StVG § 7 § 17; StVO § 4 § 7
Leitsatz
1. Zur Erschütterung des Anscheinsbeweises bei einem Auffahrunfall muss der Auffahrende den zeitlichen und räumlichen Zusammenhang eines von ihm behaupteten Fahrstreifenwechsel des Vordermanns beweisen.
2. Zu den Voraussetzungen einer erneuten Zeugenvernehmung in der Berufungsinstanz
OLG Celle, Urt. v. 11.12.2024 – 14 U 91/23
1 Sachverhalt
I. Die Parteien streiten um Ansprüche nach einem Verkehrsunfall am 18.4.2022, der sich auf dem … weg, Fahrtrichtung Süden, in H. auf dem linken Fahrstreifen ereignete.
Der Kläger befuhr mit seinem Fahrzeug den linken Fahrstreifen. Die Beklagte zu 1) fuhr ebenfalls auf dem linken Fahrstreifen, wobei zwischen den Parteien streitig ist, ob sie kurz vor dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall vom rechten auf den linken Fahrstreifen wechselte. Der Kläger fuhr auf das Fahrzeug der Beklagten zu 1) auf. Vor dem Fahrzeug der Beklagten fuhr der Zeuge A.
Der Kläger hat erstinstanzlich behauptet, er sei hinter dem Zeugen A. mit ausreichendem Sicherheitsabstand gefahren. Die Beklagte zu 1) habe sodann unvermittelt – ohne Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers – vom rechten auf den linken Fahrstreifen gewechselt. Genau in diesem Moment habe der Zeuge A. stark abbremsen müssen, daraufhin sei die Beklagte zu 1) auf das Fahrzeug des Zeugen A. aufgefahren und der Kläger wiederum trotz sofortiger Gefahrenbremsung durch die durch den Spurwechsel erfolgte erhebliche Verkürzung des Sicherheitsabstandes auf die Beklagte zu 1) aufgefahren. Der Kläger habe die Kollision nicht verhindern können.
Die Beklagten haben erstinstanzlich behauptet, der Spurwechsel der Beklagten zu 1) sei zum Zeitpunkt der Kollision längst abgeschlossen gewesen. Die Beklagte zu 1) sei auch rechtzeitig hinter dem Zeugen A. zum Stehen gekommen, der Kläger habe sie mit seinem Fahrzeug auf den Zeugen A. aufgeschoben.
Das Landgericht hat mit am 6.6.2023 verkündeten Urteil, auf das gemäß § 540 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 ZPO hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen, des Vorbringens der Parteien im Einzelnen und der erstinstanzlichen Anträge Bezug genommen wird, der Klage nach Parteianhörung und Zeugenvernehmung überwiegend stattgegeben. Dem Kläger stehe der geltend gemachte Anspruch zu. Die Kammer sei davon überzeugt, dass sich der Unfall aufgrund des plötzlichen Fahrstreifenwechsels der Beklagten zu 1) ereignet habe. Hierdurch habe sie den Bremsweg des klägerischen Fahrzeugs derart verkürzt, dass dieser nicht mehr auf den Bremsvorgang des Zeugen A. habe reagieren können. Zu dieser Überzeugung sei die Kammer aufgrund der persönlichen Anhörung des Klägers und der Vernehmung des Zeugen T. gekommen. Der Kläger habe das Unfallgeschehen eindrücklich geschildert. Die Angaben zum unvermittelten Spurwechsel habe der Zeuge T. bestätigt. Zwar habe der Zeuge den eigentlichen Unfallhergang nicht beobachtet, die Kammer sei aber davon überzeugt, dass sich der vom Zeugen beschriebene Spurwechsel kurz vor dem Auffahrunfall ereignet habe. Dem Kläger stehe deshalb Schadensersatz in Höhe des Wiederbeschaffungsaufwands (3.200 EUR), eine Entschädigung für den Nutzungsausfall von 731 EUR, ein Anspruch auf Erstattung der Kosten für den Einsatz der Feuerwehr (311,28 EUR), sowie Ersatz der Kosten für das Sachverständigengutachten zu. Schließlich seien ihm 300 EUR Schmerzensgeld zuzuerkennen wegen der erlittenen multiplen Prellungen. Diese seien durch den Arztbrief der M. und durch das Attest seiner Ärztin bestätigt.
Gegen dieses Urteil wenden sich die Beklagten mit ihrer Berufung, mit der sie unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens die Abweisung der Klage begehren, soweit die Verurteilung über einen Betrag von 1.703,86 EUR und entsprechende Rechtsanwaltskosten hinausgeht. Zu Unrecht habe das Landgericht ein Schmerzensgeld zugesprochen. Unfallbedingte Verletzungen seien nicht durch etwaige ärztliche Atteste bewiesen. Zu Unrecht sei das Landgericht zudem davon ausgegangen, der Unfall habe sich einzig aufgrund des behaupteten Spurwechsels ereignet. Der Spurwechsel sei bereits vollständig abgeschlossen gewesen und habe sich bereits längere Zeit vor dem Unfall ereignet. Ausgangspunkt sei daher das Auffahrverschulden (§ 4 StVO) des Klägers. Gegen ihn spreche ein Anscheinsbeweis, den er durch Glaubhaftmachung eines atypischen Geschehensablaufs hätte erschüttern müssen. Das sei ihm nicht gelungen. Der Zeuge T. habe überhaupt nicht wahrgenommen, dass und wann sich der Unfall ereignet habe. Auch der Zeuge A. habe dazu nichts sagen können. Wiederum zu Unrecht habe das Landgericht kein unfallanalytisches Gutachten eingeholt. Die Beklagten ließen sich dennoch in der Berufungsinstanz eine Mithaftung im Zusammenhang mit dem Schadensersatzanspruch von 33 % gefallen.
Die Beklagten beantragen, das Urteil des LG Hannover abzuändern und die Klage abzuweisen, sofern die Beklagten gesamtschuldnerisch zu mehr verurteilt worden sind, als an den Kläger 1.703,86 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit d...