Entscheidungsstichwort (Thema)

Berücksichtigung von unstreitigem neuen tatsächliches Vorbringen in der Berufungsinstanz

 

Leitsatz (amtlich)

In der Berufungsinstanz ist neues tatsächliches Vorbringen jedenfalls dann zu berücksichtigen, wenn es unstreitig ist und eine Zurückweisung zu einer evident unrichtigen Entscheidung führen würde (OLG Hamm v. 10.2.2003 – 18 U 93/02, MDR 2003, 650 = NJW 2003, 2325 f.).

 

Verfahrensgang

LG Köln (Urteil vom 11.06.2003; Aktenzeichen 23 O 317/01)

 

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des LG Köln vom 11.6.2003 (23 O 317/01) teilweise abgeändert und wie folgt gefasst:

Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin zu zahlen:

  • 5.062,32 Euro,
  • ab 1.5.2003 bis längstens zum 1.1.2022monatlich je 151,75 Euro zzgl. einer bedingungsgemäß anfallenden Überschussbeteiligung,
  • Zinsen i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 1 DÜG aus 691,00 Euro seit dem 25.10.2000, aus weiteren 138,20 Euro monatlich für die Zeit vom 1.11.2000 bis 31.12.2000, aus weiteren je 142,90 Euro monatlich für die Zeit vom 1.1.2001 bis 31.12.2001, aus weiteren je 147,76 Euro monatlich für die Zeit vom 1.1.2002 bis 31.12.2002 und aus weiteren je 151,75 Euro monatlich für die Zeit vom 1.1.2003 bis zum 30.4.2003.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, die Klägerin von der Zahlung der Beiträge für die bei der Beklagten unterhaltenen Lebensversicherung Nr. … seit dem 1.6.2000 bis längstens 1.1.2022 freizustellen.Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des ersten Rechtszuges trägt die Beklagte.

Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt die Klägerin.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Gründe

I. Die Klägerin begehrt Leistungen aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung. Die Parteien haben erstinstanzlich vor allem um die Frage der Berufsfähigkeit gestritten. Die Kammer hat nach Beweisaufnahme der Klage weitgehend stattgegeben. Dabei hat sie als monatliche Rente den Betrag zugrunde gelegt, den sie aus den beiderseits vorgelegten Vertragsunterlagen selbst ermittelt hatte.

Mit der form- und fristgerecht eingelegten Berufung macht die Beklagte lediglich geltend, dass die Kammer von einer falschen Höhe der Berufsunfähigkeitsrente ausgegangen sei. Tatsächlich betrage diese nicht – wie ursprünglich vereinbart – 173,94 Euro monatlich, sondern erheblich weniger, da es in der Folgezeit zwei Nachträge gegeben habe, durch die die gegenseitigen Leistungen umgestellt worden seien. Dies habe sich zumindest indirekt auch aus dem beiderseitigen Parteivortrag ergeben. Wegen der Einzelheiten der Berechnung wird auf die Berufungsbegründungsschrift nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Klägerin bestreitet den Sachvortrag der Beklagten nicht, erläutert, dass im ursprünglichen Klageantrag bereits die zurückgeforderten Beiträge eingerechnet gewesen seien, und beruft sich i.Ü. auf die Tatbestandswirkung des angefochtenen Urteils.

II. Die Berufung ist zulässig und begründet. Die Kammer hat der Klägerin mehr zugesprochen als ihr zustand. Dass die Klägerin nur Anspruch auf bedingungsmäßige Leistungen im von der Beklagten nunmehr von der Beklagten genau dargelegten und tenorierten Umfang hat und die Berechnung der Kammer auf nicht mehr gültigen Vertragsverhältnissen beruht, ist zwischen den Parteien nicht streitig. Der Senat hat daher ohne weiteres die Zahlen aus der Berufungsschrift und den Anlagen zugrunde gelegt.

Dieser neue Tatsachenvortrag der Beklagten ist berücksichtigungsfähig. Die Wirkung des § 314 ZPO steht dem nicht entgegen. Es entsprach ständiger höchstrichterlicher Rspr. zur Rechtslage vor der ZPO-Novelle, dass der Tatbestand eines angefochtenen Urteils zwar grundsätzlich bindend war, gleichwohl aber neuer Sachvortrag damit nicht ausgeschlossen war (BGH NJW-RR 2001, 448). Inwieweit dieser zuzulassen war, bestimmte sich nach altem Recht nach den Vorschriften der §§ 527 ff. ZPO. Hieran hat sich durch die ZPO-Novelle nichts geändert. Zwar sind die Vorschriften, nach denen neues Tatsachenvorbringen in zweiter Instanz zuzulassen ist, deutlich verschärft worden, und insoweit mag eine der Bindungswirkung des § 314 ZPO vergleichbare faktische „Bindung” an erstinstanzlichen Vortrag eintreten. Im Rahmen des § 531 ZPO n.F. hindert aber auch nach neuem Recht der Tatbestand des angegriffenen Urteils nicht die Berücksichtigung neuen Sachvortrags (so ausdrücklich auch OLG Saarbrücken, Urt. v. 18.2.2003 – 1 U 653/02–155, OLGReport Saarbrücken 2003, 142 f.).

Das Vorbringen der Beklagten ist zulassungsfähig. Es ist nicht durch § 531 Abs. 1 ZPO ausgeschlossen, da es ist nicht in erster Instanz zurückgewiesen worden ist. Es kann hier dahinstehen, ob es nach § 531 Abs. 2 Nr. 2 ZPO schon deshalb zuzulassen wäre, weil es infolge eines Verfahrensmangels der Kammer nicht (in prozessual beachtlicher Form) geltend gemacht wurde. Tatsächlich hat es von beiden Seiten Sachvortrag gegeben, der sich auf die Höhe der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit und der Beiträge bezog, der allerdings für sich genommen kaum nachzuvo...

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