aa) Verwirklichung der Verlässlichkeit durch Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes und Übereinstimmung mit den IFRS
Tz. 154
Der Zweck der IFRS, ein tatsächliches Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage für einen breiten Adressatenkreis zu zeichnen, wird in IASC F.15–.18 (1989) näher beschrieben und in IASC F.46 (1989) durch eine vage Vermutung im alten Rahmenkonzept bezeichnet. Sie besagt, dass im Regelfall die Anwendung der IFRS zur Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes führt.[412] Gespiegelt und konkretisiert wird diese Vermutung durch ein Gebot in IAS 1.15 Satz 1, "Abschlüsse haben die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage [. . .] den tatsächlichen Verhältnissen entsprechend darzustellen", und eine Fiktion in IAS 1.15 Satz 3, „Die Anwendung der IFRS führt annahmegemäß zu Abschlüssen, die ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild vermitteln. IAS 1.15 Satz 2 verweist zurück in das Rahmenkonzept durch die Anweisung an den Abschlussersteller, die dort formulierten Bilanzierungsgrundsätze zu befolgen.
IAS 1.17 konkretisiert das Gebot des IAS 1.15 nochmals durch zusätzliche Handlungsanweisungen, bezogen auf die Auswahl und Anwendung der Rechnungslegungsmethoden durch einen Verweis auf IAS 8, bezogen auf die Darstellung der Informationen, durch einen appelierenden Hinweis auf die Grundsätze der Relevanz, Verlässlichkeit, Vergleichbarkeit und Verständlichkeit und die Erlaubnis zusätzlicher Informationen, wenn diese erforderlich sind, um einzelne Geschäftsvorfälle sowie sonstige Ereignisse in ihrer Wirkung auf die Vermögens-, Finanz- und Ertragslage verständlich darzustellen.
Die IAS 1.19–.20 erlauben ein Abweichen von einzelnen Standards, in den "äußerst seltenen Fällen", in denen die Anwendung eines Standards irreführend wäre und die Abweichung erforderlich ist, um die im Rahmenkonzept formulierten Ziele der Rechnungslegung zu erreichen (overriding principle)[413]. Diese beiden Erfordernisse konkretisiert IAS 1.24 am Maßstab der Glaubwürdigkeit. Die Abweichung ist nach den Vorgaben des IAS 1.20 im Jahresabschluss und nach IAS 1.21 in den Jahresabschlüssen der Folgejahre offenzulegen. IAS 1.22–.23 regeln den Fall, dass eine Abweichung von den IFRS nach (staatlichen) gesetzlichen Vorschriften unzulässig ist.
bb) Sorgfalts-(Vorsichts-)prinzip (prudence principle)
Tz. 155
Das Prinzip der Vorsicht wird in IASC F.37 (1989) als Sorgfaltsmaßstab mit dem Pflichtprogramm der kaufmännischen Vernunft formuliert.[414] Mit dieser Formulierung traf das IASC auch das richtige Verständnis des Vorsichtsprinzips. Weder gebietet es, noch rechtfertigt es, Schätzungs- und Ermessensspielräume möglichst pessimistisch auszuüben. Es besagt allein, dass das Ermessen sorgfältig auszuüben und Schätzungen und Prognosen sorgfältig vorzunehmen sind. Vorsicht ist in zwei Richtungen anzuwenden, gegen eine zu positive und gegen eine zu negative Darstellung der Finanz-, Vermögens- und Ertragslage. Daraus folgt, dass gegen die Bilanzierungsstandards keine stillen Reserven gebildet, keine Rückstellungen überbewertet, keine Vermögensgegenstände oder Erträge bewusst zu niedrig angesetzt und Schulden nicht zu hoch angesetzt werden dürfen, weil der Abschluss dann nicht neutral wäre und das Kriterium der Verlässlichkeit nicht erfüllt würde. Deshalb ist das Vorsichtsprinzip im System der IFRS kein eigenes Fundamentalprinzip, das sich wie bei den GoB aus den Kapitalerhaltungsgrundsätzen folgern ließe, sondern nur eine Ausprägung des Einblicksgebots. Ein Konflikt mit den Standards kann sich nicht ergeben, weil das Vorsichtsprinzip nur deren sorgfältige Anwendung vorschreibt.[415] Im Text des Rahmenkonzepts 2010 ist das Vorsichtsprinzip ohne eine damit verbundene Änderung des inneren Systems der IFRS nicht mehr enthalten, weil die Mehrheit im IASB mit dem Vorsichtsprinzip die Vorstellung einer Tendenzberichterstattung verbunden hatte. Der Entwurf für eine Revision des Rahmenkonzepts vom Mai 2015 sieht aber bereits die Wiederaufnahme des Vorsichtsprinzips vor, verbunden mit der Klarstellung, das Vorsicht in einem informationsorientierten Jahresabschluss in zwei Richtungen anzuwenden ist.[416]
cc) Wirtschaftliche Betrachtungsweise (substance over form)
Tz. 156
Aus dem Gebot der glaubwürdigen Darstellung folgt im System des Rahmenkonzepts 1989 der Grundsatz der wirtschaftlichen Betrachtungsweise (substance over form). Als glaubwürdig beschreibt IASC F.35 (1989) nur eine bilanzielle Darstellung des wirtschaftlichen Gehalts nicht der rechtlichen Gestaltungen. Im Schrifttum wird auf das Beispiel des Wirtschaftlichen Eigentums und auf Leasinggestaltungen verwiesen.[417] Notwendig ist dieser Grundsatz freilic...
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