Aus der Rechtsprechung des BAG folgt, dass eine Abmahnung in Ansehung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann entbehrlich ist, wenn eine Verhaltensänderung in Zukunft selbst nach einer Abmahnung nicht zu erwarten ist oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzungen handelt, dass eine Hinnahme des Verhaltens durch den Arbeitgeber offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. Dies gilt auch bei Störungen im Vertrauensbereich[1]. Typische Beispiele hierfür sind grundsätzlich strafbare Handlungen des Arbeitnehmers zum Nachteil des Arbeitgebers.

Dies gilt jedoch seit dem sog. Fall "Emmely"[2] nicht mehr ohne Weiteres. Das BAG hält zwar an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, wonach rechtswidrige und vorsätzliche Handlungen des Arbeitnehmers, die sich unmittelbar gegen das Vermögen des Arbeitgebers richten, auch dann einen wichtigen Grund zur außerordentlichen Kündigung sein können, wenn die Pflichtverletzung Sachen von nur geringem Wert betrifft oder nur zu einem geringfügigen, möglicherweise zu gar keinem Schaden geführt hat. Da es jedoch im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen keine absoluten Kündigungsgründe (also ohne vorhergehende Abmahnung) gebe, bedürfe es stets einer umfassenden, auf den Einzelfall bezogenen Interessenabwägung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit.

Im vorliegenden Fall (Einlösung nicht abgezeichneter Leergutbons im Wert von 1,30 EUR) sei dem Arbeitgeber angesichts der mehr als 30 Jahre andauernden beanstandungsfreien Tätigkeit der Klägerin als Verkäuferin und Kassiererin eine Abmahnung als milderes Mittel gegenüber der außerordentlichen und hilfsweise erklärten ordentlichen Kündigung zumutbar gewesen.

Ein halbes Jahr später hat derselbe Senat die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung trotz langjähriger Beschäftigung der Klägerin (allerdings "nur" 13 Jahre) und trotz der Erstmaligkeit des Vorfalls (missbräuchliche Verwendung von Gutscheinen für Personaleinkauf i. H. v. 36 EUR) bestätigt. Eine Abmahnung sei entbehrlich und auch die Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist sei dem Arbeitgeber nicht zumutbar. Auch diese Klägerin war Verkäuferin und Kassiererin.[3]

Der Praxis ist unbedingt zu empfehlen, auch in scheinbar "eindeutigen" Fällen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu prüfen, ob eine mildere Maßnahme als die fristlose Kündigung möglich und zumutbar ist. Dies gilt insbesondere dann, wenn – wie in dem vom BAG entschiedenen Emmely-Fall – eine sehr lange Beschäftigungszeit und gleichzeitig ein dementsprechend langes, bis zum Kündigungsvorfall ungestörtes Vertrauensverhältnis vorliegt.

Dies hat das BAG später bestätigt.[4] Selbst bei einer schwerwiegenden Pflichtverletzung, die als wichtiger Grund i. S. v. § 626 Abs. 1 BGB in Betracht kommt, hat unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine Bewertung des Einzelfalls zu erfolgen. Zu berücksichtigen sind dabei regelmäßig das Gewicht und die Auswirkungen der Pflichtverletzung, der Grad des Verschuldens des Beschäftigten, eine mögliche Wiederholungsgefahr sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses und dessen störungsfreier Verlauf.

In dem konkreten Fall ging es um eine sexuelle Belästigung i. S. v. § 3 Abs. 4 AGG. Das Gesetz differenziert auch insoweit nach den im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen des Arbeitgebers zur Unterbindung der Benachteiligung (§ 12 Abs. 3 AGG).

Praktische Konsequenz

Eine außerordentliche Kündigung kommt nur in Betracht, wenn es keinen angemessenen Weg gibt, das Arbeitsverhältnis fortzusetzen, weil dem Arbeitgeber sämtliche milderen Reaktionsmöglichkeiten unzumutbar sind.

Eine Abmahnung ist nur dann entbehrlich, wenn sie nicht Erfolg versprechend ist. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Arbeitnehmer offensichtlich nicht gewillt ist, sich vertragsgerecht zu verhalten. Kennt er die Pflichtwidrigkeit seines Verhaltens, setzt er aber gleichwohl hartnäckig sein Fehlverhalten fort, dann geht die Warnfunktion der Abmahnung ins Leere. Da der Arbeitnehmer in solchen Fällen erkennbar nicht gewillt ist, sein Verhalten zu ändern, müsste der Arbeitgeber auch bei Erteilung einer Abmahnung mit weiteren Pflichtverletzungen des Arbeitnehmers rechnen.

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