Leitsatz (amtlich)

Ob die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO für die Rechtsbeschwerde gegeben sind, beurteilt sich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über die Rechtsbeschwerde.

 

Normenkette

ZPO § 574 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LG Waldshut-Tiengen

AG Bad Säckingen

 

Nachgehend

BGH (Beschluss vom 12.05.2011; Aktenzeichen IX ZB 125/08)

 

Tenor

Der Antrag des Beklagten auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt, weil die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 114 ZPO).

 

Gründe

I.

Die Kläger verlangen vom Beklagten, dass dieser seine Hunde auf dem öffentlichen Weg vor seinem Wohngrundstück nicht unangeleint laufen lässt. Das AG hat mit Urt. v. 29.11.2002, dem Beklagten zugestellt am 6.12.2002, der Klage stattgegeben. Der Beklagte hat am 5.1.2003 Prozesskostenhilfe für die Durchführung der von ihm beabsichtigten Berufung beantragt. Mit Beschl. v. 17.3.2003, dem Beklagten zugestellt am 22.3.2003, hat das LG die Gewährung von Prozesskostenhilfe mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Berufung abgelehnt. Der Beklagte hat am 2.4.2003 Berufung gegen das Urteil des AG eingelegt und zugleich beantragt, ihm wegen Versäumung der Berufungsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Mit Verfügung v. 24.4.2003 hat der Vorsitzende der Berufungskammer einem Antrag des Beklagtenvertreters v. 23.4.2003 auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist entsprochen und die Berufungsbegründungsfrist bis 30.5.2003 verlängert. Die Berufungsbegründung ist am 30.5.2003 beim LG eingegangen.

Das Berufungsgericht hat mit Beschl. v. 25.6.2003, dem Beklagten zugestellt am 1.7.2003, die Berufung als unzulässig verworfen, weil die Berufung nicht innerhalb der gesetzlichen Frist nach § 520 Abs. 2 S. 1 ZPO begründet worden sei. Die Begründung sei auch nicht innerhalb der um eine Überlegungsfrist von zwei bis drei Werktagen verlängerten gesetzlichen Frist von zwei Wochen gem. § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO nach einem fristgerechten Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der versäumten Berufungsbegründungsfrist beim Berufungsgericht eingegangen.

Zur Durchführung der Rechtsbeschwerde gegen diesen Beschluss beantragt der Beklagte Prozesskostenhilfe.

II.

Dem Antrag des Beklagten kann nicht stattgegeben werden, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, § 114 ZPO.

1. Es kann dahinstehen, ob der Beklagte wegen der von ihm geltend gemachten Mittellosigkeit schon an der fristgerechten Einlegung der Rechtsbeschwerde gehindert gewesen ist. Jedenfalls wäre im vorliegenden Fall die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen, weil die Voraussetzungen nach § 574 Abs. 2 ZPO nicht gegeben sind. Denn auch die Rechtsbeschwerde gegen den die Berufung als unzulässig verwerfenden Beschluss ist nur unter den Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO zulässig. Der Gesetzgeber hat § 547 ZPO a. F. bewusst nicht in das neue Recht übernommen, sondern fehlerhafte Entscheidungen der Berufungsgerichte zur Zulässigkeit der Berufung fehlerhaften Sachentscheidungen gleichgestellt (vgl. BGH, Beschl. v. 24.6.2003 - VI ZB 10/03, MDR 2003, 1128 = BGHReport 2003, 1104; Beschl. v. 7.5.2003 - XII ZB 191/02, BGHReport 2003, 823 = MDR 2003, 1054 = NJW 2003, 2172; Wenzel, NJW 2002, 3353 [3357] m. w. N.).

2. Die im vorliegenden Fall entscheidende Frage, ob der Beklagte gehalten gewesen ist, nach Ablehnung seines Prozesskostenhilfegesuchs für die Durchführung der Berufung die Wiedereinsetzung nicht nur für die Berufungsfrist, sondern auch für die Berufungsbegründungsfrist zu beantragen und die Berufung innerhalb der Frist von zwei Wochen gem. § 234i. V. m. § 236 Abs. 2 ZPO zu begründen, bedarf nicht mehr der Klärung durch eine weitere höchstrichterliche Entscheidung.

Zwar hat nach Erlass der Entscheidung des Berufungsgerichts der XII. Zivilsenat des BGH im Beschl. v. 9.7.2003 (BGH, Beschl. v. 9.7.2003 - XII ZB 147/02, BGHReport 2003, 1155) umfassend zu dieser Frage Stellung genommen und dabei die Auffassung vertreten, dass eine verfassungskonforme Auslegung des § 236 Abs. 2 S. 2 ZPO geboten sei, um die verfassungsrechtlich gebotene Angleichung der Situation von bedürftigen und nicht bedürftigen Rechtsmittelführern zu erreichen. Das dem vorliegenden Fall zu Grunde liegende Rechtsproblem ist auch Gegenstand einer Gesetzesinitiative. Hiernach ist beabsichtigt, in § 234 Abs. 1 ZPO folgenden S. anzufügen:

Die Frist beträgt einen Monat, wenn die Partei verhindert ist, die Frist zur Begründung der Berufung, der Revision, der Nichtzulassungsbeschwerde, der Rechtsbeschwerde oder der Beschwerde nach §§ 621e, 629a Abs. 2 einzuhalten."

3. Dies führt jedoch nicht zur Zulässigkeit der Rechtsbeschwerde. Zum einen ist für die Berufungsgerichte eine richtunggebende Orientierungshilfe mit der Entscheidung des XII. Zivilsenats v. 9.7.2003 gegeben und ist deshalb entgegen der Auffassung des Beklagten die Durchführung der Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des Rechts nicht erforderlich. Zum andern ist der Zulässigkeitsgrund nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO nicht schon dann anzunehmen, wenn ein Gericht in einem Einzelfall eine Fehlentscheidung getroffen hat, selbst wenn der Fehler offensichtlich ist. Voraussetzung ist vielmehr, dass das Gericht von der höchstrichterlichen Rechtsprechung abweicht und die Gefahr einer Wiederholung durch dasselbe Gericht oder einer Nachahmung durch andere Gerichte besteht (BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207; Beschl. v. 1.10.2002 - XI ZR 71/02, MDR 2003, 104 = BGHReport 2002, 1107 = WM 2002, 2344 [2345]; Beschl. v. 4.9.2002 - VIII ZB 23/02, BGHReport 2002, 1113 = WM 2003, 554 [555] zu § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO; Musielak/Ball, ZPO 3. Aufl. § 543 Rz. 8 unter Bezugnahme auf die amtliche Begründung BT-Drucks. 14/4722, 104). Dadurch soll verhindert werden, dass schwer erträgliche Unterschiede in der Rechtsprechung entstehen oder fortbestehen. Diese Voraussetzungen fehlen, wenn das angefochtene Urteil zwar von einer konkret zu benennenden Entscheidung abweicht, es sich aber dabei um keine Vorentscheidung handelt, weil sie erst nach der angegriffenen Entscheidung ergangen ist und damit nicht als Vorentscheidung in Frage kommt. Ein Abweichen setzt begriffsnotwendig voraus, dass die anders lautende Entscheidung bereits existent ist. Schon deshalb liegt im vorliegenden Fall eine Divergenz des Beschlusses des LG v. 25.7.2003 zur Entscheidung des XII. Zivilsenats v. 9.7.2003, die dem Berufungsgericht nicht bekannt sein konnte, nicht vor.

Unter diesem Gesichtspunkt scheidet auch eine Wiederholungsgefahr aus. Eine solche wird i. d. R. nur dann angenommen werden können, wenn ein Gericht anders lautende höchstrichterliche Rechtsprechung in vorwerfbarer Weise nicht beachtet. Ein solches vorwerfbares Abweichen setzt aber stets voraus, dass die entgegenstehende höchstrichterliche Rechtsprechung zum einen schon ergangen und zum anderen auch schon veröffentlicht ist, so dass das Tatgericht zumindest die Möglichkeit der Kenntnisnahme hat. Auch diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Ob die Durchführung der Rechtsbeschwerde geboten ist, beurteilt sich nach dem Zeitpunkt der Entscheidung über sie (vgl. zu § 543 Abs. 2 ZPO; BGH, Beschl. v. 20.11.2002 - IV ZR 197/02, BGHReport 2003, 305 [306] = MDR 2003, 284).

4. Im Übrigen kann dem Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe auch deshalb nicht stattgegeben werden, weil die Berufung keinerlei Aussicht auf Erfolg hat.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1050041

NJW 2003, 3781

BGHR 2004, 53

BauR 2003, 1942

DAR 2004, 86

MDR 2004, 107

VersR 2004, 1197

KammerForum 2004, 69

ProzRB 2004, 40

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