Leitsatz (amtlich)

Auch ein Rechtsanwalt, der Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht ist, darf in der Regel darauf vertrauen, dass die Rechtsmittelbelehrung in Wohnungseigentumssachen und in Zivilsachen mit wohnungseigentumsrechtlichem Bezug zutreffend ist (Fortführung von BGH, Beschl. v. 9.3.2017 - V ZB 18/16, ZWE 2017, 293).

 

Normenkette

GVG § 72 Abs. 2; WEG § 43 Nr. 1; ZPO § 233

 

Verfahrensgang

LG Frankfurt am Main (Beschluss vom 13.07.2016; Aktenzeichen 2-9 S 12/16)

AG Fulda (Urteil vom 27.10.2015; Aktenzeichen 37 C 14/14 (G))

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde der Klägerin wird der Beschluss des LG Frankfurt/M. - 9. Zivilkammer - vom 13.7.2016 aufgehoben.

Der Klägerin wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist gewährt.

Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 3.000 EUR.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Die Klägerin ist eine Wohnungseigentümergemeinschaft; der Beklagte ist der frühere Verwalter der Klägerin. Mit der vor dem AG Fulda erhobenen Klage verlangt die Klägerin die Herausgabe von Unterlagen nach Ende der Verwaltertätigkeit. Die für Wohnungseigentumssachen zuständige Amtsrichterin hat die Klage abgewiesen. Das Urteil ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin, einem in Fulda ansässigen Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht, am 30.10.2015 zugestellt worden. In der Rechtsmittelbelehrung wird das LG Fulda als zuständiges Berufungsgericht bezeichnet.

Rz. 2

Mit einem am 25.11.2015 eingegangenen Schriftsatz hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Berufung bei dem LG Fulda eingelegt. Nach einem am 3.12.2015 erfolgten gerichtlichen Hinweis auf die Unzuständigkeit des LG Fulda hat er am 10.12.2015 die dort eingelegte Berufung zurückgenommen und Berufung bei dem LG Frankfurt/M. als dem gem. § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG für Wohnungseigentumssachen zuständigen Berufungsgericht eingelegt, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt und die Berufung begründet. Das LG Frankfurt/M. hat den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich die Klägerin mit der Rechtsbeschwerde. Der Beklagte beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.

II.

Rz. 3

Das Berufungsgericht meint, Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren. Die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung sei nicht ursächlich für die Fristversäumung. Dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin sei ein vermeidbarer und nicht entschuldbarer Rechtsirrtum unterlaufen. Die Rechtsmittelbelehrung des AG sei offensichtlich falsch gewesen. Sie hätte den mit der Spezialmaterie des Wohnungseigentumsrechts vertrauten Prozessbevollmächtigten der Klägerin zu einer weiteren Überprüfung veranlassen müssen. Die in § 72 Abs. 2 GVG vorgesehene besondere Zuständigkeit für Berufungen in Wohnungseigentumssachen gehöre zu den Grundkenntnissen des Verfahrens- und Rechtsmittelrechts.

III.

Rz. 4

Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.

Rz. 5

1. Sie ist gem. §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft und auch im Übrigen zulässig. Ein Zulassungsgrund ist gegeben, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung i.S.v. § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Das Berufungsgericht hat der Klägerin den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Dies verletzt ihren Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip, vgl. BVerfGE 77, 275, 284) und eröffnet die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO (vgl. BGH, Beschl. v. 23.10.2003 - V ZB 28/03, NJW 2004, 367, 368 m.w.N.).

Rz. 6

2. Die Rechtsbeschwerde ist auch in der Sache begründet.

Rz. 7

a) Die bei dem LG Fulda eingelegte Berufung hat die Frist des § 517 ZPO nicht gewahrt. Zuständiges Berufungsgericht ist nämlich gem. § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG das LG Frankfurt/M., weil das Verfahren eine Streitigkeit zwischen einer Wohnungseigentümergemeinschaft und einem früheren Hausverwalter über die Herausgabe von Unterlagen nach Ende der Verwaltertätigkeit betrifft und es sich damit um eine Wohnungseigentumssache gem. § 43 Nr. 3 WEG handelt (vgl. BGH, Beschl. v. 9.12.2010 - V ZB 190/10, WuM 2011, 185 Rz. 11).

Rz. 8

b) Die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung des AG hat dazu geführt, dass die Klägerin die Berufungsfrist ohne ihr Verschulden versäumt hat. Aus diesem Grund ist ihr Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 233 ZPO).

Rz. 9

aa) Die inhaltlich unzutreffende Rechtsmittelbelehrung war entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts kausal für die Versäumung der Berufungsfrist. Daran bestehen nach dem tatsächlichen Ablauf keine Zweifel, weil der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung befolgt hat (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 12.1.2012 - V ZB 198/11, V ZB 199/11, NJW 2012, 2443 Rz. 8 m.w.N.).

Rz. 10

bb) Die Klägerin hat die Frist unverschuldet versäumt.

Rz. 11

(1) Im Ausgangspunkt zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, dass durch eine unzutreffende Rechtsbehelfsbelehrung ein Vertrauenstatbestand geschaffen wird, der zur Wiedereinsetzung wegen schuldloser Fristversäumnis berechtigt, wenn die Belehrung einen unvermeidbaren oder zumindest entschuldbaren Rechtsirrtum auf Seiten der Partei hervorruft und die Fristversäumnis darauf beruht. Auch eine anwaltlich vertretene Partei darf sich im Grundsatz auf die Richtigkeit einer Belehrung durch das Gericht verlassen, ohne dass es darauf ankommt, ob diese gesetzlich vorgeschrieben ist oder nicht (vgl. zum Ganzen BGH, Beschl. v. 12.1.2012 - V ZB 198/11, V ZB 199/11, NJW 2012, 2443 Rz. 10 m.w.N.; s. auch BGH, Beschl. v. 12.10.2016 - V ZB 178/15, NJW 2017, 1112 Rz. 11; Beschl. v. 9.3.2017 - V ZB 18/16, ZWE 2017, 293 Rz. 11).

Rz. 12

(2) Anders als das Berufungsgericht meint, befand sich der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in einem entschuldbaren Rechtsirrtum.

Rz. 13

(a) Ein Rechtsirrtum ist, unabhängig von seiner Vermeidbarkeit, schon dann entschuldbar, wenn die Rechtsmittelbelehrung nicht offenkundig fehlerhaft und der durch sie verursachte Irrtum nachvollziehbar ist (vgl. BGH, Beschl. v. 12.1.2012 - V ZB 198/11, V ZB 199/11, NJW 2012, 2443 Rz. 11 m.w.N.; Beschl. v. 9.3.2017 - V ZB 18/16, ZWE 2017, 293 Rz. 11). Diese Frage erörtert das Berufungsgericht zwar. Es stellt aber zu geringe Anforderungen an die Offenkundigkeit der Fehlerhaftigkeit. Offenkundig fehlerhaft ist eine Rechtsmittelbelehrung dann, wenn sie - ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand - nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermochte (vgl. BGH, Beschl. v. 12.10.2016 - V ZB 178/15, NJW 2017, 1112 Rz. 12 m.w.N.); unter dieser Voraussetzung ist die Vermutung des fehlenden Verschuldens gem. § 233 Satz 2 ZPO widerlegt (vgl. dazu MünchKomm/ZPO/Stackmann, 5. Aufl., § 232 Rz. 13). Hiernach bemisst sich, ob der Rechtsirrtum nachvollziehbar ist oder nicht.

Rz. 14

(b) Wie der Senat - allerdings nach Erlass des angefochtenen Beschlusses - entschieden hat, unterliegt der Rechtsanwalt in aller Regel einem unverschuldeten Rechtsirrtum, wenn er die Berufung in einer Wohnungseigentumssache aufgrund einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung nicht bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG zuständigen Berufungsgericht, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Berufungsgericht einlegt. Denn eine solche Rechtsmittelbelehrung ist regelmäßig nicht offenkundig in einer Weise fehlerhaft, dass sie - ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt vorauszusetzenden Kenntnisstand - nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermag (BGH, Beschl. v. 9.3.2017 - V ZB 18/16, ZWE 2017, 293 Rz. 13). Die Zuständigkeit des Berufungsgerichts in Wohnungseigentumssachen und in Zivilsachen mit wohnungseigentumsrechtlichem Bezug hängt nämlich von zwei Unwägbarkeiten ab. Zum einen ist nach § 72 Abs. 2 Satz 2 GVG nicht zwingend das in § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG genannte LG am Sitz des OLG für Berufungen in Wohnungseigentumssachen zuständig, weil die Länder durch Rechtsverordnung ein anderes LG bestimmen können. Zum anderen tritt die Zuständigkeitskonzentration nicht schon dadurch ein, dass - wie hier - der für Wohnungseigentumssachen zuständige Amtsrichter entschieden hat; maßgeblich ist allein, ob es sich um eine Streitigkeit i.S.v. § 43 Nr. 1 bis 4 oder Nr. 6 WEG handelt (BGH, Beschl. v. 9.3.2017 - V ZB 18/16, a.a.O., Rz. 14 f.; vgl. auch BGH, Beschl. v. 12.11.2015 - V ZB 36/15, ZMR 2016, 247 Rz. 10). Die Rechtsmittelzuständigkeit kann deshalb für den Anwalt, auch wenn er am Ort des Prozessgerichts ansässig ist, fraglich sein.

Rz. 15

Der Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von einem Anwalt, der über die Fachanwaltsqualifikation nicht verfügt. Für ihn ergeben sich in Bezug auf die Frage des zuständigen Berufungsgerichts die genannten Unwägbarkeiten gleichermaßen. Auch ein Rechtsanwalt, der Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht ist, darf deshalb in der Regel darauf vertrauen, dass die Rechtsmittelbelehrung in Wohnungseigentumssachen und in Zivilsachen mit wohnungseigentumsrechtlichem Bezug zutreffend ist.

Rz. 16

cc) Die weiteren Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist liegen vor.

Rz. 17

3. Soweit die Klägerin auch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist beantragt hat, bedarf es keiner Entscheidung durch das Rechtsbeschwerdegericht. Nach Aktenlage ist die Berufungsbegründungsfrist des § 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO offensichtlich gewahrt. Die Berufungsbegründung ist am 30.12.2015 und damit innerhalb von zwei Monaten ab Zustellung des Urteils bei dem zuständigen Gericht eingegangen. Eine teilweise Zurückweisung der Rechtsbeschwerde ist damit nicht verbunden.

Rz. 18

4. Der die Berufung verwerfende Beschluss wird mit der Wiedereinsetzung gegenstandslos (BGH, Beschl. v. 9.2.2005 - XII ZB 225/04, FamRZ 2005, 791, 792). Seine Aufhebung erfolgt nur klarstellend.

IV.

Rz. 19

Den Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat der Senat nach der Wertfestsetzung des Berufungsgerichts bestimmt.

 

Fundstellen

Haufe-Index 11378137

NJW 2018, 164

FA 2018, 21

NZG 2018, 228

NZM 2018, 43

ZAP 2018, 227

ZMR 2018, 2

ZMR 2018, 233

ZfIR 2018, 23

AnwBl 2018, 42

MDR 2018, 108

MDR 2018, 134

NJ 2018, 69

WuM 2018, 62

ZWE 2018, 90

MietRB 2018, 45

NJW-Spezial 2018, 98

BRAK-Mitt. 2018, 22

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