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BFH Urteil vom 02.08.1955 - I 186/54 U

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Verfahrensrecht/Abgabenordnung

 

Leitsatz (amtlich)

Ein Rechtsmittelverzicht muß grundsätzlich ausdrücklich erklärt werden. Die nach § 94 AO erteilte Zustimmung eines Steuerpflichtigen zur änderung des Steuerbescheids gemäß dem Ergebnis einer Betriebsprüfung kann nicht als stillschweigender Rechtsmittelverzicht ausgelegt werden, und zwar in der Regel auch dann nicht, wenn gleichzeitig die Rücknahme eines früher eingelegten Rechtsmittels erklärt wird. Soweit das Urteil des RFH VI 683/37 vom 5. Januar 1938 (RStBl. S. 74) dem entgegensteht, hält der Senat nicht daran fest.

 

Normenkette

AO §§ 248, 235

 

Tatbestand

Mit Steuerbescheid vom 12. April 1951 hatte das Finanzamt den Steuerpflichtigen, einen Bäckermeister, für II/1948 und 1949 statt mit den erklärten Gewinnen von 4.807 DM bzw. 1.496 DM mit geschätzten Gewinnen von 5.400 DM bzw. 16.200 DM zur Einkommensteuer veranlagt. Während der Einspruch schwebte, fand im Oktober 1951 eine Betriebsprüfung statt, bei der der Betriebsprüfer einen Gewinn von 5.730 DM für II/1948 und von 12.397 DM für 1949 feststellte. Bei Beginn der Prüfung übergab der Helfer in Steuersachen dem Betriebsprüfer eine Selbstanzeige des Steuerpflichtigen. Mit Schreiben vom 8. Dezember 1951 erklärte der Helfer in Steuersachen, daß er das eingelegte Rechtsmittel zurückziehe, und bat, das Ergebnis der Betriebsprüfung gelten zu lassen. In der Berichtigungsveranlagung, die das Finanzamt auf § 222 AO in Verbindung mit § 94 AO stützte, setzte es den Gewinn entsprechend dem Vorschlag des Prüfers an und erteilte die übliche Rechtsmittelbelehrung. Dagegen legte der Beschwerdeführer (Bf.) wiederum Einspruch ein mit der Begründung, der angesetzte Gewinn sei aus verschiedenen Gründen zu hoch. Das Finanzamt wies nach sachlicher Prüfung den Einspruch als unbegründet zurück.

Das Finanzgericht hielt den Einspruch für unzulässig, weil es in dem Schreiben des Bf. vom 8. Dezember 1951 einen Rechtsmittelverzicht sah. Es führte aus, das Schreiben enthalte die Zustimmung zur Berichtigung der angefochtenen Veranlagung im Sinne des § 94 AO und den Verzicht auf ein neues Rechtsmittel, soweit der Zustimmung entsprochen worden sei. Eine Zustimmung nach § 94 AO hindere einen Steuerpflichtigen nicht ohne weiteres, den berichtigten Steuerbescheid anzufechten (Urteil des Reichsfinanzhofs VI A 195/33 vom 14. März 1933, Reichssteuerblatt - RStBl. - 1933 S. 349). Wenn aber ein Steuerpflichtiger, der durch einen rechtskundigen Berater vertreten sei, gleichzeitig mit der Zustimmungserklärung einen Einspruch zurücknehme, so müsse angenommen werden, daß er mit der Berichtigung das Rechtsmittelverfahren als endgültig abgeschlossen betrachte. Es wäre sinnlos, das Einspruchsverfahren abzuschließen und dem Steuerpflichtigen gleichzeitig zu gestatten, das Rechtsmittelverfahren auf dem Umweg über § 94 AO erneut durch alle Instanzen zu treiben (Urteil des Reichsfinanzhofs VI 683/37 vom 5. Januar 1938, RStBl. S. 74).

Mit der Rechtsbeschwerde (Rb.) macht der Bf. geltend, er habe bei der Zurücknahme des Rechtsmittels unter Druck gestanden, weil ihm mit einem Strafverfahren gedroht worden sei. Er habe auch die Höhe der Steuernachforderung nicht übersehen und könne den nachgeforderten Betrag nicht aufbringen. Das Ergebnis der Betriebsprüfung sei ihm zur Zeit des Schreibens vom 8. Dezember 1951 im einzelnen noch nicht bekannt gewesen. Das Finanzamt habe in dem angefochtenen Bescheid auch die übliche Rechtsmittelbelehrung erteilt und nicht etwa ein weiteres Rechtsmittel als unzulässig bezeichnet.

 

Entscheidungsgründe

Die Rb. ist begründet.

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Bf., wie er behauptet, zur Rücknahme des Einspruchs durch die Androhung eines Strafverfahrens bewogen wurde und die Rücknahme des Rechtsmittels deshalb möglicherweise unwirksam war. Das Finanzgericht hat das entsprechende Vorbringen des Bf. nicht gewürdigt. Denn selbst wenn der Einspruch wirksam zurückgenommen war, konnte das Finanzgericht im vorliegenden Fall einen wirksamen Rechtsmittelverzicht hinsichtlich der nach dem Ergebnis der Betriebsprüfung durchgeführten Veranlagungen nicht annehmen.

Nach der ständigen Rechtsprechung ist ein Rechtsmittelverzicht nach § 248 AO auch zulässig, wenn ein Steuerbescheid noch nicht vorliegt. An einen Rechtsmittelverzicht, der vor Erlaß eines Steuerbescheids erklärt wird, sind aber im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsschutzes für die Steuerpflichtigen strenge Anforderungen zu stellen. Im Urteil des Bundesfinanzhofs IV 524/52 U vom 30. Juli 1953 (Slg. Bd. 57 S. 760, Bundessteuerblatt III S. 288) hat der IV. Senat die an sich schon strengen Anforderungen des Reichsfinanzhofs noch verschärft. Er verlangt insbesondere, daß der nachzuzahlende Betrag - getrennt nach Steuerart und Jahr - dem Steuerpflichtigen bekanntgegeben wird, damit der Steuerpflichtige die Tragweite des Rechtsmittelverzichts klar übersieht. Er verlangt ferner, daß diese Bekanntgabe in einer Verhandlungsniederschrift festgehalten wird, damit eine klare Beweislage geschaffen wird. Der erkennende Senat tritt dieser Rechtsauffassung bei.

Es ist mit diesen Rechtsgrundsätzen nicht zu vereinbaren, in ihrer Tragweite zweifelhafte Erklärungen und Handlungen zuungunsten der Steuerpflichtigen als Rechtsmittelverzichte auszulegen, weil damit im Ergebnis auf die erwähnten, von der Rechtsprechung gesetzten Sicherungsmaßnahmen verzichtet würde. Ein Rechtsmittelverzicht muß eindeutig erklärt werden. Stimmt ein Steuerpflichtiger einem Betriebsprüfungsergebnis zu oder gibt er die Zustimmung zur Berichtigung einer Veranlagung gemäß § 94 AO, so können solche Erklärungen über ihren eigentlichen Inhalt hinaus nicht ohne weiteres zu Rechtsmittelverzichten erweitert werden. Der Steuerpflichtige begibt sich mit solchen Erklärungen in der Regel nicht der Handlungsfreiheit hinsichtlich der Einlegung eines Rechtsmittels. Legt er ein Rechtsmittel ein, so hat das nach Treu und Glauben in der Regel nur zur Folge, daß auch das Finanzamt an etwaige Zusagen über die Behandlung des Steuerfalls, die es dem Steuerpflichtigen gemacht hatte, nicht gebunden ist und seine Entschließungsfreiheit zurückerhält.

Das Finanzgericht weist zutreffend darauf hin, daß nach der früheren Rechtsprechung des Reichsfinanzhofs (vgl. das erwähnte Urteil VI A 195/33) eine Zustimmung des Steuerpflichtigen nach § 94 AO nicht als Rechtsmittelverzicht ausgelegt werden kann. Diese Rechtsprechung sollte, ohne daß es ausdrücklich ausgesprochen ist, in dem erwähnten Urteil VI 683/37 offenbar eingeschränkt werden, wenn dort ausgeführt wird, die Rücknahme eines Rechtsmittels müsse unter Umständen als Rechtsmittelverzicht aufgefaßt werden, wenn der berichtigte Bescheid gemäß der vom Steuerpflichtigen erteilten Zustimmung ergehe. Zur Begründung wird ausgeführt, es würde eine Verewigung der Steuerstreitigkeiten bedeuten, wenn man annehmen wollte, daß in solchen Fällen gegen den neuen Bescheid wieder ein Rechtsmittel zulässig wäre, wodurch die ganze Streitfrage wieder aufgerollt würde.

Der Senat tritt dieser Rechtsauffassung nicht bei. Die Verwaltung hat - ebenso wie der Steuerpflichtige - zwar ein berechtigtes Interesse daran, anhängige Rechtsmittel bald und endgültig zu erledigen. Dieses Ziel darf aber nicht auf Kosten des Rechtsschutzes für den Steuerpflichtigen erstrebt werden. Will die Verwaltung einen Rechtsmittelverzicht erreichen, so kann sie es im allgemeinen nur unter den Sicherungen tun, die die Rechtsprechung für Rechtsmittelverzichte aufgestellt hat.

Im vorliegenden Fall liegt ein Rechtsmittelverzicht, der den Anforderungen der Rechtsprechung genügt, nicht vor. Der Fall zeigt zugleich, wie notwendig und zweckmäßig die von der Rechtsprechung entwickelten Sicherungen sind. Der Bf. behauptet, er habe unter Druck gestanden, die Höhe der Steuernachforderung sei ihm nicht bekanntgegeben worden und er habe mit der Zustimmungserklärung nach § 94 AO keinen Rechtsmittelverzicht abgeben wollen. Das Finanzamt behauptet in allen Punkten das Gegenteil. Eine eindeutige Klärung der Vorgänge ist erfahrungsgemäß nach so langer Zeit nicht mehr möglich. Solche Unklarheiten widersprechen aber der Bedeutung eines Rechtsmittelverzichts. Das Finanzamt hat im übrigen ursprünglich die Erklärung des Steuerpflichtigen selbst nicht als Rechtsmittelverzicht aufgefaßt. Denn sonst hätte es die übliche Rechtsmittelbelehrung nicht geben können. Es hätte auch den Einspruch als unzulässig verwerfen müssen, während es sachlich darüber entschieden hat. Es geht aber nicht an, daß das Finanzamt im Zuge eines Rechtsmittelverfahrens sich mit seinem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch setzt.

Die Vorentscheidung beruht demnach auf einer rechtsirrigen Anwendung des § 248 AO und ist aufzuheben. Die nicht entscheidungsreife Sache wird an das Finanzgericht zurückverwiesen, damit es das Rechtsmittel sachlich prüft.

 

Fundstellen

Haufe-Index 408244

BStBl III 1955, 331

BFHE 1956, 345

BFHE 61, 345

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