Tz. 111
Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Wesentlichkeit besagt, dass unwesentliche Einflussgrößen bei der Bilanzierung außer Betracht bleiben können, wenn der Einfluss auf das Ergebnis des Jahresabschlusses gering ist und diese für den Bilanzadressaten vernünftiger Weise (normative Wertung) ohne Belang sind.[268] Dabei handelt es sich zum einen um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zwischen Bilanzierungsaufwand und Bilanzierungszwecken. Zum anderen aber auch um ein Gebot der Bilanzklarheit, die nicht unter unwesentlichen Informationen leiden soll.[269] Der Stellenwert des Wesentlichkeitsgrundsatzes hängt damit von der Gewichtung der Bilanzzwecke ab. Für die Informationsfunktion kann er größere Bedeutung als für den Gläubigerschutz haben.[270] Exemplarisch findet der Grundsatz der Wesentlichkeit Ausdruck in Regelungsbeispielen und Generalklauseln vgl. §§ 252 Abs. 2, 256, 268 Abs. 4 Satz 2, Abs. 5 Satz 3, 284 Abs. 2 Nr. 4, 286 Abs. 3 Nr. 1 HGB.[271]
BEISPIELE
Ausnahmen vom Vollständigkeitsgebot für im handelsrechtlichen Sinne geringwertige Vermögensgegenstände, Inventurerleichterungen, Bewertungsvereinfachungen, Verbot der Bilanzierung schwebender Geschäfte
Obwohl die Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung seit jeher Durchbrechungen zahlreicher Grundsätze aus Vereinfachungsgründen zulassen und größenabhängige Bagatellgrenzen kennen, ist die Auseinandersetzung im deutschsprachigen Schrifttum geprägt durch den Rechtsvergleich und eine wahrgenommenen Herkunft aus dem Grundsatz der materiality der angloamerikanischen Rechnungslegung.[272] Im Steuerbilanzrecht verschwimmt der Wesentlichkeitsgrundsatz in der die Rechtsprechung des BFH[273] mit Fragestellungen der Periodenabgrenzung, die eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Strukturmerkmalen der Wesentlichkeit erschweren.[274] Sieht man die Wurzeln des Bilanzrechts im öffentlichen Recht lässt sich der Wesentlichkeitsgrundsatz als Anwendungsfall des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes verstehen und mit Art. 2 Abs. 1 GG verbinden. Im Privatrecht ergibt sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz als Konkretisierung der Rechenschaftspflicht des § 666 BGB. Die Jahresabschlussrichtlinie kennt ihn erst in der Fassung von 2013, wo er in Art. 6 Abs. 1 lit. j) neu eingefügt worden ist: "Die Anforderungen in dieser Richtlinie in Bezug auf Ansatz, Bewertung, Darstellung, Offenlegung und Konsolidierung müssen nicht erfüllt werden, wenn die Wirkung ihrer Einhaltung unwesentlich ist."
Der Gesetzgeber ist bei der Umsetzung der Jahresabschlussrichtlinie 2013 durch das BilMoG zutreffend davon ausgegangen, dass der Wesentlichkeitsgrundsatz richtlinienkonform bereits Bestandteil der GoB ist.[275] Das Mitgliedstaatenwahlrecht in Art. 6 Abs. 4 der Richtlinie, den Anwendungsbereich des Wesentlichkeitsgrundsatzes auf Darstellung und Offenlegung zu begrenzen, hat er folgerichtig nicht ausgeübt.
Der Wesentlichkeitsgrundsatz gilt für Ansatz, Bewertung und Ausweis auf der Aktiv- und der Passivseite, entfaltet auf der Passivseite aber nur in Ausnahmefällen eine ansatzbegrenzende Wirkung. Bei der Beurteilung der Wesentlichkeit darf nicht auf den einzelnen Geschäftsvorfall abgestellt werden.[276] Es muss das Gewicht der Summe aller gleichartigen Geschäftsvorfälle gebildet und die Frage gestellt werden, welche Auswirkung es auf die Verwirklichung der Bilanzierungszwecke hat, wenn diese Gruppe von Geschäftsvorfällen nicht zutreffend ausgewiesen würde und welcher Bilanzierungsaufwand mit ihrer zutreffenden Bilanzierung verbunden wäre. Räumt man dem Gläubigerschutz den Vorrang ein, bilden für diese Abwägung alle schuldbegründenden Geschäftsvorfälle eine Gruppe, deren Gesamtgewicht zu bewerten ist, weil zur Beurteilung der Vermögenslage des Kaufmanns neben den einzelnen Schuldposten die Summe der Schulden relevant ist, die auch durch eine große Zahl kleinster Geschäftsvorfälle wachsen kann. Für einzelne atypische Geschäftsvorfälle, die mit hohen Kosten zu identifizieren und zu bewerten und gleichzeitig von ganz untergeordneter Bedeutung für die Verwirklichung der Bilanzierungszwecke sind, konnte sich aber im Einzelfall auch vor BilRuG ergeben, dass sie nicht als Schuldposten auszuweisen sind.
Im Schrifttum ist der Versuch unternommen worden, die Anwendung des Wesentlichkeitsgrundsatzes durch quantitative Kriterien zu erfassen. Beschrieben wurden Auswirkungsgrenzen von 10 % des Jahresergebnisses oder Einzelgrenzen von 5 % der Bilanzsumme.[277] Einheitliche Wesentlichkeitsgrenzen lassen sich den GoB aber nicht entnehmen. Sie haben sich in der Praxis auch nicht unternehmensübergreifend als Verkehrserwartung herausgebildet.[278] Die Unterscheidung wesentlicher und unwesentlicher Geschäftsvorfälle und Bilanzposten ist daher nicht abstrakt-generell-quantitativ, sondern konkret-individuell-qualitativ unternehmensbezogen ausgehend von den Bilanzierungszwecken und bezogen auf die Verkehrserwartungen der konkreten Bilanzadress...
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