Tz. 23

Ob der Grundsatz der Wesentlichkeit auch Auswirkungen auf den Ansatz und damit auf das Vollständigkeitsgebot hat, wird selten problematisiert. Soweit die Frage angesprochen wird, ist sie auf die Aktivseite der Bilanz bezogen. Teilweise wird hier eine Relativierung des Vollständigkeitsgrundsatzes durch den der Wesentlichkeit generell abgelehnt.[29] Die Steuerrechtsprechung hat in erster Linie Bewertungsfragen im Lichte der Wesentlichkeit beurteilt,[30] ferner solche der Bildung von RAPs,[31] die im Konzept des Ansatzes nach HGB eine Sonderrolle einnehmen. Bezogen auf den Ansatz sieht sie die Wesentlichkeit einer Belastung teilweise als Voraussetzung für die Bildung einer Rückstellung für Nachbetreuungsverpflichtungen von Versicherungsverträgen an.[32] Einige Autoren erkennen aber ausdrücklich auch generell die Beschränkungsmöglichkeit des Wesentlichkeitsprinzips für Ansatzfragen an.[33] Unstreitig ist eine Durchbrechung des Vollständigkeitsgebotes lediglich hinsichtlich geringstwertiger Wirtschaftsgüter im Wert von unter 150 EUR (vgl. Tz. 58). Ob darüber hinaus auch die Vollständigkeit der Passivseite aufgrund des Wesentlichkeitsprinzips eingeschränkt werden kann, ist folglich weiter offen.

 

Tz. 24

Handelt es sich im Falle des Wesentlichkeitsprinzips tatsächlich um einen GoB im Sinne des § 243 HGB und nicht bloß um einen ungeschriebenen Bewertungsgrundsatz, könnte hiermit eine Ausnahme vom Vollständigkeitsgebot im Grundsatz auch für die Passivseite begründet werden. In diesem Sinne argumentiert jedenfalls die BilRUG-Gesetzesbegründung: Sie hält eine Kodifizierung des Wesentlichkeitsgrundsatzes für überflüssig, da er als GoB anerkannt sei.[34] Auch entspricht die Geltung eines Grundsatzes der Wesentlichkeit dem Willen des HGB-Gesetzgebers: Art. 6 Abs. 1 j) EU-Bilanzrichtlinie sieht vor, dass auch bzgl. des Ansatzes die Anforderungen der Richtlinie nicht eingehalten werden müssen, wenn die Wirkung ihrer Einhaltung unwesentlich ist. Zugleich erlaubt Art. 6 Abs. 4 EU-Bilanzrichtlinie den Mitgliedstaaten die Begrenzung dieser Vorgabe auf die Offenlegung, wovon der deutsche Gesetzgeber aber keinen Gebrauch gemacht hat und ausweislich der zitierten Begründung auch nicht machen wollte. Demnach ist zunächst davon auszugehen, dass der Grundsatz der Wesentlichkeit nach dem Willen des Gesetzgebers im HGB-Bilanzrecht gelten sollte. Zugleich ist festzuhalten, dass der Gesetzgeber einen GoB als Umsetzungsgesetz für ausreichend erachtet.

 

Tz. 25

Rechtstechnisch ist die Umsetzung der Richtlinienvorgabe durch einen GoB im Grundsatz nicht zu beanstanden. Art. 288 Abs. 3 AEUV gewährt den Mitgliedstaaten insofern Wahlfreiheit. Dabei ist jedoch dem Grundsatz der Rechtssicherheit und -klarheit Rechnung zu tragen. Ob aber hinreichend geklärt ist, dass es einen GoB der Wesentlichkeit gibt und welchen Inhalt er hat, insbes., ob er auch für Ansatzfragen gilt, ist dabei derzeit zweifelhaft. Im Zuge richtlinienkonformer Auslegung wird sich hier aber Abhilfe schaffen lassen: Unter Beachtung der EU-Bilanzrichtlinie wird sich ein GoB der Wesentlichkeit künftig dahingehend verstehen lassen müssen, dass auch die Bilanzierung dem Grunde nach und damit das Vollständigkeitsgebot einer Einschränkung zugänglich ist. Dies gilt für die Aktiv- wie für die Passivseite.

 

Tz. 26

Gleichzeitig ist auch der Grundsatz der Wesentlichkeit aber kein Prinzip, dass andere Bilanzierungsprinzipien verdrängt. Vielmehr sind die Prinzipien miteinander in Ausgleich zu bringen. So ist bereits heute anerkannt, dass der Grundsatz der Wesentlichkeit – als GoB oder als Ausfluss des true and fair view-Prinzips – primär andere Prinzipien begrenzen kann.[35] Dabei sind auch die Bilanzierungszwecke zu berücksichtigen. Im Hinblick auf das Vorsichts- und Realisationsprinzip sowie im Hinblick auf die Ausschüttungsbemessungsfunktion der Bilanz dürfen Schulden deshalb nicht unter Hinweis auf das Wesentlichkeitsprinzip weggelassen werden.[36] Bei der Bewertung der Schulden erlaubt der Grundsatz der Wesentlichkeit dann jedoch in engem Umfang Vereinfachungen, etwa eine nicht auf den Cent genaue Angabe.[37] Im Ergebnis setzt sich der GoB der Wesentlichkeit auf der Passivseite der Bilanz nicht gegen andere Grundsätze durch und rechtfertigt daher keine Ausnahme vom Vollständigkeitsgebot.

[29] Wendt, Wie wesentlich ist der Wesentlichkeitsgrundsatz für die Steuerbilanz?, in: Kessler/Förster/Watrin (Hrsg.), Unternehmensbesteuerung: Festschrift für Norbert Herzig zum 65. Geburtstag, München 2010, 517 (521).
[30] Krumm, in: Blümich, EStG, § 5 EStG Rn. 259.
[32] Näher Wendt, Wie wesentlich ist der Wesentlichkeitsgrundsatz für die Steuerbilanz?, in: Kessler/Förster/Watrin (Hrsg.), Unternehmensbesteuerung: Festschrift für Norbert Herzig zum 65. Geburtstag, München 2010, 517 (525).
[33] Krumm, in: Blümich, EStG, § 5 EStG Rn. 259.
[34] BilRUG Beschlussempfehlung BT-Drucks.18/5256, 80.
[35] Mekat, Der Grundsatz der Wesentlichkeit in Rechnungsleg...

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