Prof. Dr. Holger Kahle, Dr. Sebastian Schulz
A. Übersicht § 1 Abs. 1 AStG
I. Normentwicklung
Rz. 1
Die Vorschrift des § 1 AStG wurde zuletzt durch das Abzugsteuerentlastungsmodernisierungsgesetz vom 02.06.2021 (AbzStEntModG, BGBl I 2021, 1259) sowie dem ATAD-Umsetzungsgesetz vom 25.06.2021 (ATADUmsG, BGBl I 2021, 2035) grundlegend novelliert (zu den Änderungen s. im Einzelnen Bärsch/Ditz/Engelen/Quilitzsch, DStR 2021, 1785ff.; Ditz/Wassermeyer, in: Wassermeyer/Baumhoff, Verrechnungspreise, Rz. 2.66ff.; Grotherr, DStZ 2021, 651ff.; Greil/Saliger, ISR 2021, 330ff.). Während § 1 AStG komplett neu strukturiert wurde, sind die Anpassungen in Abs. 1 der Norm geringfügig. In Satz 1 wurden die Worte "nahe stehend" lediglich redaktionell angepasst in "nahestehend". Zudem wurde in § 1 Abs. 1 ein neuer Satz 2 eingefügt. Hiernach sind Personengesellschaften sowie Mitunternehmerschaften selbst "Steuerpflichtiger" (gem. Satz 1) sowie "nahestehende Person" (unter den Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 AStG). Materielle Rechtsänderungen ergeben sich durch die Einfügung von § 1 Abs. 1 Satz 2 nicht. Die Sätze 3 und 4 des § 1 Abs. 1 AStG wurden nicht verändert. Damit entspricht § 1 Abs. 1 AStG inhaltlich im Wesentlichen der seit dem UntStRefG 2008 vom 14.08.2007 (BGBl I 2007, 1912) geltenden Fassung.
II. Einordnung und Normzweck
Rz. 2
§ 1 Abs. 1 Satz AStG bestimmt für den Fall, dass Einkünfte eines Steuerpflichtigen aus einer Geschäftsbeziehung zum Ausland mit einer ihm nahestehenden Person dadurch gemindert werden, dass er seiner Einkünfteermittlung andere Bedingungen, insbesondere Preise (Verrechnungspreise), zugrunde legt, als sie voneinander unabhängige Dritte unter gleichen oder vergleichbaren Verhältnissen vereinbart hätten (Fremdvergleichsgrundsatz), seine Einkünfte unbeschadet anderer Vorschriften so anzusetzen sind, wie sie unter den zwischen voneinander unabhängigen Dritten vereinbarten Bedingungen angefallen wären. Damit bestimmt § 1 Abs. 1 AStG sowohl die Voraussetzungen als auch die entsprechende Rechtsfolge im Fall einer erforderlichen Korrektur der Einkünfte des Steuerpflichtigen. Zentraler Angemessenheitsmaßstab ist der Fremdvergleichsgrundsatz (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AStG).
Rz. 3
Bei § 1 AStG handelt es sich um die aus praktischer Sicht bedeutsamste Vorschrift zur Berichtigung von Einkünften des deutschen Steuerrechts (s. Greil/Greil, in: dies., Steuerliche Verrechnungspreise, 16; Ditz/Wassermeyer, in: Wassermeyer/Baumhoff, Verrechnungspreise, Rz. 2.65). Nach Ansicht der jeweiligen Gesetzgeber soll § 1 AStG im Wesentlichen die folgenden Ziele verfolgen:
- Erfassung von Gewinnverlagerungen:
Nach Ansicht des Gesetzesgebers zum Zeitpunkt der Einführung des § 1 AStG sind "[i]nternational verflochtene Unternehmungen […] bei der Gestaltung ihrer Geschäftsbeziehungen dem Anreiz ausgesetzt, Gewinne nicht im Inland, sondern im Ausland entstehen zu lassen, wenn dies für sie günstiger ist" (so BT-Drs. VI/2883, 23, Rz. 48). Demnach soll § 1 AStG vordringlich Fälle von Gewinnverlagerungen über die Grenze erfassen. Diese Zielsetzung wurde in der Gesetzesbegründung zum UntStRefG 2008 (BGBl I 2007, 1912, s. BT-Drs. 16/4841, 84) sowie zum AbzStEntModG (BGBl I 2021, 1259; BT-Drs. 19/27632, 67ff.) jeweils bekräftigt. Teile der Literatur sehen in der Erfassung von Gewinnverlagerungen den "Kern" des § 1 AStG (Ditz/Wassermeyer, in: Wassermeyer/Baumhoff, Verrechnungspreise, Rz. 2.163; s. auch Ditz/Licht/Linnemann, ISR 2022, 170).
- Erfassung des "zutreffenden Inlandsgewinns":
Die weitere Zielsetzung, einen "zutreffenden Inlandsgewinn" sicherzustellen, findet sich ebenfalls in der Gesetzesbegründung zur Einführung des § 1 AStG (s. BT-Drs. VI/2883, 23, Rz. 49). Der BFH greift in jüngeren Urteilen auf die Formel des "zutreffenden Inlandsgewinns" zurück, um seine Interpretation des § 1 Abs. 1 AStG zu stützen. Eine Gewinnverlagerung über die Grenze, also eine korrespondierende Einkünfteerhöhung der nahestehenden Person im Ausland (siehe obige Zielsetzung), ist aus Sicht des BFH keine zwingende Tatbestandsvoraussetzung für eine Einkünftekorrektur auf Basis des § 1 Abs. 1 AStG (s. BFH vom 27.11.2019, I R 40/19 [I R 14/16], DStR 2020, 2012ff.). Auch die deutsche Finanzverwaltung orientiert sich an der Zielvorgabe des "zutreffenden Inlandsgewinns", so z. B. in Bezug auf das Rangverhältnis des § 1 AStG gegenüber anderen Korrekturnormen (§ 1 Abs. 1 Sätze 1, 4 AStG; s. VWG-VP 2023, Rz. 1.3). Was unter dem "zutreffenden Inlandsgewinn" genau zu verstehen ist, bleibt indes offen.
- Erfassung von Funktionsverlagerungen:
Im Zuge des UntStRefG 2008 (BGBl I 2007, 1912) wurde § 1 AStG um die Regelungen zur Funktionsverlagerung ergänzt (§ 1 Abs. 3 Satz 9 AStG a. F.). Nach Ansicht des damaligen Gesetzgebers sollen die Regelungen zu Funktionsverlagerungen "dazu beitragen, die Besteuerung in Deutschland geschaffener Werte sicherzustellen, wenn immaterielle Wirtschaftsgüter und Vorteile (Know-how, patentiertes oder nicht patentiertes technisches Wissen, Markenrechte und -namen, Kundenstamm usw.) ins Ausland verlagert werden" (BT-Drs. 16/4841, 84).
- Sicherstellung einer Besteuerung am "Ort der w...