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BFH Urteil vom 28.07.1987 - VII R 14/84 (NV)

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Auslegung von Prozeßhandlungen

 

Leitsatz (NV)

Prozeßhandlungen wie die Klageerhebung sind der Auslegung zugänglich. Die für die Auslegung bürgerlichrechtlicher Willenserklärungen entwickelten Grundsätze sind entsprechend anwendbar. An die Auslegung des FG ist der BFH nicht gebunden.

 

Normenkette

FGO § 41 Abs. 2; BGB § 133

 

Tatbestand

Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ am 30. November 1981 einen Abrechnungsbescheid nach § 218 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zur Einkommensteuer und evangelischen Kirchensteuer 1975. Gegen diesen Bescheid legten die Kläger und Revisionskläger (Kläger) fristgerecht Einspruch ein, den das FA als unbegründet zurückwies. Mit Schriftsatz vom 10. August 1982 erhoben die Kläger Klage im wesentlichen mit folgender Begründung: Aus dem Abrechnungsbescheid ergebe sich, daß das FA die Summe von 10 678 DM am 5. Oktober 1978 erstattet habe. Das FA habe also die Steuerbeträge für das Jahr 1975 falsch eingezogen und sich jahrelang so verhalten, als wären sämtliche Beträge entrichtet. Wenn es jetzt nach mehreren Jahren diese Beträge von ihnen, den Klägern, verlange, so widerspreche das dem Grundsatz von Treu und Glauben. Die Kläger beantragten in der Klageschrift vom 10. August 1982 ,,festzustellen, daß der Zahlungsanspruch über 10 678 DM auf die Einkommensteuer 1975 verwirkt" sei. In der mündlichen Verhandlung beantragten sie, den Abrechnungsbescheid vom 30. November 1981 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 30. Juli 1982 mit der Maßgabe zu ändern, daß ein Betrag von 10 678 DM Einkommensteuer außer Ansatz bleibe.

Das Finanzgericht (FG) wies die Klage als unzulässig ab. Zur Begründung führte es aus: Nach § 41 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sei eine Feststellungsklage unzulässig, soweit der Kläger seine Rechte durch die Anfechtungsklage verfolgen könne. Im vorliegenden Fall hätten sich die Kläger mit der Anfechtungsklage gegen den Abrechnungsbescheid wenden können und müssen. Es sei jedoch Feststellungsklage erhoben worden. Dies ergebe sich aus dem eindeutig formulierten Klageantrag im Schriftsatz vom 10. August 1982. Dieser Antrag sei nicht auslegungsfähig. Auf der einen Seite sei der Wortlaut eindeutig. Auf der anderen Seite sei zu berücksichtigen, daß der Antrag von einem Angehörigen der steuerberatenden Berufe formuliert worden sei. Deshalb sei davon auszugehen, daß er so, wie er gestellt worden sei, auch habe gestellt werden sollen. Auch auf den Hinweis des Vorsitzenden des erkennenden Senats des FG vom 19. August 1982 hätten die Kläger den Klageantrag innerhalb der Klagefrist nicht umgestellt. Ob der Schriftsatz vom 15. September 1982 angesichts seines nicht eindeutigen Wortlauts eine Klageänderung habe beinhalten sollen, könne dahingestellt bleiben. Im Zeitpunkt des Eingangs bei Gericht sei die Klagefrist gegen den Abrechnungsbescheid bereits abgelaufen gewesen und dieser sei unanfechtbar geworden. Die Umstellung des Klageantrags in der mündlichen Verhandlung sei nach Ablauf der Klagefrist erfolgt. Sie ändere daher im Ergebnis nichts an der Unzulässigkeit der Klage.

Ihre Revision begründen die Kläger wie folgt: Die Klage sei eine Anfechtungsklage gewesen. Der angefochtene Verwaltungsakt sei in der Klageschrift bezeichnet worden. Der Klageantrag habe nicht bedeutet, daß sie, die Kläger, eine Feststellungsklage hätten erheben wollen, sondern daß sie der Auffassung gewesen seien, daß ein in dem angefochtenen Bescheid enthaltener Betrag verwirkt gewesen sei. Ihr Begehren sei klar ersichtlich gewesen. Soweit dem FG etwas unklar gewesen sei, hätte es nach § 76 Abs. 2 FGO darauf hinweisen müssen. Nach § 65 FGO solle in der Klage ein bestimmter Antrag gestellt werden. Der Antrag müsse aber nach § 92 FGO erst in der mündlichen Verhandlung gestellt werden.

Die Kläger beantragen, die Vorentscheidung aufzuheben und die Einspruchsentscheidung so abzuändern, daß der Betrag von 10 678 DM nicht mehr gezahlt zu werden brauche.

Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen. Es führt aus: Der Prozeßbevollmächtigte der Kläger habe in der Klageschrift einen Feststellungsantrag gestellt, wie er klarer und schulmäßiger für diese Klageart nicht hätte gestellt werden können. Das FG habe daher die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen (§ 41 Abs. 2 FGO). Die einmonatige Rechtsmittelfrist sei am 4. September 1982 abgelaufen gewesen. Daher habe das FG zu Recht auf die Bestandskraft der Verwaltungsentscheidung hingewiesen. Einer ggf. anzunehmenden Klageänderung im Wechsel der Klageart von der Feststellungsklage zur Anfechtungsklage stehe die Bestandskraft der Verwaltungsentscheidung entgegen. Die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand lägen nicht vor.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Kläger ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.

Im Gegensatz zur Auffassung des FG kommt der erkennende Senat bei der Auslegung der Klageschrift zum Ergebnis, daß die Kläger Anfechtungsklage erhoben haben.

Die Klageerhebung ist eine Prozeßhandlung. Auch Prozeßhandlungen sind der Auslegung zugänglich. Dabei sind die für die Auslegung von Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts entwickelten Grundsätze entsprechend anwendbar. Es ist daher entsprechend § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) nicht an dem buchstäblichen Sinn des Ausdrucks der Parteierklärungen zu haften, sondern es ist der in der Erklärung verkörperte Wille anhand der erkennbaren Umstände zu ermitteln. Bei dieser Auslegung ist auch Rücksicht auf Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) zu nehmen; der Rechtsweg darf nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden (vgl. Urteil des Senats vom 6. Februar 1979 VII R 82/78, BFHE 127, 135, 136, BStBl II 1979, 374, mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Der Senat ist als Revisionsgericht an die Auslegung durch das FG nicht gebunden (vgl. Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 21. Mai 1981 2 AZR 133/79, Neue Juristische Wochenschrift - NJW - 1982, 1174, und Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. März 1985 VIII ZR 123/84, NJW 1985, 2335).

Aus der Begründung der Klage im Schriftsatz vom 10. August 1982 ergibt sich deutlich, daß die Kläger mit der Entscheidung des FA im ausdrücklich benannten Abrechnungsbescheid nicht einverstanden waren. Sie hatten also den unzweifelhaften Willen, diesen Bescheid anzugreifen, was nur durch eine Anfechtungsklage erfolgen konnte. Sie wollten auch nach den ganzen Umständen eine solche Anfechtungsklage erheben.

Dagegen spricht nicht der in der Klageschrift gestellte Feststellungsantrag. Es ist zwar richtig, daß bei der Auslegung von Anträgen, die von Angehörigen der steuerberatenden Berufe formuliert worden sind, im Regelfall der Wortlaut eine entscheidende Rolle spielt. Im vorliegenden Fall richtet sich die Klage aber gegen einen Abrechnungsbescheid. Dieser hat selbst einen feststellenden Charakter. Es kann daher in einem solchen Fall dem buchstäblichen Sinn des Antrags, einem Feststellungsantrag, keine so große Bedeutung zukommen, daß man davon ausgehen könnte, die Kläger hätten den Abrechnungsbescheid nicht anfechten wollen. Eine andere Auslegung würde den Rechtsweg in einer aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise erschweren (vgl. Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 29. Oktober 1975 2 BvR 630/73, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1976, 70, BStBl II 1976, 271).

Die Vorentscheidung war daher aufzuheben. Dem Senat ist eine Entscheidung in der Sache mangels ausreichender Feststellungen der Vorinstanz nicht möglich. Die Sache war daher zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 FGO).

 

Fundstellen

Haufe-Index 415247

BFH/NV 1988, 241

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