Prof. Dr. Katharina Berkemeier
1 Allgemeines
1.1 Sinn und Zweck
Rz. 1
Die Regelung des § 76 AO beruht auf dem gesetzgeberischen Willen, neben dem Steuer- bzw. Zollschuldner und dem Haftungsschuldner ein weiteres Sicherungsmittel zu schaffen, das der Durchsetzbarkeit der Abgabenforderung im Bereich der Zölle und Verbrauchsteuern dienen soll.
Die Sachhaftung gibt dem Steuergläubiger das Recht, sich ohne Rücksicht auf Privatrechte irgendwelcher Art wegen Zoll- und Verbrauchsteuerschulden an die Waren und Erzeugnisse zu halten und die Bezahlung durch deren Zurückhaltung zu erzwingen oder sich durch Versteigerung der Waren nach § 327 AO zu befriedigen. Dieses Recht ist ein erstrangiges dingliches Pfandrecht, das im Insolvenzverfahren ein entsprechendes Absonderungsrecht nach § 51 Nr. 4 InsO begründet. Die Sachhaftung begründet ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis.
Rz. 2
Anders als bei den persönlichen Haftungstatbeständen wird durch dieses Rechtsverhältnis keine persönliche Zahlungsverpflichtung des Eigentümers der Ware bzw. der sonst an ihr dinglich Berechtigten begründet. Die Sachhaftung begründet für den an der Sache Berechtigten eine Art Duldungspflicht. Zur Sicherung der Duldungspflicht kann die Finanzbehörde durch Beschlagnahme verhindern, dass die haftende Ware einer späteren Verwertung entzogen wird. Die Beschlagnahme nach § 76 Abs. 3 AO ist eine Sicherstellung eigener Art im Gegensatz zur Sicherstellung im Aufsichtsweg nach § 215 AO, die nur der Gefahrenabwehr dient. Ein Haftungsbescheid ergeht nicht. Aufgrund der Sachhaftung besteht ferner ein öffentlich-rechtliches Verwertungsrecht. Die Verwertungsabsicht ist mit einem Verwaltungsakt bekannt zu geben.
Rz. 3
Die Sachhaftung hat dingliche Wirkung, d. h. sie besteht gegenüber jedermann, unabhängig von der zivilrechtlichen Rechtslage hinsichtlich der Sache. Sie hat Vorrang gegenüber jeglichen anderen Ansprüchen auf die Sache. Der Vorrang besteht auch gegenüber dem gutgläubigen Erwerber der Ware. Gerechtfertigt wird dies durch das vom Gesetzgeber höher bewertete Gemeinschaftsinteresse an der Durchsetzung von Zoll- und Verbrauchsteuerforderungen gegenüber dem Einzelinteresse des Eigentümers bzw. desjenigen, der irgendein Recht (z. B. Pfandrecht, Sicherungseigentum) an der Sache hat.
1.2 Anwendungsbereich
Rz. 4
Die AO ist gem. § 1 Abs. 1 S. 2 AO nur vorbehaltlich des Rechts der Europäischen Union anwendbar. Für Zölle war der Anwendungsbereich der Sachhaftung seit Inkrafttreten des Zollkodex (ZK) zum 1.1.1994 bereits eingeschränkt. Verschiedene Sicherungsmaßnahmen auf der Grundlage der Ermächtigungsgrundlagen der Art. 53, 57 und 75 ZK verdrängten grundsätzlich als vorrangiges Gemeinschaftsrecht den § 76 AO. Mit Inkrafttreten der Neufassung des Zollkodex der Europäischen Union (UZK) zum 1.5.2016 ist die Anwendbarkeit des § 76 AO, insbesondere aufgrund der darin geregelten zumeist obligatorisch vorgesehenen Sicherheitsleistung für Einfuhrabgaben, noch weiter eingeschränkt. Im Bereich des Zollrechts ist § 76 AO grundsätzlich überlagert durch Art. 198 Abs. 1 UZK und nur dann anzuwenden, wenn dessen Sicherungszweck durch eine Maßnahme nach Art. 198 Abs. 1a) – e) UZK nicht erreicht werden kann.
Rz. 5
Unmittelbar ist § 76 AO anwendbar, soweit kein Fall des Art. 198 Abs. 1 UZK vorliegt und wenn die Durchsetzbarkeit potenzieller Ansprüche bereits vor einer Zollschuldentstehung zweifelhaft ist (z. B. bei einem überschuldeten Lagerhalter sind Unregelmäßigkeiten in Bezug auf die Lagerware zu befürchten) oder wenn im Falle einer Zollschuldentstehung nach Art. 79 Abs. 1 UZK die Fälligkeit einer Abgabenforderung nicht zeitnah hergestellt werden kann.
Rz. 6
§ 76 AO gilt seinem Wortlaut nach nur für Zölle und Verbrauchsteuern. Für die Einfuhrumsatzsteuer gelten jedoch nach § 21 Abs. 2 UStG die Vorschriften für Zölle analog. Durch die sinngemäße Anwendung der Zollvorschriften soll sichergestellt werden, dass die bei der Einfuhr zu erhebenden Abgaben von einer Behörde in einem Bescheid nach dem gleichen Verfahren aufgrund einheitlich getroffener Feststellungen einfach und zweckmäßig erhoben werden. Dieser Zweck wird nur erreicht, wenn es regelmäßig zur Anwendung der Zollvorschriften auf die Einfuhrumsatzsteuer kommt. Dementsprechend ist auch die Sachhaftung auf die EUSt analog anwendbar, auch hier jedoch unter Vorbehalt des Europarechts (Rz. 4, 5).
Rz. 7
Für die Verbrauchsteuern gilt keine Verweisung auf das Zollrecht, sodass auf diese § 76 AO uneingeschränkt angewendet werden kann. Nach § 12 Abs. 2 S. 6 TabStG gilt § 76 AO sinngemäß für Steuerzeichen, die noch nicht an die Kleinverkaufspackungen angebracht worden sind. Diese analoge Anwendung dient der Sicherung der...