Leitsatz (amtlich)

1. Ist zu erwarten, dass die Bank im Falle des Widerrufs eines Verbraucherdarlehensvertrags ihre die Ansprüche des Verbrauchers rechnerisch übersteigenden Ansprüche auf Herausgabe der gesamten Darlehensvaluta ohne Rücksicht auf eine (Teil-)Tilgung sowie auf Herausgabe von Wertersatz für Gebrauchsvorteile am jeweils tatsächlich noch überlassenen Teil der Darlehensvaluta (vgl. BGH, Beschluss vom 22.09.2015 - XI ZR 116/15, juris Rn. 7) geltend machen wird, kann dem Verbraucher in der Regel nicht zugemutet werden, die Last der weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht gänzlich unproblematischen Berechnung eigener Ansprüche zu übernehmen und im Wege der Zahlungsklage einen Rechtsstreit zu beginnen, an dessen Ende nicht die beantragte Verurteilung der Bank zu einer Leistung stehen wird. Die Möglichkeit der Leistungsklage beseitigt deshalb in solchen Fällen in der Regel nicht das Interesse des Verbrauchers an der gerichtlichen Feststellung (§ 256 I ZPO), dass der Darlehensvertrag durch den Widerruf in ein Rückabwicklungsverhältnis umgewandelt worden ist.

2. Das Deutlichkeitsgebot des § 355 II 1 BGB aF gebietet nicht, dass dem Verbraucher eine Belehrung über den Fristbeginn zuteilwird, die alle möglichen Varianten des Vertragsabschlusses gleichermaßen erfasst.

3. Allein auf die Erwägung, die erteilte Widerrufsbelehrung könnte im Falle ihrer Verwendung in einem anderen tatsächlichen Kontext Unklarheiten hinsichtlich des Fristbeginns hervorrufen, kann die Annahme, der Verbraucher sei auch in seiner hiervon abweichenden Situation über die Beginn der Frist zur Ausübung des Widerrufsrechts unrichtig belehrt worden, nicht gestützt werden.

4. Die fehlende Klarstellung in einer Widerrufsbelehrung, dass es auf den Erhalt des schriftlichen Antrags des Verbrauchers ankommt und ein früherer Zugang des schriftlichen Antrags des Unternehmers nicht geeignet ist, die Widerrufsfrist in Gang zu setzen (vgl. BGH, Urteil vom 10.03.2009 - XI ZR 33/08, juris Rn. 16), ist unschädlich, wenn im Falle eines so genannten "Präsenzgeschäfts" sämtliche relevanten Umstände zeitlich zusammenfallen.

5. Belehrt der Unternehmer den Verbraucher über die im Falle des Widerrufs zum Nachteil des Verbrauchers eintretenden Folgen nach § 357 I 2, 3, § 286 III BGB aF, ohne zugleich anzugeben, dass der Unternehmer diesen Folgen ebenfalls ausgesetzt ist, stellt dies jedenfalls dann keine einseitige Belehrung dar, wenn der vertraglichen Vereinbarung entsprechend der Verbraucher innerhalb der Widerrufsfrist keine Leistung zu erbringen hat, mit deren Erstattung der Unternehmer 30 Tage nach Zugang der Widerrufserklärung ohne Mahnung in Verzug geraten kann.

6. Übernimmt der Unternehmer das gesetzliche Muster nicht in einer hervorgehobenen und deutlich gestalteten Form, kommt ihm die Gesetzlichkeitsfiktion des Art. 247 § 6 II 3 EGBGB aF nicht zugute.

7. Das mit Anlage 6 zu Art. 247 § 6 II EGBGB aF zur Verfügung gestellte Informationsmuster enthält keine ausreichenden Angaben zur Widerrufsfrist. Die Information, die Widerrufsfrist beginne nach Abschluss des Vertrags, aber erst nach Erhalt aller Pflichtangaben nach § 492 II BGB, ermöglicht es dem Verbraucher nicht, den Fristbeginn verlässlich und mit zumutbarem Zeitaufwand zu ermitteln.

 

Normenkette

BGB § 286 Abs. 3, § 355 Abs. 2, § 357 Abs. 1 S. 2, §§ 3, 492 Abs. 2; BGB a.F. § 495 Abs. 2; EGBGB Art. 247 § 6 Abs. 2; ZPO § 256 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LG Nürnberg-Fürth (Urteil vom 04.08.2015; Aktenzeichen 10 O 9199/14)

 

Nachgehend

BGH (Urteil vom 17.04.2018; Aktenzeichen XI ZR 446/16)

 

Tenor

1. Die Berufungen der Parteien gegen das Teil-Endurteil des LG Nürnberg-Fürth vom 04.08.2015 werden mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass es in Ziffer IV der Entscheidungsformel dieses Urteils anstelle von 04773117642 heißen muss: 0473117642.

2. Von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Kläger jeweils 3/8 und die Beklagte 1/4.

3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Das in Ziffer 1 genannte Teil-Endurteil des LG Nürnberg-Fürth ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Jede Partei kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des von der anderen Partei aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn diese nicht vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.

4. Die Revision gegen dieses Urteil wird zugelassen.

 

Gründe

I. Die Parteien streiten über die Wirksamkeit des Widerrufs der auf den Abschluss mehrerer Immobiliardarlehensverträge gerichteten Vertragserklärungen der Kläger.

Die Parteien schlossen unter dem Datum des 03.04.2003 den Darlehensvertrag Nr. 0270598208 (Anlage K 1; später vergebene Nr.: 0273117642) über einen Nennbetrag von 39.000,00 EUR.

Die Parteien schlossen zwei weitere Darlehensverträge Nr. 0473117642 und 0573117642 vom 30.01.2007 (Anlagen K 2 und K 3) über jeweils 50.000,00 EUR. Die Abnahme der Darlehen sollte spätestens zum 24.01.2008 bzw. 01.09.2008 erfolgen. Den Berechnungen u.a. der Annuitäten la...

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