Tz. 30

Das Vorsichtsprinzip ist sowohl für den Ansatz als auch für die Bewertung entscheidend und prägt das HGB-Bilanzrecht maßgeblich.[58] Es kommt in zahlreichen anderen Bewertungsvorschriften zum Ausdruck, namentlich im Anschaffungs- und Herstellungskostenprinzip sowie im Niederstwertprinzip (vgl. Tz. 120, 135) und entspricht der Kapitalerhaltungsfunktion der Bilanz, die daraus resultiert, dass die Bilanz über die Höhe der gesellschaftsrechtlich ausschüttbaren Gewinne entscheidet (Kapitel 7 Tz. 15).

Kritisiert wird das Vorsichtsprinzip, weil es in einem schwer auflösbaren Spannungsverhältnis mit dem Einblicksgebot gem. § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB steht, die Legung stiller Reserven begünstigt und damit den Konflikt zwischen Gläubiger- und Anlegerinteressen zulasten letzterer entscheidet.[59] Gleichwohl erlaubt das Vorsichtsprinzip nicht die bewusste Bildung stiller Reserven. Lange ließ das Gesetz aber insbesondere sog. Willkürabschreibungen gem. § 253 Abs. 3 HGB zu, die mit dem Vorsichtsprinzip gerechtfertigt wurden. Diese Möglichkeit ist mit dem BilMoG von 2009 gestrichen worden. Zugleich wurden u. a. Wertuntergrenzen eingeführt, indem § 255 Abs. 2 HGB nunmehr verpflichtend auch die Einbeziehung bestimmter Gemeinkosten in die Herstellungskosten verlangt (vgl. Tz. 687). Das bedeutet aber keine Schwächung des Vorsichtsprinzips als einen das Wertkonzept des HGB prägenden Grundsatz, sondern eine punktuelle Anhebung des Informationsniveaus.

 

Tz. 31

Die Meinungen darüber, wie das Vorsichtsprinzip im HGB konkret zu verstehen sei, gehen weit auseinander und weichen von der vorstehenden Konzeption teilweise grundlegend ab. So wird bestritten, dass das Vorsichtsprinzip in zahlreichen Vorschriften zum Ausdruck komme und daher ein "allgemeines Prinzip" sei. Auch könnten Spezialvorschriften niemals Ausfluss eines "GoB" sein, vielmehr kämen GoB nur zum Tragen, wenn keine Spezialvorschriften existierten. Deshalb sei das Vorsichtsprinzip lediglich eine von mehreren Vorgaben der HGB-Bewertungsvorschriften und nur beachtlich, soweit keine konkreten Vorgaben bestünden.[60] Dieser Streit berührt vor allem die Frage, was GoB sind, wie sie gewonnen werden und in welchem Verhältnis sie zu (anderen) geschriebenen Regelungen des Bilanzrechts stehen. Diese Frage ist Gegenstand zahlreicher Untersuchungen gewesen und bis heute nicht nachhaltig geklärt.[61] Insbesondere mit fortschreitendem Einfluss der IFRS sowohl auf die Praxis als auch auf den Gesetzgeber gerät das Vorsichtsprinzip weiter unter Druck, weshalb die dogmatischen Bemühungen, seine Relevanz zu begründen, zusehens geringer werden. Ein strenges Vorsichtsprinzip gilt nicht mehr als zeitgemäß. Ob sich seine Relevanz auf eine reine Lückenfüllungsfunktion, die es sich mit anderen Vorgaben nach § 252 HGB teilen muss, zutreffend beschrieben ist, muss hier ebenso offenbleiben wie die Frage, ob das Verhältnis von § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB, einem GoB des Vorsichtsprinzips und anderen gesetzlichen Vorgaben und Prinzipien rechtstechnisch so gelöst werden kann, wie die vorstehenden Auffassungen es suggerieren. Angesichts der Tatsache, dass § 252 HGB in erster Linie bereits bestehende "GoB" kodifizieren wollte, erscheinen Zweifel daran angebracht.

 

Tz. 32

Die praktischen Auswirkungen der vorstehenden dogmatischen Probleme lassen sich offenbar gering halten. Relevanz erlangt das Vorsichtsprinzip tatsächlich praktisch insbesondere dort, wo das Gesetz Ermessensspielräume und unbestimmte Rechtsbegriff verwendet, wo also konkrete Vorgaben zur Bilanzierung fehlen. Hier weist das Gesetz die konkrete Entscheidung über den bilanziellen Ansatz oder die Bewertung dem Kaufmann wegen seiner Sachnähe zu.[62] Gleichsam ist der Kaufmann durch das Vorsichtprinzip gebunden und damit gehalten, nicht die günstigste, sondern die wahrscheinlich zutreffendste Bewertungsentscheidung zu treffen. Andererseits muss er auch nicht die ungünstigste Bewertungsentscheidung wählen. Unter gleich wahrscheinlichen hat er die vorsichtigste zu treffen, wobei auch die Wahrscheinlichkeitsprognose vorsichtig zu erfolgen hat; im Zweifel ist von einem ungünstigen Verlauf auszugehen, nicht aber vom schlechtesten Fall.[63] Ob diese Maßstäbe auch im Falle der – nur noch wenigen – Wahlrechte gelten, ob der Kaufmann hier generell frei in seiner Entscheidung ist, ist umstritten.[64]

[58] Tiedchen, in: MüKo-BilR, § 252 HGB Rn. 48.
[59] Merkt, in: Baumbach/Hopt, § 252 HGB Rn. 13 ff.
[61] ADS, § 243 Rn. 10 ff.; Kleindiek, in MüKo-BilR, § 243 HGB Rn. 4; Leffson, GoB, passim.
[62] Überzeugend Hennrichs, Wahlrechte, 53 f.
[63] ADS, § 252 HGB Rn. 65 ff.
[64] Näher Hennrichs, Wahlrechte, 72, 384, 416.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Merkt, Rechnungslegung nach HGB und IFRS (Schäffer-Poeschel). Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge