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BFH Beschluss vom 23.10.1990 - VII S 22/90 (NV)

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Entscheidungsstichwort (Thema)

Ermessensbegründung bei mehreren Haftungsschuldnern

 

Leitsatz (NV)

Kommt neben der Haftung des nominell bestellten Geschäftsführers einer GmbH für deren Steuerrückstände auch die Haftung eines anderen als faktischer Geschäftsführer oder als Nachfolgegeschäftsführer in Betracht, so muß das FA spätestens in der Einspruchsentscheidung im Rahmen seiner Ermessenserwägungen nach § 191 Abs. 1 AO 1977 auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme des anderen potentiellen Haftungsschuldners eingehen.

 

Normenkette

AO 1977 § 34 Abs. 1, §§ 35, 69, 191 Abs. 1; FGO § 69 Abs. 2-3, § 102

 

Tatbestand

Der Antragsteller war Geschäftsführer einer GmbH. Aufgrund eines Treuhandvertrages hielt er die Geschäftsanteile an dieser Gesellschaft zugunsten der Treugeber T und U, deren Weisungen er unterlag. Durch Gesellschafterbeschluß vom 1. Juni 1984 wurde der Antragsteller mit Wirkung vom 1. Juli 1984 als Geschäftsführer der GmbH abberufen und T zum neuen Geschäftsführer bestellt. Mit Beschluß des zuständigen Amtsgerichts vom Oktober 1984 wurde die Gesellschaft aufgelöst, nachdem die Eröffnung des Konkursverfahrens mangels Masse abgelehnt worden war.

Der Antragsgegner (das Finanzamt - FA -) nahm den Antragsteller wegen nicht abgeführter Lohnsteuer, Lohnkirchensteuer und Umsatzsteuer der GmbH (Haftungszeiträume September 1982 bis Mai 1984) gemäß § 69 i. V. m. § 34 der Abgabenordnung (AO 1977) als Haftungsschuldner in Anspruch. Die Einsprüche und die Klage des Antragstellers gegen die Haftungsbescheide blieben im wesentlichen erfolglos. Der Antragsteller hat gegen das Urteil des Finanzgrichts (FG) Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt, die er auf einen Verfahrensmangel (unzureichende Sachaufklärung) und auf Abweichung der Vorentscheidung von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) stützt. Im vorliegenden Verfahren beantragt er beim BFH, die Vollziehung der Haftungsbescheide in der Gestalt des Urteils des FG bis zur Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde bzw. die Revision auszusetzen. Zur Begründung bezieht er sich auf seine Beschwerdebegründung, aus der sich ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Haftungsbescheide ergeben sollen.

 

Entscheidungsgründe

1. Der Antrag ist zulässig.

Nach § 69 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht der Hauptsache bei Vorliegen ernstlicher Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts die Vollziehung ganz oder teilweise aussetzen. Hat der BFH über die Rechtmäßigkeit eines Bescheids im Revisionsverfahren zu entscheiden, so ist er als Gericht der Hauptsache auch für das Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 2 und 3 FGO zuständig. Das gilt bereits ab dem Zeitpunkt der Einlegung der Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision (BFH-Beschluß vom 1. August 1988 IV S 4/88, BFH/NV 1990, 40, m. w. N.). Da im Streitfall gegen das Urteil des FG Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt worden ist, ist der Senat mithin für die Entscheidung über den Antrag des Antragstellers auf Aussetzung der Vollziehung der Haftungsbescheide zuständig.

Die unmittelbare Anrufung des Gerichts mit dem Aussetzungsantrag ist gemäß Art. 3 § 7 Abs. 1 Nr. 1 und 3 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (VGFGEntlG) zulässig. Denn das FA hat nach Ergehen der Entscheidung des FG die weitere Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Haftungsbescheide abgelehnt und es betreibt aus diesen die Vollstreckung gegen den Antragsteller.

2. Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung der Haftungsbescheide ist auch begründet. Der Senat hat mit Beschluß vom heutigen Tage VII B 85/90 auf die Beschwerde des Antragstellers die Revision gegen das Urteil des FG zugelassen, so daß es zu einer höchstrichterlichen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Haftungsbescheide kommen wird. Nach der für das vorliegende Verfahren gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Haftungsbescheide, die deren Aussetzung der Vollziehung bis zur Entscheidung über die Revision rechtfertigen.

a) Die Revision war nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zuzulassen, weil das Urteil des FG hinsichtlich seiner Ausführungen über die Notwendigkeit einer Begründung der bei Haftungsbescheiden zu treffenden Ermessensentscheidung der Verwaltung von der Rechtsprechung des BFH abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Der Antragsteller hat mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde die Divergenz unter Hinweis auf das Urteil des Senats vom 30. April 1987 VII R 48/84 (BFHE 149, 511, BStBl II 1988, 170) in der durch § 115 Abs. 3 Satz 3 FGO vorgeschriebenen Form gerügt. Danach enthalten die angefochtenen Verwaltungsakte - wie auch das FG festgestellt hat - keine Ausführungen zu den Ermessenerwägungen des FA. Dieser Begründungsmangel begründet nach der Rechtsprechung des Senats ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Haftungsbescheide. Wie der Antragsteller zutreffend ausführt, konnte im Streitfall - entgegen der Auffassung des FG - auf die Begründung des Auswahlermessens zwischen der Inanspruchnahme des Antragstellers und des T nicht verzichtet werden.

Bei der Inanspruchnahme eines nach den §§ 34, 69 AO 1977 Haftenden handelt es sich um eine Ermessensentscheidung (§ 191 Abs. 1 AO 1977), die nach § 102 FGO darauf zu überprüfen ist, ob der Haftungsbescheid deshalb rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. BFH-Urteile vom 13. April 1978 V R 109/75, BFHE 125, 126, BStBl II 1978, 508, und vom 3. Februar 1981 VII R 86/78, BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493). Wegen der Befugnis und Verpflichtung des Gerichts zur Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen, die dem Gericht keinen Raum für eigene Ermessenserwägungen läßt, muß die Ermessensentscheidung der Verwaltung im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung begründet werden (vgl. § 121 Abs. 1, § 126 Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 AO 1977), andernfalls sie im Regelfall fehlerhaft ist. Dabei müssen die bei der Ausübung des Verwaltungsermessens angestellten Erwägungen - die Abwägung des Für und Wider der Inanspruchnahme des Haftungsschuldners - aus der Entscheidung erkennbar sein (BFHE 133, 1, BStBl II 1981, 493 und BFHE 149, 511, BStBl II 1988, 170).

Die Behörde muß insbesondere zum Ausdruck bringen, warum sie den Haftungsschuldner anstatt des Steuerschuldners oder anstelle anderer ebenfalls für die Haftung in Betracht kommende Personen in Anspruch nimmt. Nach der Rechtsprechung des BFH kommt auch ein faktischer Geschäftsführer einer GmbH, wenn er mit dem entsprechenden Anschein einer Berechtigung tatsächlich nach außen hin auftritt, obwohl er formell nicht zum Geschäftsführer bestellt worden ist, gemäß § 69 i. V. m. § 35 AO 1977 für die Haftung in Betracht (Urteil vom 10. Mai 1989 I R 121/85, BFH/NV 1990, 7). Ferner kann ein Nachfolgegeschäftsführer auch für die von seinem Vorgänger nicht an das FA abgeführten Steuern nach §§ 69, 34 Abs. 1 AO 1977 haften (Urteil des Senats vom 17. Januar 1989 VII R 88/86, BFH/NV 1990, 71). Diese potentiellen Haftungsschuldner sind deshalb ebenfalls in die Ermessenserwägungen einzubeziehen, die bei der Inanspruchnahme des formell bestellten Geschäftsführers, der später von seinem Amt entbunden worden ist, anzustellen sind (vgl. BFH/NV 1990, 71).

b) Nach den Ausführungen der Vorentscheidung hat das Amtsgericht in einem Strafurteil festgestellt, daß der Treugeber T, für den der Antragsteller treuhänderisch GmbH-Anteile hielt, bereits ab Mitte 1983 als faktischer Geschäftsführer der GmbH aufgetreten ist. Das FG hat es nicht als ausgeschlossen angesehen, daß T die Geschäfte der GmbH im streitbefangenen Zeitraum geführt hat, während der Antragsteller nur nominell zur Geschäftsführung bestellt war. Auch nach den Einspruchsentscheidungen des FA erfolgte die Leitung der GmbH tatsächlich durch T. Mit Wirkung zum 1. Juli 1984 ist dann der Antragsteller als Geschäftsführer abberufen und T auch formell zum Geschäftsführer bestellt worden. Es kommt somit neben der Haftung des Antragsteller nach der vorstehend angeführten Rechtsprechung des BFH auch eine Haftung des T sowohl als faktischer Geschäftsführer der GmbH als auch als Nachfolgegeschäftsführer nach Abberufung des Antragstellers in Betracht. Die Verwaltungsentscheidungen des FA (Haftungsbescheide und Einspruchsentscheidungen) enthalten aber - wie das FG zutreffend festgetellt hat - keine Ausführungen zum Auswahlermessen des FA hinsichtlich der auch denkbaren Haftungsinanspruchnahme des T. Auf die Darlegung dieser Ermessenerwägungen konnte nicht - wie das FG meint - deshalb verzichtet werden, weil der Antragsteller nominell der Geschäftsführer der GmbH war. Denn das schließt eine Mithaftung des T als faktischer Geschäftsführer oder zumindest als auch formell bestellter Nachfolgegeschäftsführer nicht aus.

Da in den Verwaltungsentscheidungen jegliche Ausführungen zum Auswahlermessen fehlen, kann nicht ausgeschlossen werden, daß das FA überhaupt keine Erwägungen zur Frage der Inanspruchnahme des T angestellt und damit für die Ermessensentscheidung wesentliche Umstände außer acht gelassen hat (Fall der Ermessensunterschreitung, vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, § 102 Anm. 2, 6). Der Senat braucht nicht zu prüfen, ob und in welchem Umfang T als faktischer Geschäftsführer oder als Nachfolgegeschäftsführer die streitbefangenen Steuerrückstände hätte entrichten können und ob er somit tatsächlich den Haftungstatbestand erfüllt hat. Denn jedenfalls ist die Ermessensentscheidung deshalb fehlerhaft, weil das FA in den Einspruchsentscheidungen auf die Möglichkeit der Inanspruchnahme des T nicht eingegangen ist (vgl. BFH/NV 1990, 71, 72).

Die Vollziehung der angefochtenen Haftungsbescheide war auszusetzen, weil bereits die fehlerhafte Ermessensentscheidung ernstlichen Zweifel i. S. des § 69 Abs. 2 und 3 FGO an der Rechtmäßigkeit der Verwaltungsentscheidungen begründet. Der Senat brauchte deshalb nicht zu prüfen, ob auch die Verfahrensrügen des Antragstellers - mangelnde Sachaufklärung hinsichtlich der Niederlegung des Geschäftsführeramtes, der Ursächlichkeit der Pflichtverletzung und des Verschuldens des Antragstellers - die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 3, Abs. 3 Satz 3 FGO gerechtfertigt und die die Aussetzung der Vollziehung der Haftungsbescheide geboten hätten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 417406

BFH/NV 1991, 500

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Die erforderliche Ausübung des Ermessens durch die Behörde muss im Haftungsbescheid, spätestens aber in der Einspruchsentscheidung erfolgen, denn das Finanzgericht hat lediglich die behördliche Ermessensentscheidung zu überprüfen; es darf jedoch keine eigene Ermessenserwägungen anstellen.


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