Leitsatz (redaktionell)

(Folgen der Verfassungswidrigkeit des § 622 Abs 2 Satz 2 BGB)

Die verfassungswidrige Vorschrift des § 622 Abs 2 S 2 Halbsatz 2 BGB ist, wenn die vom Arbeitnehmer angegriffene Kündigung dem Grunde nach gerechtfertigt ist, mit der Maßgabe vorläufig weiter anzuwenden, daß im Beendigungsrechtsstreit durch Teilurteil das Ende des Arbeitsverhältnisses jedenfalls nicht vor Ablauf der Frist festgestellt wird, die sich aus der Beschäftigungszeit nach Vollendung des 35. Lebensjahres ergibt. Da die Festlegung des endgültigen Zeitpunktes der Beendigung des Arbeitsverhältnisses zur Zeit noch nicht möglich ist, muß der Rechtsstreit im übrigen bis zur gesetzlichen Neuregelung des § 622 Abs 2 S 2 Halbsatz 2 BGB ausgesetzt werden (Bestätigung des Senatsbeschlusses vom 28. Februar 1985 - 2 AZR 403/83 - zur Veröffentlichung vorgesehen).

 

Normenkette

GG Art. 3 Abs. 1; BGB § 622 Abs. 2 S. 2 Hs. 2

 

Verfahrensgang

LAG Berlin (Entscheidung vom 12.09.1984; Aktenzeichen 1 Sa 8/84)

ArbG Berlin (Entscheidung vom 06.04.1984; Aktenzeichen 51 Ca 6/84)

 

Gründe

I. Der am 9. April 1945 geborene Kläger war seit März 1970 bei der Beklagten als Feinblechner mit einer monatlichen Vergütung von zuletzt 2.781,84 DM brutto beschäftigt. Mit Schreiben vom 30. Dezember 1983, zugegangen am selben Tage, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis des Klägers zum 31. Januar 1984 aus dringenden betrieblichen Gründen.

Der Kläger ist der Meinung, die Beklagte hätte eine Kündigungsfrist von zwei Monaten zum Monatsende einhalten müssen, nachdem das Bundesverfassungsgericht mit Beschluß vom 16. November 1982 festgestellt habe, daß die Bestimmung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB verfassungswidrig sei. Die vom Gesetzgeber bislang nicht vollzogene Angleichung des Kündigungsschutzes für ältere und lang beschäftigte gewerbliche Arbeitnehmer müsse daher entsprechend dem Angestelltenkündigungsschutzgesetz vorgenommen werden.

Der Kläger begehrt daher die Feststellung, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung der Beklagten vom 30. Dezember 1983 erst zum 29. Februar 1984 aufgelöst worden ist, sowie die Zahlung der Vergütung für Februar 1984 in Höhe von 2.781,84 DM brutto.

Die Beklagte hat Klagabweisung beantragt und geltend gemacht, daß bis zur gesetzlichen Neuregelung der Kündigungsfristen von den bisher geltenden Kündigungsfristen auszugehen sei. Diese habe sie aber eingehalten.

Beide Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Kläger sein Klageziel weiter.

II. Der Rechtsstreit war bis zum Inkrafttreten einer gesetzlichen Neuregelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB auszusetzen.

1. Nach dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 16. November 1982 (BVerfGE 62, 256 = AP Nr. 16 zu § 622 BGB) ist es mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar, bei der Berechnung der für die verlängerten Kündigungsfristen maßgeblichen Beschäftigungsdauer eines Arbeiters Zeiten nicht zu berücksichtigen, die vor der Vollendung des 35. Lebensjahres liegen, während bei einem Angestellten bereits Zeiten nach Vollendung des 25. Lebensjahres mitgerechnet werden.

2. Im Schrifttum und in der Rechtsprechung der Instanzgerichte ist streitig, welche Auswirkungen diese Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf Bestandsstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und gewerblichen Arbeitnehmern hat, die nach Vollendung des 25. Lebensjahres dem Betrieb weitere fünf Jahre angehört haben und dann wirksam ordentlich gekündigt worden sind.

Es wird sowohl die Auffassung vertreten, daß die verfassungswidrige Vorschrift des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB bis zu einer gesetzlichen Neuregelung unverändert weiter anzuwenden sei (LAG Düsseldorf, DB 1983, 2042; LAG Schleswig-Holstein, DB 1984, 1482; LAG Berlin, EzA § 622 BGB n. F. Nr. 19 = NZA 1984, 359; Kranz, NZA 1984, 348 ff.), als auch die entgegengesetzte Meinung, wonach schon vor einer gesetzlichen Neuregelung wie bei Angestellten auch bei Arbeitern die Zeiten der Betriebszugehörigkeit nach der Vollendung des 25. Lebensjahres zu berücksichtigen seien (LAG Hamm, NZA 1984, 89; LAG Niedersachsen, EzA § 622 BGB n. F. Nr. 20; ArbG Heilbronn, DB 1983, 2366; Kraushaar, AuR 1983, 142 ff.). Eine vermittelnde Meinung geht dagegen dahin, § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB mit dem Vorbehalt weiter anzuwenden, daß die Entscheidung über den sich daraus ergebenden Kündigungstermin nicht zu endgültigen Ergebnissen führen dürfe, die möglicherweise ungünstiger sind als die durch die gesetzliche Neuregelung gebotene Änderung des zeitlichen Bestandsschutzes für ältere Arbeiter (Schaub, Arbeitsrechts- Handbuch, 5. Aufl., § 124 II 2 b, S. 765 f.; KR-Hillebrecht, 2. Aufl., § 622 BGB Rz 112 a; ArbG Wiesbaden, DB 1983, 2367). Wenn es in einem Kündigungsrechtsstreit für die Länge der Kündigungsfrist also auf den Beginn der anzurechnenden Betriebszugehörigkeit für ältere Arbeiter ankomme, so sei daher durch Teilurteil festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis durch die Kündigung des Arbeitgebers jedenfalls nicht vor Ablauf des sich aus § 622 Abs. 2 BGB ergebenden Termins beendet worden sei; im übrigen sei aber der Rechtsstreit bis zur gesetzlichen Neuregelung auszusetzen.

3. Der vermittelnden Meinung hat sich der Senat angeschlossen und in dem Beschluß vom 28. Februar 1985 (- 2 AZR 403/83 -, zur Veröffentlichung vorgesehen) zur Begründung u. a. ausgeführt, die unveränderte und vorbehaltlose Weiteranwendung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB widerspreche dem Grundsatz, daß auch eine Norm, die das Bundesverfassungsgericht zwar nicht für nichtig, aber als mit der Verfassung nicht vereinbar erklärt hat, grundsätzlich nicht mehr anzuwenden ist (BVerfGE 22, 349, 363; 37, 217, 261; 55, 100, 110; BAG 37, 352, 354). Eine Ausnahmesituation, die gleichwohl eine vorübergehende Weiteranwendung dieser verfassungswidrigen Norm unabweislich mache, bestehe im Falle des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB aber nur insoweit, als in Bestandsstreitigkeiten, in denen es bei an sich wirksamen Kündigungen nur um den "richtigen" Beendigungszeitpunkt gehe, wegen der damit verbundenen unerträglichen Rechtsunsicherheit nicht bis zur gesetzlichen Regelung jede gerichtliche Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung unterbleiben dürfe. Die deswegen gebotene vorläufige weitere Anwendung des § 622 Abs. 2 BGB dürfe aber nicht zu einer endgültigen Entscheidung führen, die den älteren Arbeitnehmer von einer möglicherweise günstigeren rückwirkenden gesetzlichen Neuregelung ausschließe (Heußner, NJW 1982, 258; KR-Hillebrecht, aaO). Eine vorübergehende Anwendung des Angestelltenkündigungsschutzgesetzes vom 9. Juli 1926, nämlich ein Abstellen auf die Vollendung des 25. Lebensjahres auch bei älteren Arbeitern, die die Aussetzung des Rechtsstreits entbehrlich machen würde, verbiete sich schon deshalb, weil keine durch Richterrecht auszufüllende Gesetzeslücke vorliege, sondern dem Gesetzgeber mehrere Wege offenstünden, die von der Verfassung geforderte Gleichheit der Rechtsstellung älterer Angestellter und Arbeiter zu verwirklichen. Es gehe, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluß vom 16. November 1982 (aaO) betont habe, schließlich nicht um die Übernahme des § 2 AngKSchG auf die älteren Arbeiter, sondern um die verfassungsgerechte Ausgestaltung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB durch den Gesetzgeber. Die Einbeziehung der Betriebszugehörigkeit vom vollendeten 25. Lebensjahr bei der Berechnung der verlängerten Kündigungsfristen für Arbeiter würde sich daher als ein unzulässiger Vorgriff und Eingriff in die Kompetenz des Gesetzgebers darstellen.

4. Von dieser dargelegten und in den Beschlüssen vom 28. Februar 1985 (aaO) näher begründeten Auffassung abzuweichen, besteht für den Senat auch unter Berücksichtigung der vom Landesarbeitsgericht im angefochtenen Urteil angeführten Argumente kein Anlaß, zumal im Hinblick auf den von der SPD-Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf zur Vereinheitlichung der Kündigungsfristen von Arbeitern und Angestellten (Zweites Arbeitsrechtsbereinigungsgesetz) vom 8. Oktober 1985 (BT-Drucksache 10/3983), der in Art. 7 § 1 für bis zum 31. Dezember 1986 ausgesprochene Kündigungen von Arbeitern auch eine Übergangsregelung vorsieht, mit einer gesetzlichen Neuregelung in absehbarer Zeit gerechnet werden kann. Für den Senat besteht daher z. Zt. keine Veranlassung, seine ablehnende Auffassung bezüglich einer Lückenausfüllung durch Richterrecht erneut zu überprüfen.

Der Rechtsstreit ist daher bis zu der zu erwartenden Neuregelung des § 622 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 BGB auszusetzen.

Hillebrecht Dr. Röhsler Triebfürst

Dr. Hautmann Thieß

 

Fundstellen

Haufe-Index 438100

BB 1986, 804-805 (LT1)

RdA 1986, 139

RzK, I 3b Nr 3 (LT1)

SAE 1988, 44-45 (LT)

AP § 622 BGB (LT1), Nr 22

AP § 622 BGB, Nr 22

ArbuR 1986, 1291

EzA § 622 nF BGB, Nr 23

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