aa) § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB

 

Tz. 27

Gem. § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB muss der Jahresabschluss der Kapitalgesellschaft ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Kapitalgesellschaft vermitteln. Diese Vorschrift ist neben § 243 HGB (§ 243 HGB) eine Generalvorschrift des Rechnungslegungsrechts.[42] Sie statuiert das aus dem angelsächsischen Recht stammende Vorbild des true and fair view im deutschen Recht.[43]

[42] Graf/Bisle, in: MüKo-BilR, § 264 HGB Rn. 29.
[43] Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden Hüttemann/Meyer, in: GroßKo-HGB, § 264 HGB Rn. 14 ff.

aa1) Das grundlegende Verständnis der Vorschrift

 

Tz. 28

Art. 4 Abs. 3, Abs. 4 der RL 34/2013/EU bzw. zuvor Art. 2 der 4. EG-Richtlinie verlangen[44], dass

  • der Jahresabschluss im Einklang mit der Richtlinie klar und übersichtlich aufgestellt wird sowie ein zutreffendes Bild von Vermögens-, Finanz- und Ertragslage vermittelt,
  • weitere Angaben enthält, soweit kein derartiges zutreffendes Bild vermittelt werden kann,
  • zur Not von der Richtlinie abweicht, wenn andernfalls kein derartiges zutreffendes Bild vermittelt werden kann.
 

Tz. 29

Der Gesetzgeber hat bewusst von einer derartigen Umsetzung der Richtlinie abgesehen, weil unter Rückgriff auf die Methoden der Gesetzesauslegung eine Ergebnisfindung immer im Einklang mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift stattfinden muss.[45] Eine richtlinienkonforme Auslegung gelingt unter Rückgriff auf § 252 Abs. 2 HGB (§ 252 HGB), wonach von den allgemeinen Bewertungsgrundsätzen des § 252 Abs. 1 HGB in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden darf. Ebenso kann von den Gliederungsgrundsätzen der Bilanz sowie Gewinn- bzw. Verlustrechnung abgewichen werden. § 265 Abs. 1 2. Halbsatz HGB statuiert dies für die Stetigkeit der Gliederung. Insbesondere ist noch § 265 Abs. 5 HGB zu beachten, der eine weitere Untergliederung der Posten erlaubt. Mit Blick auf den verpflichtenden Charakter der Richtlinie zur Vermittlung eines den tatsächlichen Verhältnissen entsprechenden Bildes zur Vermögens-, Finanz- und Ertragslage wird von einer unzureichenden Umsetzung in das deutsche Recht ausgegangen, weil § 252 Abs. 2 HGB mit "darf" dem Bilanzierenden ein Ermessen zuweist. In richtlinienkonformer Auslegung wird das Ermessen in Einzelfällen auf Null reduziert.[46] Bei Beachtung dieser Maßgaben ist der weitere Streit irrelevant, ob die Richtlinie zutreffend in das deutsche Recht transformiert worden ist.[47]

[44] Zum Stufenaufbau von Art. 2 der 4. EG-Richtlinie siehe ADS, § 264 HGB Rn. 36 ff.
[45] BT-Drucks. 10/310, 77.
[46] ADS, § 264 HGB Rn. 47; Graf/Bisle, in: MüKo-BilR, § 264 HGB Rn. 36.
[47] Dazu Graf/Bisle, in: MüKo-BilR, § 264 HGB Rn. 33 ff.; Hüttemann/Meyer, in: GroßKo-HGB, § 264 HGB Rn. 18 ff.; Lambert, Die Rolle des § 264 Abs. 2 HGB – true and fair view – im deutschen Bilanzrecht, Berlin 2005, 46 ff. (zusammenfassend 88 ff.).

aa2) Der Bezugspunkt des true and fair view

 

Tz. 30

Es ist umstritten, ob die Vorschrift lediglich eine Generalklausel für den Anhang darstellt (Abkoppelungsthese)[48] oder ob es sich bei § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB um eine Generalklausel für den gesamten Jahresabschluss handelt.[49] Die erste Auffassung verweist auf die Gesetzessystematik, wonach § 264 Abs. 1 HGB besagt, dass der Jahresabschluss bei Kapitalgesellschaften um einen Anhang zu erweitern sei, während im Anschluss § 264 Abs. 2 HGB das Gebot des true and fair view statuiere, welches folglich nur auf den Anhang bezogen sein könne, weil das Gesetz gerade nicht besagt, wie man zu diesem Ergebnis kommen müsse.[50] Zudem wird darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber nicht Wahlrechte einräumen könne, die durch eine Generalklausel wieder beseitigt werden. Außerdem sind Jahresabschlüsse immer Zwischenrechnungen, die auf (der Natur nach ungenauen) Schätzungen und Prognosen beruhen.[51] Letztlich darf die auf Vorsicht beruhende Gewinnermittlung nicht durch andere Maßstäbe wegen der Einbeziehung des true-and-fair-view-Gebots in die GuV und die Bilanz konterkariert werden.[52] Die Gegenauffassung argumentiert mit der Gleichrangigkeit von GuV, Bilanz und Anhang und lehnt die These ab, dass es dem Bilanzierenden überlassen sei, durch welches Element er dem true-and-fair-view-Gebot nachkommt.[53] Die Abkopplungsthese sei folglich nicht mit dem Gesetz zu vereinbaren.[54] Letztlich nähern sich beide Ansichten dahingehend, dass die Gegenauffassung eine Wechselbeziehung zwischen Generalnorm und Einzelvorschriften zwar annimmt, jedoch davon ausgeht, dass die Einzelvorschriften der Bilanzwahrheit weitestgehend entsprechen.[55] Daher soll § 264 Abs. 2 Satz 1 HGB bei der Regelung besonders gelagerter Fälle herangezogen werden.[56]

 

Tz. 31

Der letztgenannten Sichtweise ist zuzustimmen. § 264 Abs. 2 HGB ist eine Generalklausel, die für alle Elemente des Jahresabschlusses gilt. Zieht man das Prinzip der Bilanzwahrheit zur Auslegung atypischer bzw. gesetzlich nicht geregelter Fälle heran, ergeben sich zutreffende Lösungen, ohne dass Wertungen der Einzelvorschriften untergraben werden müssen. So bleibt es dabei, dass ein Spezialgegenstand zu Anschaffungskosten zu bewert...

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