Tz. 155
Das Prinzip der Vorsicht wird in IASC F.37 (1989) als Sorgfaltsmaßstab mit dem Pflichtprogramm der kaufmännischen Vernunft formuliert.[414] Mit dieser Formulierung traf das IASC auch das richtige Verständnis des Vorsichtsprinzips. Weder gebietet es, noch rechtfertigt es, Schätzungs- und Ermessensspielräume möglichst pessimistisch auszuüben. Es besagt allein, dass das Ermessen sorgfältig auszuüben und Schätzungen und Prognosen sorgfältig vorzunehmen sind. Vorsicht ist in zwei Richtungen anzuwenden, gegen eine zu positive und gegen eine zu negative Darstellung der Finanz-, Vermögens- und Ertragslage. Daraus folgt, dass gegen die Bilanzierungsstandards keine stillen Reserven gebildet, keine Rückstellungen überbewertet, keine Vermögensgegenstände oder Erträge bewusst zu niedrig angesetzt und Schulden nicht zu hoch angesetzt werden dürfen, weil der Abschluss dann nicht neutral wäre und das Kriterium der Verlässlichkeit nicht erfüllt würde. Deshalb ist das Vorsichtsprinzip im System der IFRS kein eigenes Fundamentalprinzip, das sich wie bei den GoB aus den Kapitalerhaltungsgrundsätzen folgern ließe, sondern nur eine Ausprägung des Einblicksgebots. Ein Konflikt mit den Standards kann sich nicht ergeben, weil das Vorsichtsprinzip nur deren sorgfältige Anwendung vorschreibt.[415] Im Text des Rahmenkonzepts 2010 ist das Vorsichtsprinzip ohne eine damit verbundene Änderung des inneren Systems der IFRS nicht mehr enthalten, weil die Mehrheit im IASB mit dem Vorsichtsprinzip die Vorstellung einer Tendenzberichterstattung verbunden hatte. Der Entwurf für eine Revision des Rahmenkonzepts vom Mai 2015 sieht aber bereits die Wiederaufnahme des Vorsichtsprinzips vor, verbunden mit der Klarstellung, das Vorsicht in einem informationsorientierten Jahresabschluss in zwei Richtungen anzuwenden ist.[416]
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