aa) Entwicklung der Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung bis zum HGB vom 10. Mai 1897

 

Tz. 75

Eine Verkehrserwartung an die inhaltliche Ausgestaltung des Jahresabschlusses des Kauf­manns und damit verbunden eine normative Geltung handelsrechtlicher GoB be­stand lange vor Inkraft­treten des HGB und seines Vorläufers des ADHGB. Als vielzitierter geistiger Urvater zahlreicher Grundelemente der geltenden handelsrechtlichen Buch­führungs- und Bilanzie­rungsvorschriften gilt Luca Pacioli.[138] Aber selbst Pacioli hat Buch­führungs- und Bilan­zie­rungs­regeln nicht neu entwickelt, sondern in seiner Abhand­lung über die Buch­haltung von 1494 die kauf­män­nische Sitte und damit die Verkehrser­wartun­gen an eine ord­nungs­mäßige Bilan­zierung zwi­schen den Kaufleuten in den ober­italieni­schen Stadtstaaten be­schrieben[139] (vgl. Kapitel 1). Die im mittel­alter­lichen Zunftsystem von der Verkehrserwartung der jeweiligen Best Practice der Buch­füh­rung und Bilanzierung ausgehende normative Kraft könnte bereits mit derjenigen heutiger Gesetzes­be­feh­le ver­gleich­bar gewesen sein. Ab 1518 begann die Do­ku­mentation der Grund­sätze ord­nungs­mäßiger Buch­führung und Bilanzierung auch im deutsch­sprachigen Raum.[140] Und bereits seit 1594 schwan­ken die jeweils geltenden Rechnungslegungs­grundsätze für den Jah­res­ab­schluss hinsichtlich Vor­sicht und Einblick und zwi­schen einem strengen Anschaffungs- und Herstellungs­höchstwert­prinzip und der zulässigen Höher­bewertung von Anlage- und Umlauf­vermögen mit dem ge­schätzten Ver­kehrs­wert.[141]

Die Ordonnance de Commerce von 1673 regelte neben wenigen Buchführungsgrundsätzen nur eine Pflicht, alle zwei Jahre ein auch die Schulden umfassendes Inventar aufzustellen.[142] Den Erläuterungen des Konstrukteurs der Ordonnance, Jaques Savary, zufolge handelte es sich bei diesem Inventar jedoch um eine nach kauf­männischen Grundsätzen aufzustellenden Bilanz mit der Funktion, einen Vermögens­über­blick zu gewährleisten und den Gewinn und Verlust festzu­stel­len.[143] Im Code de Commerce von 1807 kommt dieses Verständnis nur wenig deut­licher, nun aber verbun­den mit einer jährlichen Aufstellungspflicht zum Aus­druck.[144]

Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten von 1794 setzte sowohl in den Beweis- als auch in den Strafvorschriften ebenfalls außergesetzlich bestehende Grundsätze ordentlicher Buchführung und Bilan­zierung voraus[145] und formulierte im Abschnitt über die Handelsgesell­schaften einzelne Bilanzierungsgrundsätze.[146] Auch das Allgemeine Deutsche Handelsgesetz­buch von 1869 geht von außerhalb des Gesetzes bestehenden GoB aus. Art. 31 ADHGB 1869 schreibt für alle Vermögensgegenstände und Forderungen die Bewertung zu Zeitwerten vor und durchbrach damit aus heutiger Sicht das Anschaffungs- und Her­stel­lungs­kostenhöchstwert­prinzip[147], spie­gelte aber nach der Rechtsprechung des Reichsober­handels­gerichts nur die zu dieser Zeit allgemein geltenden Rechtsgrund­sätze der GoB.[148] Aus dieser Rechtsprechung erschließt sich auch ein Verständnis der GoB als qualifiziertem Handels­brauch, in dem teleologische Norminterpretation und tat­sächliche Übung seit jeher auf­einandertreffen.[149] Während § 40 HGB 1897 noch von diesen GoB ausging, spiegelte das Aktien­gesetz 1884 bereits einen sich andeutenden Wandel der GoB und bildete den Ausgangs­punkt für abweichende Bewertungs­grundsätze. Nach den Art. 185a, 185b und 239b AktG 1884 galten nunmehr die Anschaffungs- und Herstellungs­kosten als Bewer­tungs­obergrenze.[150] Diese Vorschriften sind schließlich in das HGB 1897 über­nommen wor­den,[151] waren aber in ihrer Gel­tung auf Aktiengesellschaften beschränkt. Erst in den 1920er Jahren begannen das Reali­sations­prinzip und das Anschaffungshöchstwertprinzip die GoB für alle Kaufleute zu prägen.[152]

Einen ausdrücklichen Verweis auf die GoB enthielt erst­mals § 38 HGB 1897 ("Jeder Kaufmann ist verpflichtet, Bücher zu führen und in diesen seine Handelsgeschäfte und die Lage seines Vermögens nach den Grundsätzen ordnungsmäßiger Buchführung ersichtlich zu machen"). Der Gesetz­geber verband mit dieser Generalklausel freilich nur eine klar­stellende Funktion. Nach den Motiven waren die GoB die "Gepflogenheiten sorgfältiger Kauf­leute"[153] also Handelsbräuche.[154] Damit war durch § 38 HGB 1897 nur formuliert, was zuvor bereits gegolten hatte.

[138] Pacioli, Summa de arithemtica, geometria, proportioni et proportionali, Venedig 1494, übersetzt von Penndorf, Abhandlung über die Buchhaltung 1494, Stuttgart 1933.
[139] Penndorf, Luca Pacioli, Abhandlung über die Buchhaltung 1494, 46 ff.
[140] Simon, Die Bilanzen der Aktiengesellschaften und der Kommanditgesellschaften auf Aktien, 4. Aufl., Berlin 1910, 32 f. mit Verweis auf Heinrich Schreiber (Henricus Grammateus), Ayn New Kunstlich Buech welches gar gewiss vnd behend lernet nach der gemainen Regel detre Grammateum oder Schreyber.
[141] Simon, Die Bilanzen der Aktiengesellschaften und der Kommanditgesellschaften auf Aktien, 4. Aufl., Berlin 1910, 33 f. mit Verweis auf Passchier Goessens von Brüssel, Buchhalten: fei...

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