1 Überblick zum Urteil des BVerG vom 11.7.2017

1.1 Gegenstand des Verfahrens: das Tarifeinheitsgesetz

Gegenstand des Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) war das Gesetz zur Tarifeinheit vom 3.7.2015 (Tarifeinheitsgesetz, BGBl I S. 1130). Nachdem das BAG im Jahr 2010 seine Rechtsprechung zur Tarifeinheit aufgab, griff der Gesetzgeber die Diskussion auf und schuf eine gesetzliche Regelung mit dem Ziel, "den Koalitions- und Tarifpluralismus in geordnete Bahnen zu lenken".[1]

Die Vorschriften des Tarifeinheitsgesetzes regeln Konflikte im Zusammenhang mit der Geltung mehrerer Tarifverträge in einem Betrieb. Das Tarifeinheitsgesetz richtet sich nicht gegen die Tarifpluralität als solche, sondern regelt die Auflösung von Tarifkollisionen. Eine Tarifkollision liegt vor, wenn in einem Betrieb nicht inhaltsgleiche Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften für dieselben Beschäftigtengruppen gelten. Dies ist z. B. in kommunalen Krankenhäusern und Universitätskliniken gegeben, weil sowohl der zwischen den Arbeitgeberverbänden und der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di abgeschlossene TVöD bzw. TV-L als auch die mit der Gewerkschaft Marburger Bund abgeschlossenen Ärzte-Tarifverträge Tarifregelungen für Ärztinnen und Ärzte enthalten.

Überschneiden sich in einem Betrieb für dieselbe Beschäftigtengruppe divergierende Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften, wird die Tarifkollision im Betrieb nach einem betriebsbezogenen Mehrheitsprinzip aufgelöst. Nach dem Tarifeinheitsgesetz ist grundsätzlich nur der Tarifvertrag derjenigen Gewerkschaft anwendbar, die im Betrieb die meisten in einem Arbeitsverhältnis stehenden Mitglieder hat. Der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft wird verdrängt.

Das Tarifeinheitsgesetz zielt in erster Linie darauf, Vorwirkungen zu entfalten (vgl. BT-Drucks. 18/4026, S. 9, 15). Die drohende Verdrängung eines Tarifvertrags durch den Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft soll für die Gewerkschaften strukturelle Anreize setzen, die Organisation und Durchsetzung gewerkschaftlicher Interessen so zu gestalten, dass Tarifkollisionen nach Möglichkeit vermieden werden.

[1] Deutschlands Zukunft gestalten – Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – 18. Legislaturperiode, S. 50.

1.2 Inhalt der Entscheidung: Tarifeinheitsgesetz nach Maßgabe bestimmter Vorgaben weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar

Mit dem Urteil vom 11.7.2017[1] hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) entschieden, dass die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar sind.[2] Die Auslegung und Handhabung des Gesetzes müsse allerdings der in Art. 9 Abs. 3 GG grundrechtlich geschützten Tarifautonomie Rechnung tragen. Über im Einzelnen noch offene Fragen haben die Fachgerichte zu entscheiden.

Unvereinbar sei das Gesetz mit der Verfassung insoweit, als Vorkehrungen dagegen fehlen, dass die Belange der Angehörigen einzelner Berufsgruppen oder Branchen bei der Verdrängung bestehender Tarifverträge einseitig vernachlässigt werden. Der Gesetzgeber müsse insofern Abhilfe schaffen. Bis zu einer Neuregelung dürfe ein Tarifvertrag im Fall einer Kollision im Betrieb nur verdrängt werden, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft ernsthaft und wirksam in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Das Gesetz bleibe mit dieser Maßgabe ansonsten weiterhin anwendbar. Die Neuregelung sei bis zum 31.12.2018 zu treffen.

Mit seinem Urteil vom 11.7.2017 hat das BVerfG über 5 der insgesamt 11 beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerden entschieden. Geklagt hatten u. a. der Marburger Bund, der dbb beamtenbund und tarifunion (dbb), die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, die Nahverkehrsgewerkschaft (NahVG), die Vereinigung Cockpit e. V. sowie die Unabhängige Flugbegleiter Organisation e. V. (UFO).

Das BVerfG hat das Tarifeinheitsgesetz in weiten Teilen mit dem Grundrecht der Gewerkschaften und ihrer Mitglieder aus Art. 9 Abs. 3 GG als vereinbar angesehen. Durch die Regelungen werde zwar der Schutzgehalt des Art. 9 Abs. 3 GG beeinträchtigt, dies sei aber weitgehend gerechtfertigt.

Das BVerfG betont: Das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG vermittle kein Recht auf absolute tarifpolitische Verwertbarkeit von Schlüsselpositionen und Blockademacht zum eigenen Nutzen (Rn. 131[3]). Staatliche Maßnahmen, die darauf zielten, bestimmte Gewerkschaften aus dem Tarifgeschehen herauszudrängen oder bestimmten Gewerkschaftstypen, wie etwa Berufsgewerkschaften, generell die Existenzgrundlage zu entziehen, seien aber mit Art. 9 Abs. 3 GG unvereinbar (Rn. 132).

Die Regelungen des Tarifeinheitsgesetzes seien geeignet, das Ziel zu erreichen, auf der Arbeitnehmerseite ein koordiniertes und kooperatives Vorgehen in Tarifverhandlungen zu bewirken, auch wenn nicht gewiss ist, dass dieser Effekt tatsächlich erzielt wird – so das BVerfG wörtlich in Rn. 158 seiner Entscheidung. Insbesondere der Einwand, das Gesetz knüpfe an den Betrieb an – und nicht an das für die Tarifpolitik zentrale Unternehmen –, stelle die verfassungsrechtliche Eignung nicht infrage. Eine Lösung von Tarifkollisionen im Betrieb könne einen Beitrag dazu leisten, in Teilbereichen eine destruk...

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