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BSG Urteil vom 20.03.2007 - B 2 U 21/06 R

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Stützrente. Mehrere Leistungsträger. Notwendige Beiladung. Feststellung der Rechtswidrigkeit der Anerkennung des ersten Versicherungsfalls. Keine wesentliche Änderung der Verhältnisse für zweiten Versicherungsfall

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der für den ersten Versicherungsfall zuständige Unfallversicherungsträger ist zu dem Rechtsstreit wegen der Stützrente aus dem zweiten Versicherungsfall notwendig beizuladen, wenn hinsichtlich des ersten Versicherungsfalls keine Festsetzung der MdE durch den zuständigen Unfallversicherungsträger erfolgt ist, weil die Entscheidung über die sich wechselseitig bedingenden Stützrenten nur einheitlich ergehen kann (stRspr; vgl. BSG v. 29.04.1982, 2 RU 19/82; BSG v. 28.02.1986, 2 RU 23/84).

2. Kann ein rechtswidriger Bescheid über die Bewilligung einer Unfallrente für den ersten Versicherungsfall aus Vertrauensschutzgründen nicht mehr zurückgenommen werden und beschränkt sich der Unfallversicherungsträger deshalb auf die Feststellung seiner Rechtswidrigkeit, so liegt darin keine wesentliche Änderung der Verhältnisse i.S.v. § 48 SGB X, die zur Entziehung einer auf dem rechtswidrigen Bescheid aufbauenden Stützrente aus dem zweiten Versicherungsfall berechtigt.

 

Normenkette

SGB VII § 56 Abs. 1 S. 2; SGB X § 48 Abs. 1 S. 1, Abs. 3, § 45 Abs. 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 21.02.2006; Aktenzeichen L 17 U 317/03)

SG Würzburg (Urteil vom 23.07.2003; Aktenzeichen S 11 U 354/01)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 2006 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Strittig ist die Entziehung einer Stützrente.

Der im Jahr 1947 in Kasachstan geborene Kläger erlitt dort am 29. November 1989 einen Unfall auf dem Weg zur Arbeit. Nachdem er im Jahr 1993 nach Deutschland umgesiedelt und eingebürgert worden war, gewährte ihm die Berufsgenossenschaft (BG) für Fahrzeughaltungen (im Folgenden BGF) mit Bescheid vom 27. Januar 1998 wegen dieses Unfalls eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH aufgrund des Fremdrentengesetzes (FRG).

Am 27. September 1996 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall, weswegen ihm die beklagte BG der chemischen Industrie mit Bescheid vom 6. Februar 1997 zunächst eine Gesamtvergütung gewährte und anschließend mit Bescheid vom 14. Mai 1998 eine vorläufige Entschädigung nach einer MdE von 10 vH sowie mit Bescheid vom 22. Juli 1999 eine Dauerrente nach einer MdE von 10 vH, jeweils als Stützrente.

Anfang des Jahres 2001 teilte die BGF der Beklagten mit, der Kläger sei nicht als Spätaussiedler nach § 4 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG), sondern als nichtdeutscher Ehegatte eines Spätaussiedlers anerkannt worden. Als solcher habe er keinen Anspruch auf Rente nach dem FRG. Mit Bescheid vom 25. April 2001 stellte die BGF gegenüber dem Kläger die Rechtswidrigkeit ihres Bescheides vom 27. Januar 1998 fest. Dieser könne aber nicht zurückgenommen werden, weil der Kläger auf seinen Bestand vertrauen dürfe. Erhöhungen zu seinen Gunsten seien aber ausgeschlossen. Daraufhin hob die Beklagte ihren Dauerrentenbescheid vom 22. Juli 1999 nach § 45 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X), hilfsweise nach § 48 SGB X insoweit auf, als die darin festgestellte Stützrente für die Zukunft entzogen wurde, und stellte die Zahlung der Verletztenrente mit Ablauf des 30. Juni 2001 ein (Bescheid vom 21. Juni 2001; Widerspruchsbescheid vom 9. Oktober 2001).

Das Sozialgericht Würzburg (SG) hat den Bescheid der Beklagten vom 21. Juni 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Oktober 2001 aufgehoben (Urteil vom 23. Juli 2003). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 21. Februar 2006) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Anzuwenden sei das Siebte Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII), weil erstmals nach dessen Inkrafttreten mit dem Bescheid vom 6. Februar 1997 eine Entschädigung festgestellt worden sei (§ 214 Abs 3 Satz 1 SGB VII). Eine wesentliche Änderung iS des § 48 SGB X liege nicht vor, nach wie vor zahle die BGF aufgrund des ersten Unfalls eine Verletztenrente, auch wenn diese abgeschmolzen werde. Die Beklagte sei an die Bestandskraft des Bescheides der BGF gebunden (Hinweis ua auf das Urteil des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ vom 22. Januar 1981 – 8/8a RU 94/79 – SozR 2200 § 581 Nr 14). Dass der Bescheid der BGF vom 27. Januar 1998 rechtswidrig sei, ändere daran nichts. Entscheidend sei, dass eine Rücknahme dieses Bescheides nach Auffassung der BGF nicht möglich gewesen sei, weil der Kläger auf den Bestand dieses Bescheides vertrauen dürfe.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts und macht geltend, es sei widersprüchlich, wenn ein Unfallversicherungsträger einerseits an die aus Sicht des Versicherten positive Entscheidung eines anderen Unfallversicherungsträgers gebunden sei, zB die Anerkennung eines Versicherungsfalls, andererseits aber nicht ebenso an dessen negative Entscheidung und sogar eine Feststellung des ersten Unfallversicherungsträgers, er habe eine ursprünglich rechtswidrige Entscheidung getroffen, unbeachtet lassen müsse. Ihr angefochtener Aufhebungsbescheid vom 21. Juni 2001 widerspreche nicht der Entscheidung des BSG vom 22. Januar 1981, sondern werde durch diese gestützt. Sie – die Beklagte – korrigiere nicht die Entscheidung der BGF, sondern lege deren Entscheidung ihrer Entscheidung zugrunde. Der Bescheid der BGF vom 25. April 2001 stelle eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen dar. Werde der Auffassung des LSG gefolgt, müsse auch noch bei zukünftigen Arbeitsunfällen des Klägers die rechtswidrige Anerkennung seines Unfalls vom 29. November 1989 als Stütztatbestand berücksichtigt werden. § 48 Abs 3 Satz 2 SGB X widerspreche ihrer Auffassung nicht, da er auf eine andere Fallgestaltung abziele. Es werde auch kein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers angetastet.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts Würzburg vom 23. Juli 2003 und des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. Februar 2006 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist insbesondere darauf hin, dass ihm kein Vorwurf zu machen sei.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist als unbegründet zurückzuweisen. Das Urteil des LSG ist nicht aufzuheben. Denn in den tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen, die dem Dauerrentenbescheid der Beklagten vom 22. Juli 1999 über die Gewährung einer Stützrente zugrunde lagen, ist keine wesentliche Änderung eingetreten, die seine Aufhebung durch den Bescheid der Beklagten vom 21. Juni 2001 für die Zukunft rechtfertigt.

Nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Eine Änderung ist wesentlich, wenn der Verwaltungsakt, so wie er ursprünglich nach der damaligen Sach- und Rechtslage zu Recht erlassen wurde, nach der neuen Sach- und Rechtslage nicht mehr ergehen dürfte. Maßgebend ist das jeweilige materielle Recht (stRspr BSGE 59, 111, 112 = SozR 1300 § 48 Nr 19; BSGE 65, 301 = SozR 1300 § 48 Nr 60 mwN; zuletzt BSGE 95, 57 = SozR 4-1300 § 48 Nr 6 jeweils RdNr 12 ff, vgl schon Urteil des Senats vom 20. Oktober 1983 – 2 RU 61/82; Freischmidt in Hauck/Noftz, SGB X, Stand Januar 2007, § 48 RdNr 11, Steinwedel in Kasseler Kommentar, Stand Mai 2006, § 48 SGB X, RdNr 13; Waschull, Lehr- und Praxiskommentar SGB X, 2004, § 48 RdNr 31; Wiesner in von Wulffen, SGB X, 5. Aufl 2005, § 48 RdNr 6).

Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. In den Verhältnissen, die dem Bescheid der Beklagten vom 22. Juli 1999 über die Gewährung einer Stützrente an den Kläger zugrunde lagen, ist durch den Bescheid der BGF vom 25. April 2001 keine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten.

Notwendig für eine sog Stützrente ist, dass die Erwerbsfähigkeit infolge mehrerer Versicherungsfälle gemindert ist und die Vomhundertsätze zusammen wenigstens die Zahl 20 erreichen (§ 56 Abs 1 Satz 2 SGB VII). Für das Verhältnis der ggf zwei Unfallversicherungsträger, die für die Entschädigung der mehreren Versicherungsfälle zuständig sind, ist gemäß der bisherigen Rechtsprechung des BSG in Übereinstimmung mit der Literatur von Folgendem auszugehen: Der Unfallversicherungsträger, der für den zweiten Versicherungsfall zuständig ist, ist an die Anerkennung des ersten Versicherungsfalls durch den dafür zuständigen Unfallversicherungsträger sowie dessen verbindliche Festsetzung der MdE gebunden (BSG vom 22. Januar 1981 – 8/8a RU 94/79 – SozR 2200 § 581 Nr 14; BSG vom 27. Juni 1984 – 9b RU 76/83 – SozR 2200 § 581 Nr 20; BSG vom 13. Oktober 1993 – 2 RU 5/93 – BSGE 73, 175 = SozR 3-1300 § 48 Nr 31; vgl zur Literatur nur Burchardt in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band 3, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand September 2006, § 56 RdNr 19, 30; Ricke in Kasseler Kommentar, § 56 SGB VII, RdNr 8 ff). Diese enge Verknüpfung zwischen den Stützrenten wird auch dadurch deutlich, dass der für den ersten Versicherungsfall zuständige Unfallversicherungsträger zu dem Rechtsstreit wegen der Stützrente aus dem zweiten Versicherungsfall notwendig beizuladen ist, wenn hinsichtlich des ersten Versicherungsfalls keine Festsetzung der MdE durch den zuständigen Unfallversicherungsträger erfolgt ist, weil die Entscheidung über die sich wechselseitig bedingenden Stützrenten nur einheitlich ergehen kann (BSG vom 29. April 1982 – 2 RU 19/82 –; BSG vom 28. Februar 1986 – 2 RU 23/84 –).

(1) Demgemäß war der Stützrentenbescheid der Beklagten vom 22. Juli 1999 zum Zeitpunkt seines Erlasses rechtmäßig, weil zu diesem Zeitpunkt die BGF aufgrund ihres Rentenbescheides vom 27. Januar 1998 dem Kläger wegen des Unfalls vom 29. November 1989 eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 vH zahlte und dieser Bescheid für die Beklagte bindend war.

(2) Diese Voraussetzungen für eine Stützrente seitens der Beklagten sind auch nach dem Bescheid der BGF vom 25. April 2001 noch gegeben. In diesem Bescheid hat die BGF ihren Rentenbescheid vom 27. Januar 1998 zwar für rechtswidrig erklärt, ihn aber wegen des Vertrauensschutzes des Klägers nicht zurückgenommen, sondern lediglich zukünftige Änderungen zu Gunsten des Klägers ausgeschlossen. Da der Rentenbescheid der BGF Bestand hat, steht ungeachtet der davon abweichenden materiellen Rechtslage weiterhin bindend fest, dass der Kläger am 29. November 1989 einen nach dem SGB VII zu entschädigenden Arbeitsunfall erlitten hat, durch dessen Folgen seine Erwerbsfähigkeit um 10 vH gemindert ist. Damit sind die Voraussetzungen des § 56 Abs 1 Satz 2 SGB VII für die Gewährung einer Stützrente erfüllt.

Die Auffassung der Revision, die durch den Rentenbescheid der BGF begründete formelle Rechtsposition könne den Rentenanspruch gegen die Beklagte nicht stützen, weil aufgrund des nachfolgenden Bescheides vom 25. April 2001 feststehe, dass die Anerkennung des im Jahr 1989 in Kasachstan erlittenen Unfalls als Arbeitsunfall rechtswidrig gewesen sei, ist nicht vertretbar. Sie verkennt das Wesen und die Funktion der materiellen Bestandskraft und der darauf aufbauenden Tatbestandswirkung (Drittbindungswirkung) von Verwaltungsakten. Letztere besagt, dass Behörden und Gerichte die in einem bindenden Bescheid getroffene Regelung, solange sie Bestand hat, als verbindlich hinzunehmen und ohne Prüfung der Rechtmäßigkeit ihren Entscheidungen zugrunde zu legen haben (vgl zur Tatbestandswirkung bei Stützrentenbescheiden: BSG SozR 2200 § 581 Nr 14 S 48). Dass die BGF die Rechtswidrigkeit ihres Rentenbescheides festgestellt hat, ist für dessen Bindungswirkung ohne Belang. Durch diese Feststellung ist nur die Grundlage für ein Einfrieren der Rentenleistungen nach § 48 Abs 3 SGB X geschaffen worden; die rechtsverbindliche Anerkennung der den Stützrentenanspruch begründenden Tatsachen hat sie nicht beseitigt. Dieser rechtlichen Situation trägt im übrigen die Regelung in § 48 Abs 3 Satz 2 SGB X Rechnung, die keinen Anwendungsbereich hätte und mithin überflüssig wäre, wenn die Feststellung der Rechtswidrigkeit, wie die Beklagte meint, trotz fortbestehender Bestandskraft die Tatbestandswirkung des Rentenbescheides entfallen ließe.

Soweit die Beklagte auf vermeintliche Wertungswidersprüche in der Entscheidung des LSG verweist, kann ihr nicht gefolgt werden. Die Schlussfolgerung, im Falle einer Bindung an den Rentenbescheid der BGF müsse die rechtswidrige Anerkennung des im Jahr 1989 erlittenen Unfalls gegebenenfalls auch noch bei zukünftigen weiteren Arbeitsunfällen als Stütztatbestand berücksichtigt werden, lässt außer Acht, dass das Gesetz die Tatbestandswirkung eines rechtswidrigen Grundlagenbescheides durch die Regelung in § 48 Abs 3 Satz 2 SGB X de facto auf bereits bestandskräftig getroffene Folgeentscheidungen begrenzt. Nach der Auslegung durch das BSG erlaubt diese Vorschrift nicht nur das Einfrieren rechtswidrig bewilligter Geldleistungen, sondern soll allgemein verhindern, dass eine zu Unrecht erlangte Rechtsposition im Falle einer späteren Veränderung zu Gunsten des Betroffenen noch weitere darauf aufbauende Vergünstigungen nach sich zieht und dadurch “das Unrecht” weiter erhöht wird (siehe dazu SozR 1300 § 48 Nr 48, 51, 54; BSGE 80, 119 = SozR 3-1300 § 48 Nr 61; Senatsurteil vom 20. März 2007 – B 2 U 38/05 R –, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen). Ohne dass zu der von der Revision angesprochenen Fallkonstellation abschließend Stellung genommen werden muss, kann daraus jedenfalls schon wegen der unterschiedlichen rechtlichen Ausgangslage für die Beurteilung im Fall des Klägers nichts abgeleitet werden.

Eine Aufhebung des Dauerrentenbescheides der Beklagten vom 22. Juli 1999 nach § 45 SGB X scheidet schon deswegen aus, weil er nach dem oben Gesagten rechtmäßig war und ist. Denn der (stützende) Bescheid der BGF vom 27. Januar 1998 über die Gewährung einer Verletztenrente wurde durch den Bescheid der BGF vom 25. April 2001 nicht aufgehoben und bindet nach § 56 Abs 1 Satz 2 SGB VII (vgl die oben dargestellte Rechtsprechung des BSG) die Beklagte.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1762224

HzA aktuell 2007, 39

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