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BSG Beschluss vom 18.07.1990 - 2 BU 37/90

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Richterliche Überzeugungsbildung bei Beweisnotstand

 

Orientierungssatz

Allgemeingültige Beweiserleichterungsrichtlinien für den Fall eines Beweisnotstandes widersprechen dem in § 128 Abs 1 S 1 SGG verankerten Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs 2 Nr 1, § 160a Abs 2 S 3, § 128 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 29.11.1989; Aktenzeichen L 3 U 743/87)

 

Gründe

Die Klägerin ist mit ihrem Begehren, wegen einer vorgeburtlich eingetretenen Hirnschädigung Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erhalten, ohne Erfolg geblieben (Bescheid der Beklagten vom 23. März 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24. August 1982; Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 11. Mai 1987 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 29. November 1989). Das LSG ist zu der Überzeugung gelangt, die geistige Behinderung der Klägerin sei nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit auf das Schreckerlebnis ihrer Mutter während des dritten Schwangerschaftsmonats im Juli 1966 zurückzuführen. Insoweit sei den überzeugenden Ausführungen der Professoren Dr. W.    und Dr. N.        in deren Gutachten vom 2. Februar 1982 und 28. August 1986 (mit ergänzender Stellungnahme vom 16. Februar 1987) zu folgen, die eine frühkindliche Hirnschädigung durch das Schreckerlebnis (Rettung der Rinder während eines plötzlich eingetretenen Hochwassers) lediglich für möglich gehalten haben. Auch Prof. Dr. R.       und Prof. Dr.F.       hätten insoweit keine sicheren Aussagen machen können (Gutachten vom 14. Oktober 1985 mit ergänzender Stellungnahme vom 16. Februar 1987 und vom 23. April 1986). Für die Annahme eines wahrscheinlichen ursächlichen Zusammenhanges reiche es jedenfalls nicht aus, wenn andere Ursachen (zB chromosomale Abweichungen oder Stoffwechselerkrankungen) nach deren Ausführungen ausgeschlossen werden könnten. Dem stehe ua entgegen, daß bei etwa 40 % der geistig behinderten Menschen die Krankheitsursache trotz sorgfältiger Untersuchungen nicht angegeben werden könne.

Mit ihrer hiergegen gerichteten Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, das angefochtene Urteil beruhe auf einem Verfahrensmangel, weil das LSG ihrem Antrag vom 18. Dezember 1987 auf mündliche Anhörung des Sachverständigen Prof. Dr. R.       nicht gefolgt sei. Hierzu hätte sich das LSG gedrängt fühlen müssen, weil Prof. Dr. R.       und auch Prof. Dr. F. die streitentscheidende Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Schreckerlebnis und der vorgeburtlichen Hirnschädigung zumindest einschränkend bejaht hätten, während die beiden anderen Gutachten (Professoren Dr. W.    und Dr. N.       ) hierzu entweder keine Aussage enthielten oder in Teilen nicht zu verwerten seien. Die Rechtssache habe aber auch grundsätzliche Bedeutung. Im Falle einer (möglichen) vorgeburtlichen Schädigung ergäben sich für den damaligen Nasciturus zwangsläufig Beweisnöte. Insofern sei von grundsätzlicher Bedeutung, ob die allgemeinen Beweisanforderungen zugrunde gelegt werden dürften. Zu denken sei vielmehr an Beweiserleichterungen (zB Beweis des ersten Anscheins oder Indizienbeweis), aber auch daran, daß in derartigen Fällen die bloße Möglichkeit der Schädigung im Gegensatz zur hinreichenden Wahrscheinlichkeit genüge.

Die Beschwerde ist unzulässig. Sie entspricht nicht den in § 160 Abs 2 und § 160a Abs 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) festgelegten Erfordernissen.

Zur Begründung der Grundsätzlichkeit einer Rechtssache iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG muß eine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen sein, welche bisher revisionsgerichtlich noch nicht - ausreichend - geklärt ist (s ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 17). Demgemäß muß der Beschwerdeführer, welcher die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache darzulegen hat, aufzeigen, ob und inwieweit zu der aufgeworfenen Frage bereits Rechtsgrundsätze herausgearbeitet sind, und in welchem Rahmen noch eine weitere Ausgestaltung, Erweiterung oder Änderung derselben durch das Revisionsgericht erforderlich erscheint. Hierzu enthält die Beschwerdebegründung keine hinreichenden Ausführungen. Insbesondere fehlt es an jeglicher Auseinandersetzung mit denjenigen Entscheidungen, in denen das Bundessozialgericht (BSG) grundsätzlich entschieden hat, welche Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung bei der Prüfung des ursächlichen Zusammenhanges zwischen einem schädigenden Ereignis und dem Leiden zu stellen sind (vgl grundlegend BSG in SozR RVO § 542 aF Nr 20 und die zahlreichen Nachweise bei Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 244l). Ebensowenig hat die Beschwerdeführerin diejenigen Urteile beachtet, in denen das BSG für Fälle des Beweisnotstandes ausgeführt hat, es sei ausnahmsweise gerechtfertigt, eine Beweiserleichterung dahin zu gewähren, daß an die Bildung der richterlichen Überzeugung weniger hohe Anforderungen gestellt werden (vgl BSGE 19, 52, 56; bestätigt in BSGE 24, 25, 28 f und im Urteil des 8. Senats des BSG vom 20. Januar 1977 - 8 RU 48/76 -). Danach hängt es von den Umständen des Einzelfalles ab, welche Anforderungen im Falle eines Beweisnotstandes zu stellen sind, um den vorgeschriebenen Beweis als erbracht anzusehen. Damit hat das BSG zugleich entschieden, wie sich aus dem Gegenschluß ergibt, daß sich eine Verallgemeinerung, wie sie die Beschwerdeführerin höchstrichterlich entschieden haben will, verbietet (vgl BSG Beschluß vom 24. Juli 1989 - 2 BU 115/89 -). Allgemeingültige Beweiserleichterungsrichtlinien würden auch dem in § 128 Abs 1 Satz 1 SGG verankerten Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung widersprechen. Unabhängig hiervon hat die Beschwerdeführerin auch nicht dargelegt, weshalb sich der Beweisnotstand eines Nasciturus etwa von dem eines Versicherten unterscheidet, dessen Krankheit ungeklärter Genese möglicherweise auf einem bestimmten Unfallgeschehen beruhen kann.

Auch die auf § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 103 SGG gestützte Verfahrensrüge ist nicht schlüssig dargelegt. Zwar bezieht sich die Klägerin auf ihren am 18. Dezember 1987 gestellten Beweisantrag, dem das LSG nicht gefolgt ist. Dieser Vortrag genügt aber nicht den Anforderungen, die an die Bezeichnung eines vom LSG zu berücksichtigenden Beweisantrages zu stellen sind. Der Senat hat hierzu in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß es jedenfalls rechtskundig vertretenen Beteiligten obliegt, in der mündlichen Verhandlung alle diejenigen Anträge zur Niederschrift des Gerichts zu stellen, über die das Gericht entscheiden soll (vgl ua Beschlüsse des Senats vom 3. Oktober 1989 - 2 BU 173/89 - und vom 26. Februar 1990 - 2 BU 181/89 -). Ausweislich der maßgeblichen Sitzungsniederschrift vom 29. November 1989 hat der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin keine Beweisanträge, sondern lediglich einen auf das Klagebegehren gerichteten Sachantrag gestellt.

Soweit die Klägerin darüber hinaus eine unzutreffende Beweiswürdigung durch das Gericht rügt, führt diese Rüge ebenfalls nicht zur Zulässigkeit der Beschwerde; denn auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht gestützt werden (s § 160 Abs 2 Nr 3 2. Halbs SGG).

Die Beschwerde war daher als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650129

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