Entscheidungsstichwort (Thema)

Zeitpunkt der Prüfung der Zulässigkeit der Streitverkündung

 

Leitsatz (amtlich)

a) Die Zulässigkeit der Streitverkündung ist grundsätzlich nicht im Erstprozess, in dem der Streit verkündet wird, sondern erst im Folgeverfahren zwischen dem Streitverkünder und dem Streitverkündungsempfänger zu prüfen (st.Rspr., vgl. BGHZ 100, 257 [259]; 160, 259, 263).

b) Dies gilt auch dann, wenn die Streitverkündung ggü. dem bereits bestellten oder erwarteten Prozessbevollmächtigten des Gegners erfolgt. § 72 Abs. 2 Satz 2 ZPO findet auf eine solche Fallgestaltung keine Anwendung.

c) Der gegnerische Prozessbevollmächtigte kann "Dritter" i.S.d. § 72 Abs. 1 ZPO sein.

 

Normenkette

ZPO § 72

 

Verfahrensgang

OLG München (Beschluss vom 14.05.2009; Aktenzeichen 1 W 875/09)

LG München II (Beschluss vom 12.01.2009; Aktenzeichen 1 MO 6514/08)

 

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers werden der Beschluss des 1. Zivilsenats des OLG München vom 14.5.2009 und der Beschluss der 1. Zivilkammer des LG München II vom 12.1.2009 aufgehoben.

Das LG wird angewiesen, die Streitverkündungsschrift des Klägers der Streitverkündungsempfängerin, Rechtsanwältin U. G., zuzustellen.

Der Beschwerdewert wird auf 2.083,33 EUR festgesetzt.

 

Gründe

I.

Rz. 1

Der Kläger verlangt von dem Beklagten Einsicht in die Originale ärztlicher Behandlungsunterlagen. Hintergrund ist ein seit 1997 zwischen den Parteien anhängiger Schadensersatzprozess, in dem die Prozessbevollmächtigte des Beklagten auf Anforderung des Gerichts mit Schriftsatz vom 3.3.1998 Behandlungsunterlagen zu den Akten reichte, die sie als Originale bezeichnete. Im Schriftsatz vom 31.7.2008 führte sie dagegen aus, dass die "Originalakten" im Rahmen des vom Kläger gegen den Beklagten veranlassten Strafverfahrens beschlagnahmt worden seien. Die Beschlagnahme der Unterlagen war allerdings erst am 23.8.1999 erfolgt.

Rz. 2

Im vorliegenden Rechtsstreit hat der Kläger mit der Klage Rechtsanwältin U. G., die den Beklagten in dem Schadensersatzprozess vertritt, mit der Begründung den Streit verkündet, sie im Falle seines Unterliegens im Schadensersatzprozess auf Ersatz ihm auferlegter Gerichtsgutachterkosten wegen Beteiligung an einem Prozessbetrug oder Verletzung anwaltlicher Berufspflichten in Anspruch nehmen zu können. Die Sozietät, der die Streitverkündungsempfängerin angehört, hat auch im vorliegenden Rechtsstreit die Vertretung des Beklagten angezeigt.

Rz. 3

Das LG hat die Zustellung der Streitverkündungsschrift abgelehnt. Das OLG hat die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde zurückgewiesen. Mit seiner vom Beschwerdegericht zugelassenen Rechtsbeschwerde erstrebt der Kläger die Zustellung der Streitverkündungsschrift.

II.

Rz. 4

Die Rechtsbeschwerde des Klägers ist gem. § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 ZPO zulässig und begründet.

Rz. 5

1. Nach Auffassung des Beschwerdegerichts, dessen Entscheidung in BRAK-Mitteilungen 2009, 234 veröffentlicht ist, ist die Streitverkündung ggü. dem gegnerischen Prozessbevollmächtigten unzulässig. Die Streitverkündungsschrift sei ihm deshalb nicht zuzustellen. Der Grundsatz, dass eine Prüfung der Zulässigkeit der Streitverkündung nicht im Hauptverfahren, sondern im Folgeprozess erfolge, gelte nicht uneingeschränkt. Aus § 72 Abs. 2 Satz 2 ZPO könne der Grundsatz abgeleitet werden, dass eine Zustellung der Streitverkündung dann zu unterbleiben habe, wenn die Streitverkündung nicht an einen Dritten, sondern an einen an dem Prozess als Vertreter des Klägers oder Beklagten Beteiligten erfolge und bereits die Zustellung der Streitverkündung seine ihm kraft Gesetzes und Aufgabenstellung zugewiesene Funktion in dem Rechtsstreit beeinträchtigen könne. § 72 Abs. 2 Satz 2 ZPO sei dann zumindest analog anzuwenden. Als Vertreter der Partei sei der gegnerische Prozessbevollmächtigte nicht Dritter i.S.d. § 72 Abs. 1 ZPO, sondern "Zweiter". Die drohende Interventionswirkung einer Streitverkündung bringe ihn in einen Interessenkonflikt, der mit seiner Aufgabe, die Interessen seiner Mandanten wahrzunehmen, nicht zu vereinbaren sei. Dem Gegner dürfe auch nicht auf diesem Wege Einfluss auf die Wahl und die Mandatsausübung des gegnerischen Anwalts gewährt werden.

Rz. 6

2. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Nachprüfung nicht stand.

Rz. 7

a) Das Beschwerdegericht ist im Ansatz allerdings zutreffend davon ausgegangen, dass die Zulässigkeit der Streitverkündung grundsätzlich nicht im Erstprozess, in dem der Streit verkündet wird, sondern erst im Folgeverfahren zwischen dem Streitverkünder und dem Streitverkündungsempfänger zu prüfen ist (st.Rspr.: BGH, Urt. v. 9.10.1975 - VII ZR 130/73, BGHZ 65, 127 [130 f.]; v. 22.12.1977 - VII ZR 94/76, BGHZ 70, 187 [189]; v. 26.3.1987 - VII ZR 122/86, BGHZ 100, 257 [259]; v. 28.9.2004 - IX ZR 155/03, BGHZ 160, 259 [263]; v. 8.10.1981 - VII ZR 341/80, NJW 1982, 281 [282]; v. 15.11.1984 - III ZR 97/83, VersR 1985, 568 [569]; vgl. auch BT-Drucks. 16/3038, 36 unten).

Rz. 8

b) Es hat auch zutreffend angenommen, dass dieser Grundsatz im Fall des § 72 Abs. 2 Satz 1 ZPO eine Ausnahme erfährt. Nach dieser Bestimmung sind das Gericht und ein vom Gericht ernannter Sachverständiger nicht Dritte i.S.d. Abs. 1. Gemäß der ausdrücklichen Anordnung in § 72 Abs. 2 Satz 2 ZPO hat eine Zustellung der Streitverkündungsschrift an diesen Personenkreis zu unterbleiben.

Rz. 9

c) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts ist § 72 Abs. 2 ZPO aber nicht der Grundsatz zu entnehmen, dass von einer Zustellung der Streitverkündungsschrift auch dann abzusehen ist, wenn die Streitverkündung ggü. dem bereits bestellten oder - wie hier - erwarteten Prozessbevollmächtigten des Gegners erfolgt. Für ein solches Verständnis der Norm bieten weder der Gesetzeswortlaut noch die Gesetzesbegründung den erforderlichen Anhalt.

Rz. 10

aa) Ausweislich ihres Wortlauts erfasst die Bestimmung des § 72 Abs. 2 ZPO nur die Streitverkündung ggü. dem Gericht und dem vom Gericht ernannten Sachverständigen.

Rz. 11

bb) Der Gesetzesbegründung sind keine Hinweise darauf zu entnehmen, dass der Gesetzgeber die Streitverkündung über den Wortlaut der Bestimmung hinaus auch gegenüber anderen als den darin genannten Personen - und den Parteien, die als Erster bzw. Zweiter des Verfahrens nicht zugleich Dritte sein können - von vornherein ausschließen wollte. Durch die durch Art. 10 Nr. 2 Buchstabe a des Zweiten Gesetzes zur Modernisierung der Justiz vom 22.12.2006 (BGBl. I 3416) eingefügte Regelung des § 72 Abs. 2 ZPO sollte der zunehmend zu verzeichnenden Praxis Einhalt geboten werden, dass gerichtlich bestellten Sachverständigen auf der Grundlage des im Jahre 2002 neu in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommenen Haftungstatbestands des § 839a der Streit verkündet wurde (vgl. BT-Drucks. 16/3038, 36). Im Anschluss an die überwiegende Auffassung in Rechtsprechung und Literatur sollte klargestellt werden, dass eine Streitverkündung gegen den gerichtlichen Sachverständigen und das Gericht generell unzulässig ist und dieser Umstand abweichend von dem allgemeinen Grundsatz, wonach über die Zulässigkeit der Streitverkündung erst in einem eventuellen Folgeprozess zu entscheiden ist, bereits im Erstprozess zu berücksichtigen ist (vgl. BT-Drucks. 16/3038, 36 ff.). Denn weder der Richter noch der gerichtliche Sachverständige könnten als Dritte i.S.d. § 72 Abs. 1 ZPO behandelt werden. Sie seien notwendiger Teil des Verfahrens bzw. weisungsgebundener Gehilfe des Gerichts und zur Unparteilichkeit verpflichtet. Die Möglichkeit der Prozessbeteiligung stelle für sie keinen gangbaren Weg dar. Der Sachverständige würde durch eine Prozessbeteiligung seine Neutralitätspflicht verletzen und könnte wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Ein Richter wäre im Falle seines Beitritts nach § 41 Nr. 1 ZPO ausgeschlossen. Andere Prozessbeteiligte als die am Verfahren beteiligten Richter oder gerichtlichen Sachverständigen mit Ausnahme der Parteien könnten dagegen grundsätzlich Dritte i.S.d. § 72 Abs. 1 ZPO sein (vgl. BT-Drucks. 16/3038, 36 ff.).

Rz. 12

d) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts ist § 72 Abs. 2 Satz 2 ZPO in der beschriebenen Fallgestaltung auch nicht analog anwendbar. Dabei kann dahinstehen, ob die für eine Analogie erforderliche planwidrige Regelungslücke gegeben ist. Denn es fehlt jedenfalls an einer vergleichbaren Interessenlage.

Rz. 13

aa) Anders als der gerichtliche Sachverständige ist der Rechtsanwalt kein zur Unparteilichkeit verpflichteter, vom Gericht bestellter "Gehilfe des Richters", sondern unabhängiger Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten (§ 3 Abs. 1 BRAO), der nur den Interessen des eigenen Mandanten verpflichtet ist (vgl. BGH, Urt. v. 8.11.2007 - IX ZR 5/06, BGHZ 174, 186 Rz. 12; BVerfG NJW 2003, 2520 [2521]). Während eine Prozessbeteiligung für den Richter oder den gerichtlichen Sachverständigen im Widerspruch zu der ihnen obliegenden Verpflichtung zur Neutralität stände und gem. § 41 bzw. § 406 ZPO ihren Ausschluss aus dem Prozess zur Folge hätte oder haben könnte (vgl. BGH, Beschl. v. 27.7.2006 - VI ZB 16/06, BGHZ 168, 380 Rz. 12; v. 26.4.2007 - VII ZB 18/06, NJW-RR 2007, 1293), ist ein Beitritt für den Prozessbevollmächtigten jedenfalls auf Seiten der von ihm vertretenen Partei ein gangbarer Weg. Anders als im Falle der Prozessbeteiligung des Richters oder gerichtlichen Sachverständigen wird die verfahrensrechtliche Stellung des Prozessbevollmächtigten durch einen solchen Beitritt nicht entgegen der im Prozessrecht vorgesehenen Aufgabenverteilung grundlegend verändert (vgl. zum Beitritt des Sachverständigen BGH, Beschl. v. 27.7.2006 - VI ZB 16/06, a.a.O.).

Rz. 14

Dementsprechend hat der erkennende Senat die Streitverkündung sowohl ggü. dem eigenen Prozessbevollmächtigten als auch ggü. dem gegnerischen Prozessbevollmächtigten als zulässig angesehen (vgl. BGH, Urt. v. 13.7.1982 - VI ZR 300/79, VersR 1982, 975 [976]; ebenso: Bork in Stein/Jonas, ZPO, 22. Aufl., § 66 Rz. 8; Wieczorek/Schütze/Mansel, ZPO, 3. Aufl., § 72 Rz. 29 i.V.m. § 66 Rz. 23 f.; ebenso wohl auch: Schellhammer, Zivilprozess: Gesetz - Praxis - Fälle, 12. Aufl., Rz. 1626; Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 31. Aufl., § 72 Rz. 3 i.V.m. § 66 Rz. 3; a.A.: Prütting/Gehrlein/Gehrlein, ZPO, 2. Aufl., § 66 Rz. 4; HK-ZPO/Bendtsen, 3. Aufl., § 66 Rz. 4; Musielak/Weth, ZPO, 7. Aufl., § 72 Rz. 1 i.V.m. § 66 Rz. 4; Zöller/Vollkommer, ZPO, 28. Aufl., § 72 Rz. 1 für die Streitverkündung ggü. dem eigenen Prozessbevollmächtigten). Auch das RG hat die Zulässigkeit der Streitverkündung ggü. dem Prozessbevollmächtigten nicht grundsätzlich verneint. Soweit es im Urteil vom 25.3.1942 die Nebenintervention des Prozessbevollmächtigten des Klägers als unzulässig zurückgewiesen hat, beruhte dies nicht auf der verfahrensrechtlichen Stellung des Nebenintervenienten sondern allein darauf, dass es an dem für den Beitritt erforderlichen rechtlichen Interesse fehlte (vgl. RGZ 169, 50 [51]).

Rz. 15

bb) Entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts beeinträchtigt die Zustellung der Streitverkündung den Prozessbevollmächtigten auch nicht in der Wahrnehmung seiner ihm gesetzlich zugewiesenen Aufgaben. Die Streitverkündung ist insb. nicht geeignet, einen bislang nicht gegebenen Interessenkonflikt zwischen Prozessbevollmächtigtem und der von ihm vertretenen Partei herbeizuführen mit der Folge, dass der anwaltliche Bevollmächtigte möglicherweise gem. § 43a Abs. 4 BRAO, § 3 Abs. 4 BORA sein Mandat niederlegen müsste oder gar nicht erst annehmen dürfte (vgl. zu § 43a Abs. 4 BRAO: BGH, Urt. v. 23.4.2009 - IX ZR 167/07, VersR 2010, 667 Rz. 32; v. 14.5.2009 - IX ZR 60/80, VersR 2010, 670 Rz. 7; BT-Drucks. 12/4993, 27; BVerfG NJW 2003, 2520 [2521]; BVerfG ZEV 2006, 413 [414]; AnwG München, Urt. v. 6.3.1995 - 3 AG 27/95, BRAK-Mitteilungen 1995, 172; Feuerich/Weyland/Vossebürger, BRAO, 7. Aufl., § 43a Rz. 54; Hartung in Hartung/Römermann, Berufs- und Fachanwaltsordnung, 4. Aufl., § 3 BORA Rz. 49 ff.). Wie die Beschwerdeerwiderung zutreffend ausführt, beurteilt sich die Frage, ob ein Interessenwiderstreit im Sinne der genannten Bestimmungen gegeben ist, auf der Grundlage der materiellen Rechtslage (vgl. BGH, Urt. v. 26.11.2007 - AnwSt (R) 10/06, NJW-RR 2008, 795 m.w.N.; Hartung in Hartung/Römermann, a.a.O., Rz. 52). Verfolgen der Prozessbevollmächtigte und die von ihm vertretene Partei keine gegensätzlichen Interessen, so vermag allein die Zustellung einer Streitverkündungsschrift keinen Interessenkonflikt zu begründen. Besteht dagegen im konkreten Fall ein Interessenwiderstreit in derselben Rechtssache, hängt die Anwendbarkeit des § 43a Abs. 4 BRAO nicht davon ab, dass dem Anwalt der Streit verkündet wurde. Auch der Anwalt, dem in einem solchen Fall keine Streitverkündungsschrift, sondern eine außergerichtliche Leistungsaufforderung oder eine Klage in einem gesonderten Verfahren zugestellt wird, steht vor der Frage, ob er das ihm übertragene Mandat beenden muss, weil er widerstreitende Interessen i.S.d. § 43a Abs. 4 BRAO, § 3 Abs. 4 BORA vertritt (vgl. BGH, Urt. v. 23.4.2009 - IX ZR 167/07, a.a.O.; AnwG München, Urt. v. 6.3.1995 - 3 AG 27/95, a.a.O.).

Rz. 16

3. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Gerichtsgebühren fallen für die begründete Beschwerde nicht an. Eine Kostenerstattung findet nicht statt. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers sind als Kosten der Streitverkündung (vgl. Wieczorek/Schütze/Mansel, a.a.O., § 72 Rz. 108; Schultes in MünchKomm/ZPO, 3. Aufl., § 72 Rz. 21 jeweils m.w.N.) keine Kosten des Rechtsstreits, sondern fallen dem Streitverkünder zur Last, weil er seine Interessen gegenüber einem Dritten und nicht ggü. dem Prozessgegner wahrnimmt (Zöller/Herget, a.a.O., § 91 "Streitverkündungskosten"; KG, Beschl. v. 29.7.2005 - 1 W 157/05, MDR 2006, 236 [237]; OLG München Beschl. v. 9.3.1989 - 11 W 3434/88, JurBüro 1989, 1121 [1122]).

 

Fundstellen

Haufe-Index 2643670

BGHZ 2011, 193

BB 2011, 577

NJW 2011, 1078

NJW 2011, 8

EBE/BGH 2011

FamRZ 2011, 639

WM 2011, 1383

ZIP 2011, 1172

MDR 2011, 504

RÜ 2011, 222

Mitt. 2011, 205

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