt ist (§ 26 Abs. 3 BetrVG); er beruft die Sitzungen des Betriebsrates ein, setzt die Tagesordnung fest und leitet die Verhandlungen des Betriebsrates (§ 29 Abs. 2 und 3 BetrVG). Daß sich bei der Wahrnehmung dieser Vorsitzendenaufgaben derartige Interessenkollisionen ergeben und sich auf sie negativ auswirken könnten, ist ernsthaft nicht zu besorgen.

Es stellt schließlich auch keinen einsichtigen, vernünftigen Grund für die Abweichung von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG dar, daß der Antragsteller nach der Durchführung der Wahl des Betriebsratsvorsitzenden und seines Stellvertreters geäußert haben soll, er hätte angesichts seiner sonstigen Aufgaben ohnehin nicht genügend Zeit für die Aufgabe eines stellvertretenden Vorsitzenden gehabt. Diese angebliche Äußerung des Antragstellers ist schon deswegen rechtlich unerheblich, weil es auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Wahl des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden ankommt. Zudem hatte der Antragsteller seiner Benennung als Bewerber für das Amt des stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden auch nicht widersprochen.

Sonstige Umstände, die hier ausnahmsweise ein Abweichen von der Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG rechtfertigen könnten, liegen nicht vor.

3. Da hiernach die Wahl des Beteiligten zu 4 zum stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden gegen die Sollvorschrift des § 26 Abs. 1 Satz 2 BetrVG verstößt, mußte die Wahlanfechtung Erfolg haben. Dies führt jedoch nicht – wie im angefochtenen Beschluß in Übereinstimmung mit dem erstinstanzlichen Beschluß geschehen – zur Feststellung der Unwirksamkeit der Wahl, sondern dazu, daß die Wahl durch rechtsgestaltende Entscheidung für unwirksam zu erklären ist. Mit dieser Maßgabe war die Rechtsbeschwerde gegen den angefochtenen Beschluß des Landesarbeitsgerichts zurückzuweisen.

 

Unterschriften

Dr. Seidensticker, Kremhelmer, Schliemann, Trettin, Dr. Gerschermann

 

Fundstellen

BAGE, 41

BB 1992, 2429

JR 1993, 88

NZA 1992, 944

RdA 1992, 282

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