aa) Begriff und Rechtsnatur der Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung

 

Tz. 94

Der Begriff der GoB bezieht sich in seiner historischen Prägung auf die kontinental-euro­pä­ischen Bilanzierungsbräuche, die sich im deutschen, italie­nischen und französischen Handels­bilanzrecht entwickelt haben.[212] Die §§ 243 Abs. 1, 264 Abs. 2 Satz 1 HGB adressieren die Grundsätze ordnungsmäßiger Bilan­zierung (materielle GoB, vgl. Kapitel 1) als Teilsystem der GoB. Der Gesetzgeber unter­schei­det nicht zwischen formellen GoB (GoB im engeren Sinne für die Buch­führung und die Inventur) und materiellen GoB (Grundsätze ordnungsmäßiger Bilan­zierung für die Eröffnungs­bilanz und den Jahresabschluss).[213] Bereits in § 38 Abs. 1 HGB 1897 bildet die "Buchführung" den ein­heit­lichen Oberbegriff für Buchhaltung, Inventur, Inventar, Bilanzierung und den handels­rechtlichen Jah­resabschluss.[214] Zutreffend versteht der Gesetz­geber damit die GoB als einheit­liches System in dem Buchführung und Bilanzierung funktionell verschränkt sind.[215] In diesem System bilden die materiellen Bilanzie­rungsgrundsätze eine selb­ständige Gruppe über­geord­neter GoB, deren Bilan­zie­rungs­grundsätze das Gesamtsystem der GoB prägen.

 

Tz. 95

Die Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung, auf die §§ 243 Abs. 1, 264 Abs. 2 HGB ver­wei­sen, be­zeich­nen das äußere System der materiellen Bilan­zie­rungs­vorschriften, die dem inneren Zielsystem einer ordnungsmäßigen Bilanzierung entsprechen.[216] Diese Grundsätze werden eben­so wie ihr inneres Zielsystem von den gesetz­lichen Bilan­zierungs­vorschriften in den §§ 243256a HGB geprägt und können in diesen Vor­schriften zutreffend wiedergegeben wor­den sein. Die GoB sind aber nicht mit diesen Vor­schrif­ten identisch und werden dort auch nicht ge­regelt.

Deshalb kann das HGB grundsätzlich auch GoB-widrige Bilan­zierungsvor­schrif­ten ent­halten, etwa dann, wenn einzelne Vorschriften übergeordnete Bilan­zie­rungs­grundsätze ohne rechtfer­ti­genden Grund nicht fol­gerichtig ausgestalten.[217] Gegen die übergeordneten Bilan­zierungsgrund­sätze verstoßen etwa Wahlrechte für den Ansatz oder die Bewertung, weil das innere Ziel­system der GoB eine un­gestaltbar objektive Information über die Vermögens-, Finanz- und Er­tragslage verlangt. Des­halb ist zum Beispiel das durch BilMoG gem. § 248 Abs. 2 HGB neu eingefügte Aktivie­rungswahlrecht für selbst geschaffene immaterielle Ver­mögens­gegenstände des Anlage­ver­mögens kein GoB.[218] Solche Vor­schriften gehen den GoB nach den allgemeinen Regeln der Normenkonkurrenz gleichwohl vor, weil sie eine ge­gen­über § 243 HGB speziellere Re­gelung enthalten.

Die GoB entwickeln sich auch, aber nicht ausschließlich beeinflusst von den ge­setz­lichen Bilan­zierungsvor­schrif­ten durch Ver­änderungen der Lebenswirklichkeit, der Verkehrs­erwartungen, äußerer Einflüsse aus anderen Rechtsgebieten und Rechtsordnungen, etwa aus dem Steuerrecht und den inter­nationalen Rechnungslegungsstandards und stellen insofern ein offenes System dar.[219] Jede Entwicklung setzt aber voraus, dass das System in sich konsistent bleibt. Neue GoB können sich daher nur dann bilden, wenn sie dem inneren Ziel­system entsprechen oder das innere Zielsystem mitverändert wird. Das kann etwa der Fall sein, wenn sich die Gewichtung zwischen der Informationsfunktion und der Ausschüttungs­begren­zungsfunktion des Jahres­abschlusses durch die äußeren Einflüsse wesentlich und nachhaltig verändert.[220]

 

Tz. 96

Die Vorschriften der §§ 243 Abs. 1 Satz 1 und 264 Abs. 2 Satz 1 HGB verweisen auf dieselben einheitlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung.[221] Es gibt keine rechtsform­spezifisch isoliert voneinander bestehende GoB.[222] Die GoB können als Gesamtsystem aber ergänzende branchen- oder rechtsform­spezifische Einzelregelungen ent­halten, die dann GoB sind, wenn sie das System der GoB folgerichtig ausgestalten. Branchen- und rechtsformbezo­gene GoB sind eine zweck­bezogene Teilmenge der allgemeinen GoB mit eingeschränktem Anwen­dungs­bereich.

[212] Drüen, in: KK-RechnR, § 238 HGB Rn. 19: "Die Grundform jeder GoB ist stets die ‚Natur der Sache’ und die sich daraus entwickelnde Verkehrsanschauung. Die folgenden Stadien von Handelsbräuchen über Gewohnheitsrecht bis hin zu kodifiziertem Recht können die GoB durchlaufen . . .".
[213] Leffson, GoB, 18; Schulze-Osterloh, in: HdJ, I/1 Rn. 14.
[214] Baetge/Zülch, in: HdJ, I/2 Rn. 1.
[215] Kleindiek, in: MüKo-BilR, § 243 HGB Rn. 2.
[216] Baetge/Zülch, in: HdJ, I/2 Rn. 3.
[217] Schulze-Osterloh, in: HdJ, I/1 Rn. 18.
[218] Schulze-Osterloh, in: HdJ, I/1 Rn. 18, mit weiteren Beispielen GoB-widriger Bilanzierungsvorschriften im geltenden Recht.
[219] Kleindiek, in: MüKo-BilR, § 243 HGB Rn. 3.
[220] Kritisch Schulze-Osterloh, in: HdJ, I/1 Rn. 16.
[221] Baetge/Zülch, in: HdJ, I/2 Rn. 7 f.
[222] Baetge/Zülch, in: HdJ, I/2 Rn. 3: "GoB sind rechtsformneutral".

bb) Ermittlung der Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung

 

Tz. 97

Die GoB bezeichnen in den §§ 243 und 264 HGB einen un­be­stimmten Rechtsbegriff,[223] dessen Inhalt mit den herkömmlichen Auslegungsmethoden ermittelt wer­den kann.[224] Sie sind damit Rechtsnormen u...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Merkt, Rechnungslegung nach HGB und IFRS (Schäffer-Poeschel). Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge