Rz. 10
Die Voraussetzungen der Schadensersatzpflicht der Einzugsstelle regelt Abs. 1. Die Vorschrift differenziert nach der Schadensersatzpflicht (Abs. 1 Satz 1) und jener wegen entgangener Zinsen (Abs. 1 Satz 2). Abs. 1 Satz 1 setzt voraus, dass ein Organ oder ein Bediensteter der Einzugsstelle schuldhaft eine ihm nach diesem Abschnitt auferlegte Pflicht verletzt. In der Rechtsfolge bestimmt die Vorschrift, dass die Einzugsstelle dem Träger der Pflegeversicherung, der Rentenversicherung und der Bundesagentur für Arbeit sowie dem Gesundheitsfonds für einen diesen zugefügten Schaden haftet. Für die Schadensersatzpflicht wegen entgangener Zinsen gilt die Spezialnorm des Abs. 1 Satz 2; sie beschränkt sich auf den aus Abs. 2 ergebenden Umfang. Die Schadensersatzpflicht trifft unmittelbar die Krankenkasse als Einzugsstelle und damit die Körperschaft des öffentlichen Rechts, auch wenn der Schaden durch eine Pflichtverletzung eines Organs oder eines Bediensteten verursacht wurde.
Rz. 11
Die Vorschrift begründet eine Haftung der Einzugsstelle. Das ist die Krankenkasse (§ 28h Abs. 1 Satz 1 SGB IV), bei der der betreffende Beschäftigte versichert ist. Auch die Mini-Job-Zentrale ist in ihrer Funktion als Trägerin der Rentenversicherungsträger eine Einzugstelle (§ 28i Abs. 1 Satz 5).
Rz. 12
Organe der Einzugsstelle sind der Verwaltungsrat und der hauptamtliche Vorstand (§ 31 Abs. 3a).
Rz. 13
Bedienstete der Einzugsstellen sind deren Mitarbeiter. Das sind Beschäftigte i. S. v. § 7 oder sonstige Mitarbeiter, mit denen ein Anstellungsvertrag besteht. Hierzu zählen auch Mitarbeiter, die in keinem Dienst- oder Arbeitsverhältnis zur Einzugsstelle stehen, jedoch per Auftrag (§ 662 BGB) mit Aufgaben der Einzugsstelle betraut sind.
Rz. 14
Das Organ oder der Bedienstete muss eine nach diesem Abschnitt auferlegte Pflicht verletzt haben. Das setzt voraus, dass zunächst eine solche Pflicht existiert. Mit dem Identifikationsmerkmal "diesem Abschnitt" ist der mit den Worten "Meldepflichten des Arbeitgebers, Gesamtsozialversichungsbeitrag" überschriebene Dritte Abschnitt des SGB IV gemeint. Das sind drei Titel, die §§ 28a bis 28r erfassen (BSG, Urteil v. 29.3.2022, B 12 KR 7/20 R; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil v. 3.11.2006, L 1 KR 81/04).
Rz. 15
Eine rechtserhebliche Pflichtverletzung kommt nach dem SG Berlin (Urteil v. 3.5.2018, S 56 KR 2258/14) nicht nur in Betracht, wenn die Einzugsstelle es unterlässt, Maßnahmen zum Einzug überfälliger Beitragsansprüche zu treffen (hierzu auch BSG, Urteil v. 29.3.2022, B 12 KR 7/20 R), sondern auch, wenn sie schuldhaft fehlerhafte Entscheidungen über die Stundung, Niederschlagung und den Erlass von Beitragsansprüchen nach § 76 trifft. Das erweist sich als rechtlich problematisch, denn diese Vorschrift betrifft die Erhebung von Einnahmen und ist nicht dem Dritten Abschnitt des SGB IV zugeordnet. Das SG Berlin führt aus, die Pflicht zur Geltendmachung der Beiträge nach § 28h Abs. 1 Satz 2 und 3 SGB IV sei umfassend zu verstehen und erfasse auch alle sonstigen forderungsrelevanten Entscheidungen. Die fehlerhafte Anwendung der in § 76 benannten Voraussetzungen über die Stundung, Niederschlagung und den Erlass könne daher unmittelbar eine Verletzung der sich aus § 28h ergebenden Pflichten zur Geltendmachung von Beitragsansprüchen darstellen (abweichend SG Neubrandenburg, Urteil v. 3.7.2003, S 4 KR 53/01; dagegen auch Segebrecht, in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB IV, 4. Aufl., Stand: 1.8.2021, § 28r Rz. 22).
Rz. 16
In der hierzu ergangenen Revisionsentscheidung v. 29.3.2022 dürfte das BSG die sich fortentwickelnde Rechtsprechung in Richtung der Auffassung des SG Berlin gelenkt haben. Das BSG hat herausgearbeitet, dass der Begriff "Beitragsansprüche" i. S. v. § 28h Abs. 1 Satz 3 auch Schadensersatzansprüche nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 266a StGB erfasst und insoweit über die Legaldefinition des die Arbeitgeberhaftung regelnden § 28e Abs. 4 hinausgeht, wonach zu den Beitragsansprüchen lediglich Beiträge, Säumniszuschläge und Zinsen zählen. Nur dann, wenn die Pflicht zur umfassenden Geltendmachung bestehender Beitragsansprüche auch auf deren Nichterfüllung beruhende zivilrechtliche Schadensersatzansprüche umfasse, sei die Einzugsstelle nach § 28h Abs. 1 Satz 3 ermächtigt, so das BSG weiter, im Zivilrechtsweg die rückständigen Gesamtsozialversicherungsbeiträge wegen nicht weitergeleiteter Arbeitnehmeranteile insgesamt als einen ihr gegenüber auszugleichenden Schaden geltend zu machen. Diese Vorschrift berechtige nicht nur, sondern verpflichte zur Schadensliquidation. Nur eine solche Auslegung trage dem gesetzlichen Auftrag Rechnung, Einnahmen rechtzeitig und vollständig zu erheben (§ 76). Die Geltendmachung sowohl von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen als auch von diese ersetzenden Schadensersatzansprüchen, die wirtschaftlich betrachtet der Beitragseinziehung gleichstünden, bleibe auf diese Weise einheitlich in der Hand der zuständigen Einzugsstelle. Die Einzugsstelle habe ihre Pflicht i. S. v. § 28r Abs. 1 S...